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15. September 2013. Kommentare: Weltweit - Politik & Recht Indien und Deutschland vor den Wahlen

Eine Zwischenbilanz

Endspurt im deutschen Bundestagswahlkampf: Abertausende von Riesenplakatwänden, Hunderttausende von Plakaten und Millionen Flyer sollen Stimmung machen und noch schwankende Wähler auf die jeweilige Seite herüberziehen. Wieweit dieser Mitteleinsatz wirklich zur Mobilisierung der Wähler beiträgt, ist selbst in der Forschung umstritten. Doch trotz fortschreitender Digitalisierung setzen die Wahlkämpfer nach wie vor auf das gute alte bedruckte Papier – ganz wie in Südasien. Wer schon einmal in Wahlkampfzeiten in einem südasiatischen Land war, dem kommt die Allgegenwart der politischen Plakate in Deutschland allerdings noch vergleichsweise harmlos vor. - Im laufenden Jahr wurden in Südasien in Pakistan und in Bhutan nationale Parlamente neu gewählt, im November soll Nepal folgen. Spätestens im Mai 2014 steht dann in Indien der nächste große Urnengang an – der größte Urnengang der demokratischen Welt überhaupt und eine logistische Mega-Herausforderung der Extraklasse. Manche Beobachter rechnen aber angesichts der Wirtschaftskrise in Indien und ganz Südasien mit vorgezogenen Wahlen. Trotz Krise blüht die Demokratie in Südasien.

Im Bundestagswahlkampf geht es diesmal, was die Sachthemen betrifft, wenig dramatisch zu. Weder die Euro-Krise noch die Ausspähung der Bürger durch Geheimdienste lassen sich in parteipolitisch polarisierende Debatten einsetzen. Es dominiert der Blick auf die heimische Problemwelt, selbst Umweltthemen ziehen nicht, da alle Parteien die Rhetorik der Ökologie in ihre Programme eingebunden haben. Außenpolitik ist kaum noch Wahlkampfthema, ebenso wenig die Außenwirtschaftspolitik, die zunehmend die Entwicklungspolitik dominiert - als Rohstoffsicherungspolitik wie auch als Außenwirtschaftsförderung.

Selbst das SPD-Regierungsprogramm 2013-2017 spricht von den "Herausforderungen der Ressourcensicherheit" (S.114) - nicht mehr nachhaltige Ressourcennutzung, sondern "Ressourcensicherheit" ist das neue Zauberwort, das klassische Ziele der Entwicklungspolitik wie Armutsbekämpfung, Förderung der Menschenrechte, Nachhaltigkeit und Frieden auf der Prioritätenliste der Politikziele zu überholen droht. Dazu passt, dass der Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) Jürgen Beerfeltz (FDP) offen für die "bessere Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung" wirbt. Flotter könnten es selbst die Wirtschafts-Lobbyisten kaum herüberbringen. Seit 2010 steht im BMZ eine Servicestelle für deutsche Unternehmen zur Verfügung, das Programm "develoPPP.de" dient der Förderung von privatwirtschaftlichen Entwicklungspartnerschaften. Mit dazu gehört die von Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) eine Weile offensiv verfochtene zivil-militärische Zusammenarbeit, etwa in Afghanistan. Eine Weile wollte er sogar die Kooperation mit der Bundeswehr zum Bekenntnisthema machen - bis ihm klar gemacht wurde, dass Kooperationszwang mit ausländischen Militärkräften die ohnehin heikle Position der Entwicklungspartner vor Ort und die Geber zusätzlich gefährdet.

Im Prinzip hat aber nur Die Linke grundsätzliche Bedenken gegen "Public Private Partnership" in der Entwicklungszusammenarbeit. Zusammen mit den Grünen und im Prinzip auch der SPD vertritt sie außerdem offensiv den Einsatz der Finanztransaktionssteuer für globale Entwicklungsziele - das große Ziel der 2008 gegründeten Kampagne "Steuern gegen Armut", die praktisch von allem unterstützt wird, was in der Entwicklungspolitik Rang und Namen hat, inklusive SPD und der schwächelnden Christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) in der CDU, nicht aber die Regierungsparteien CDU/CSU selbst. Zum Streit kommt es im Wahlkampf allerdings bei einem Thema mit eher symbolischem Gehalt, nämlich bei dem altgedienten Ziel der Einsetzung von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens in die Entwicklungszusammenarbeit. Bundesentwicklungsminister Niebel gibt sich als mutiger Tabubrecher und stellt es im Wahlkampf offen in Frage. Es scheint ihn dabei wenig zu kümmern, dass es sich hier seit 1970 um eine verbindliche Selbstverpflichtung der Industriestaaten in den Vereinten Nationen handelt, die die EU-Länder offiziell bis 2015 einlösen wollen.

SPD und auch die CDU halten in ihren Wahlprogrammen selbstverständlich an der Zielvorgabe 0,7 Prozent fest - mit guten Gründen, denn wer verantwortlich Politik macht, weiß, dass man verpflichtende Zusagen nicht ohne politischen Schaden aussetzt. Immerhin waren 2012 fünf EU-Länder bereits so weit, darunter an der Spitze Schweden, das 1,02 Prozent des Bruttonationaleinkommens für globale und nachhaltige Entwicklungsziele investiert (Deutschland: 0,40 Prozent, Platz 12 in der EU). Nicht die Selbstverpflichtung, sondern ihre verantwortungslose Nichteinlösung über Jahrzehnte ist das Problem. Für die Rettung von Großbanken stehen dagegen aus dem Nichts ungeheure Mittel zur Verfügung.

Spektakuläre Veränderungen?

Die Veränderungen, die sich hier im politischen Diskurs vollzogen haben und vollziehen, laufen anders als zu Beginn der auslaufenden 17. Legislaturperiode eher unspektakulär ab. Entwicklungsminister Niebel zögerte zu Beginn seiner Amtszeit nicht, den großen Umschwung zu markieren und sich von seiner prominenten Vorgängerin im Amt, Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) abzusetzen.

Der Zusammenschluss der drei großen staatlichen Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit GTZ, DED und InWEnt zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) - ein in vielen Ländern belächeltes Kürzel - war zwar seit langem diskutiert und vorüberlegt. Dirk Niebel hat ihn als Minister durchgesetzt. Seit 2011 firmieren die drei Agenturen unter einem gemeinsamen Label. Die GIZ ist nun eine Mammutinstitution mit 17.000 Mitarbeitern weltweit und einem Budget von mehr als zwei Milliarden Euro.

Von einer "höheren Spielklasse" Deutschlands in der Entwicklungspolitik sprach Niebel im Bundestag, von "Fusionsrendite" (angeblich 800 eingesparte Planstellen) und vom Vorteil eines einheitlichen Ansprechpartners für die deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit. Gegner warnen vor einem monströsen Staatsmonopolisten, der gleich noch die Zahl der vor Ort eingesetzten Entwicklungsfachkräfte drastisch reduziert hat. Inzwischen mehren sich die Klagen, dass die personalintensiven und zahlreichen kleinen Projekte, wie sie früher für InWEnt und DED typisch waren, mehr und mehr zugunsten von Großprojekten zurückgedrängt werden. Der hochqualifizierte und gut bezahlte deutsche Experte, der ein auf Regierungsebene bilateral ausgehandeltes Großprojekt "managt", wird wie in den Anfangszeiten der Entwicklungszusammenarbeit wieder zum Standardmodell des Entwicklungshelfers. Gleichzeitig verlagert sich die Entwicklungszusammenarbeit von der Armutsbekämpfung hin zur Technologieförderung und vom Land auf die Stadt.

Gegenüber der GIZ wie auch im wohl mächtigsten staatlichen Steuerungsinstrument für Entwicklungshilfe, im Verwaltungsrat des Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) stand Niebel aber auch offensiv zur Koppelung von Außenhandelsförderung, Rohstoffsicherungspolitik und Entwicklungspolitik - in Kooperation mit den privaten Kreditgebern, die den KfW-Etat zu zwei Dritteln finanzieren (2012: 4,9 Milliarden Euro für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit). Die vor Antritt seines Ministeramts von Niebel blauäugig geäußerte Ideen einer Auflösung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und der Eingliederung seiner Abteilungen ins Auswärtige Amt (AA) kamen dagegen vom Tisch und werden wohl auch von der neuen Bundesregierung nicht wieder aufgegriffen, auch wenn ein neues Gesicht anstelle des eher blass agierenden Guido Westerwelle (FDP) an die Spitze des AA kommen mag.

Die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Schwellenland Indien, von Niebel in den ersten Tagen seiner Amtsführung angesichts der Wahrnehmung Indiens als asiatischer Supermacht offensiv in Frage gestellt, scheint mittlerweile wieder gesichert. So dramatisch, wie es am Anfang der Legislaturperiode schien, ist es am Ende dann doch nicht geworden. Armutsbekämpfung und Menschenrechtsförderung, Gender-Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Bildung und soziale Gerechtigkeit sind als Ziele der Entwicklungszusammenarbeit nicht ganz verschwunden - ebenso wenig wie die viel beschworenen Milleniumsziele, insbesondere die Halbierung der weltweiten Armut bis 2015. Nach dem Gepolter zu Beginn der Legislaturperiode fährt das BMZ wieder einen eher ruhigen Kurs.

EU-Indien

Die deutsche Außenpolitik der letzten vier Jahre war mehr denn je EU-Politik - im doppelten Sinne: Zum einen, weil die Krise des Euro viele Kräfte multilateral innerhalb der EU in Bann hielt, zum anderen aber auch aufgrund der zunehmenden Absprachen im Sinne der viel beschworenen, aber langsam heranwachsenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Die Europäische Union als Ganze ist noch vor den Vereinigten Arabischen Emiraten, China und den USA größter Handelspartner Indiens. Die seit 2000 jährlich stattfindenden EU-Indien-Gipfeltreffen widmen sich einem immer breiteren Themenkatalog, wozu seit einiger Zeit auch die Sicherheitspolitik gehört, bei der Indien gerne auf seine Souveränität pocht. Doch das seit 2007 verhandelte und von Nichtregierungsorganisationen heftig kritisierte EU-Indien-Freihandelsabkommen ist (zum Glück) immer noch nicht unter Dach und Fach. Darüber hinaus ist oft nicht ganz klar, was über die blumigen Worte hinaus bei diesen Gipfeltreffen so genau herauskommt. Immerhin ist Indien mit 561 Austauschplätzen für Wissenschaftler im Aktionsplan 2 des Erasmus-Mundus-Programms der weltweit wichtigste Partner geworden. Zusammenarbeit bei Forschung und Lehre ist immer willkommen, da sie politisch unverfänglich ist.

Indien ist G-20-Land, international akzeptierte Atommacht und wird weiterhin als die zweite asiatische Superpower und als Gegengewicht zu China von den großen politischen Exportstaaten und internationalen politischen Akteuren hofiert. Doch China ist aus Sicht dieser Akteure - und dazu gehört wohl auch die Bundesregierung - eindeutig wichtiger als das immer noch vergleichsweise geringer entwickelte Indien. Dies trotz aller Versuche, die Vorzüge Indiens gegenüber China hervorzuheben, insbesondere seine Demokratie und nicht zuletzt auch - wie die deutsch-indische Handelskammer betont - seine im Vergleich zu China höhere Rechtssicherheit. Ein wichtiger Gradmesser sind dabei die ausländischen Direktinvestitionen: In Indien 2012 weniger als 20 Milliarden US-Dollar, in China über 250 Milliarden (OECD-Angaben).

Erfolgsbilanz

Größte Öffentlichkeitswirkung hatten die beiden Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen, die in Anwesenheit von Bundeskanzlerin Merkel 2011 in Delhi und im April 2013 in Berlin stattgefunden haben. Selbst der Vorsitzende der Deutsch-indischen Parlamentariergruppe Josef Winkler, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Bundestag, betont auch als Oppositionspolitiker gerne und diplomatisch korrekt, die deutsch-indischen Beziehungen seien "hervorragend".

Das "Deutschlandjahr" in Indien, die wissenschaftliche Kooperation über bilaterale und multilaterale Kanäle und der kulturelle Austausch werden weitergehen. Von einer "Deutsch-indischen strategischen Partnerschaft in der Hochschulbildung" spricht hochtrabend die Erklärung der Regierungskonsultationen im April, das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) in Neu-Delhi ist zum passablen Vorzeigeprojekt der Wissenschaftskooperation geworden. "Nachhaltigkeit", "energiepolitischer Dialog", "Bekämpfung des Klimawandels" wurden wichtige Themen gemeinsamer Erklärungen und auch zahlreicher wohlgemeinter Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Sogar von gemeinsamen Anliegen bei der Afghanistanpolitik ("Heart of Asia") und der Beschränkung der Nukleartechnologie ist in der Erklärung die Rede. Dies alles ist gut und schön, zeigt aber auch die geringe politische Risikobereitschaft in der Kooperation.

Mulmige Gefühle

Die fortgesetzte wirtschaftliche Liberalisierung gilt immer noch als Indiens Königsweg in eine strahlende wirtschaftliche Zukunft. Doch während die Mittel- und Oberklasse in absoluten und relativen Zahlen weiterhin wächst, geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Auf diesen Skandal legt etwa Nobelpreisträger Amartya Sen in seinem neuesten Buch ("An uncertain glory") radikal den Finger. Mit der fulminanten Erklärung von IKEA, in Indien eine riesige Warenhauskette aufbauen zu wollen, schien zwar der wohl bedeutendste Liberalisierungsschritt Indiens in der gegenwärtigen Legislaturperiode, nämlich die innenpolitisch umstrittene komplette Öffnung des Einzelhandels für ausländische Direktinvestitionen, gleich eine Art Erfolgsrendite vorweisen zu können. Der reichste Mann Indiens, Reliance-Chef [1] Mukhesh Ambani, verkündete noch auf der diesjährigen Reliance-Hauptversammlung im Juni, er glaube unerschütterlich an Indien - womit er in erster Linie das wirtschaftliche Wachstum, in zweiter Linie aber auch Indiens internationales politisches Gewicht meinte.

Den internationalen Partnern ist allerdings nicht entgangen, dass der indische Wachstumsmotor ins Stocken gekommen ist. Das jährliche Wachstum des indischen Bruttoinlandsprodukts ist auf unter fünf Prozent gesunken, das Leistungsbilanzdefizit im Auslandshandel wächst. Zudem ist der Wechselkurs der Rupie gegenüber dem Dollar im August auf ein Allzeittief von über 65 Rupien für einen US-Dollar gesunken. Seit dem 1. Mai hat die Rupie um 24 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar verloren, was allein Mukhesh Ambani auf einen Schlag um 5,6 Milliarden Dollar ärmer ausweist. Das macht zwar indische Waren im Ausland billiger, doch die Verteuerung der Importe vor allem von Erdöl und anderen Rohstoffen heizt die Inflation an.

Die etwas vergreist wirkende Regierung Manmohan Singh wirkt angesichts der Wirtschaftskrise hilflos. In Pakistan im vergangenen Mai und in Bhutan im Juli haben die Wähler die jeweiligen Regierungsparteien bei nationalen Wahlen abgestraft. Als nächstes in Südasien folgen - wenn alles gut geht - im November die Wahlen in Nepal. Doch die eigentliche große Richtungswahl in der Region spielt sich spätestens im Mai 2014 in Indien ab. Gut möglich, dass das Volk bei den Wahlen zur 16. Lok Sabha die regierende Kongresspartei abstraft und womöglich noch einmal eine von der Hindu-nationalistisch orientierten Bharatiya Janta Party (BJP) geführte Koalitionsregierung in den Sattel hievt. Die BJP wurde zwar ihrerseits im vergangenen Mai bei den Regionalwahlen im südindischen Karnataka abgestraft und in die Opposition verbannt, doch das könnte auf der nationalen Ebene unter umgekehrten Vorzeichen weiterhin auch der regierenden Koalition unter Führung der Kongresspartei passieren.

Solche Aussichten hinterlassen bei allen ausländischen Partnern ein mulmiges Gefühl, insbesondere nachdem ein BJP-Parteikonklave in Goa den moralisch-politisch dubiosen Ministerpräsidenten von Gudscharat, Narendra Modi, zu ihrem Spitzenkandidaten im Wahlkampf erkoren hat. Die Meinungen sind geteilt: Während der BJP-geführten Koalitionsregierung unter Atul Bihari Vajpayee 1998-2004 sind schließlich die großen Brüche ausgeblieben, sagen die einen. Die anderen sehen den großen Rechtsruck kommen und die Minderheiten zunehmend unter Druck.

Das Szenario erinnert an die Situation vor 15 Jahren: Eine abgetakelt wirkende Kongresspartei steht einer sich weltmännisch gebenden, moderat Hindu-nationalistischen und sehr selbstbewussten BJP gegenüber. Die teilweise opportunistischen Regionalparteien, die Kommunisten und die "Dalit-Partei" BSP spielen im Kampf um die Macht eine untergeordnete Rolle. In jedem Fall geht es bei den indischen Unionswahlen um mehr als bei den Bundestagswahlen.

 

Fußnote

[1] Reliance: Eines der großen privatwirtschaftlichen Industrie-Konglomerate in Indien.

 

Quelle: Dieser Artikel erschien im Orginal am 6. September 2013 unter dem Titel "Indien und Deutschland" in der vom Südasienbüro Bonn e.V. herausgegeben Zeitschrift SÜDASIEN Nr. 3/2013.

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