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04. Oktober 2010. Interviews: Pakistan - Politik & Recht Pakistans kontroverses Blasphemie-Gesetz

Interview mit Sayyed Hamid Saeed Kazmi, Minister für Religiöse Angelegenheiten und Hajj

Sayyed Hamid Saeed Kazmi ist Mitglied der Pakistan People's Party (PPP), welcher er nach Jahren in der Führung der Barelwi-Partei Jam‘iyyat ‘Ulama’-i-Pakistan (JUP) beitrat. Er ist der Sohn des populären Sufi-Gelehrten Sayyed Ahmad Saeed Kazmi aus Multan, der die Unabhängigkeitsbewegung und die Muslimliga Mohammed Ali Jinnahs unterstützte und zu den Mitbegründern der JUP zählte.

Das Interview fand im Amtssitz Hamid Kazmis in Islamabad wenige Tage vor dem Anschlag der pakistanischen Taliban-Bewegung (TTP) auf die Fahrzeugkolonne des Ministers am 2. September 2009 statt, welchen der Minister verletzt überlebte - der Fahrer des Wagens und ein Sicherheitsbeamter kamen bei dem Attentat ums Leben. Allgemein haben sich die gezielten Tötungen von Taliban-Kritikern und ranghohen Gelehrten verschiedener religiöser Gruppen intensiviert. Besonders der Tod Mawlana Dr. Sarfaraz Naeemis, der am 12. Juni 2009 in seiner Madrassa in Lahore bei einem Selbstmordanschlag der TTP ums Leben kam, löste Proteste tausender Anhänger in Pakistan und Indien aus, die von Vergeltungsschlägen der pakistanischen Luftwaffe gegen Taliban-Stellungen begleitet wurden.

Der "Gotteslästerungs"-Paragraph spiegelt ein grundsätzliches Spannungsgefüge innerhalb der Strafgesetzgebung Pakistans wider, in der, ab 1979 beschleunigt durch den Islamisierungs-Eifer des Militärdiktators General Zia ul-Haq, Elemente des islamischen Shariats-Rechts sukzessive Eingang in britisch-koloniales Strafrecht fanden. Dieses, 1860 von einer Kommission unter Federführung des Literaten und Politikers Lord Macaulay fertiggestellt, bildete, fast ohne Abänderung, das Strafgesetz des 1947 gegründeten Staates Pakistan. Der Prämisse, das keine Gesetzesbestimmung den Geboten des Islam zuwiderlaufen darf, verschaffen der staatliche Think Tank Council of Islamic Ideology (CII) und der Federal Shariat Court (FSC) Geltung.

Trotz breiterer Anwendung wird speziell Artikel 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches gemeinhin als Blasphemie-Gesetz bezeichnet:
"Whoever by words, either spoken or written, or by visible representation or by any imputation, innuendo, or insinuation, directly or indirectly, defiles the sacred name of the Holy Prophet Muhammad (peace be upon him) shall be punished with death, or imprisonment for life, and shall also be liable to fine. (Pakistan Penal Code, Act XLV, 1860: Art. 295c)."

Artikel 295a-b beziehen sich dezidiert auf Koran-Schändungen und Verletzungen religiöser Gefühle für die das Strafmaß mehrjährige Haftstrafen bis hin zur lebenslangen Haft vorsieht. Besonders aber Artikel 295c wird aufgrund des harten Strafmaßes im Falle von Prophetenbeleidigung trotz durch die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit (National Assembly of Pakistan, 2010: Präambel) von Menschenrechtsgruppen als institutionalisiertes Instrument zur Diskriminierung vor allem religiöser Minderheiten im Land kritisiert. 1984 verabschiedet von der Nationalversammlung auf Antrag des damaligen Staatspräsidenten General Zia ul-Haq stellte dieser Artikel eine wichtige Stufe im Projekt der Islamisierung von Staat und Gesellschaft dar, welche Zias Militärdiktatur (1977-1988) maßgeblich prägte. Jedoch auch nach Ende der Ära Zias zeichnete sich 1990 mit der Entscheidung des religiösen FSC, wonach das angemessene Strafmaß für Blasphemie "nichts anderes als der Tod" sein könne, eine drastische Verschärfung ab. Ein 1991 eingereichter Berufungsantrag der Bischöfe und Menschenrechtsaktivisten Dani Tasleem und John Joseph gegen die Entscheidung des FSC wurde mit 18 Jahren Verspätung 2009 vom zivilen Obersten Gerichtshof des Landes abgelehnt, da die beiden Kläger zu dieser Zeit bereits verstorben waren. Besonders der Selbstmord Bischof Josephs, des Hauptinitiatoren einer Kampagne für die Abschaffung des Blasphemie-Gesetzes, hatte die Regierung Benazir Bhuttos 1998 einem erheblichen internationalen Druck ausgesetzt, dem sie durch zwei Erweiterungen von Artikel 295 gegen Missbrauchsfälle zu begegnen suchte. Ein weiterer Versuch einer Entschärfung der Blasphemie-Gesetzgebung des 1999 an die Macht geputschten Generals Pervez Musharraf markierte die erste ernstzunehmende politische Konfrontation des neuen Regimes mit den religiösen Parteien des Landes. Als Reaktion auf eine Gesetzesnovelle im April 2000 mobilisierten die religiösen Parteien, welche sich später unter dem Banner der Allianz Muttahida Majlis-i-Amal (MMA) vereinen sollten, in den Folgewochen massive Proteste in den Straßen Karachis und anderer Städte. Unter dem Druck dieser Proteste, dem Missfallen islamistischer Kreise im Offizierskorps und der politischen Opposition aus den Reihen der Pakistan Muslim League (PML), vor allem des konservativen Punjab-Flügels, zog die Regierung Musharraf die Gesetzesnovelle umgehend zurück.

Regelmäßig werden Missbrauchsfälle im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Blasphemie zum Verhängnis für Muslime und religiöse Minderheiten im Lande. Besonders betroffen waren in den letzten Jahren Christen und Ahmadis. Letztere, auch Qadianis oder Lahori-Gruppe genannt und 1974 per Dekret von Premierminister Zulfikar Ali Bhutto zu "Nicht-Muslimen" erklärt, können zudem durch einen gesonderten Passus im Strafgesetzbuch unter dem "Qadiani-Act" (Art. 298b-c) belangt werden. Die Zahl der Übergriffe – von Schikane über Entführung bis hin zur Ermordung – auf Angehörige von Minderheiten hat sich 2009/2010 drastisch erhöht. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Vorfälle im Juli und August 2009 als christliche Dörfer im Distrikt Toba Tek Singh, Punjab, von einem über tausendköpfigen Mob verwüstet und Bewohner bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Das Gerücht, bei christlichen Hochzeitsfeierlichkeiten seien Seiten des Koran geschändet worden, war über mehrere Tage hinweg durch lokale Geistliche und schließlich über Moschee-Lautsprecher öffentlichkeitswirksam verbreitet worden. Die folgenden Ausschreitungen fanden unter den Augen der örtlichen Polizeikräfte statt und wurden von Aktivisten der verbotenen Extremisten-Gruppe Sipah-i Sahaba (SSP) angeführt. Den Ereignissen von Korian und Gojra und später ähnlichen Fällen in Shantinagar und Sumbrial folgte eine bis dahin beispiellose öffentliche Kritik am Blasphemie-Artikel und eine landesweite Welle der Empörung. Die internationale Wahrnehmung und Berichterstattung stellt sich inzwischen jedoch oft verzerrt dar, da in den meisten registrierten Anklagefällen überwiegend sunnitische Muslime der Blasphemie bezichtigt werden. Hintergrund hierbei sind oftmals weniger religiöse Empfindsamkeiten, als vielmehr die besonders im Zentral-Punjab und Teilen des Sindh schwelenden Konflikte zwischen Landlords, rivalisierenden para-staatlichen Gruppen und Nachbarschaftsstreitigkeiten, bei denen Konkurrenten zunehmend durch Heranziehung des Blasphemie-Vorwurfs denunziert werden. Obwohl die Todesstrafe bislang an keinem der Inhaftierten vollzogen wurde, dauerte es in vergangenen Fällen Jahre bis die Anklage dem Gericht vorgetragen wurde. Zudem kommen die Äußerung des Verdachtes und die Anklage oft einer Vorverurteilung gleich, wie die tendenziell steigende Zahl der Fälle von Lynchjustiz bestätigen, sodass den irrtümlich Angeklagten oft nur die Flucht aus dem Land bleibt.

Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen auf Gruppen oder Individuen, die unter Verdacht stehen, den Koran oder den Namen des Propheten geschändet zu haben. Vorbei an den gesetzlichen Regelungen für den Umgang mit Blasphemie kam es in Gojra zu Todesfällen. Haben hier Gesetz und Exekutive beim gebotenen Schutz einer Minderheit versagt?

Ich persönlich denke, dass das Blasphemie-Gesetz primär eine Sicherheitsfunktion erfüllt. Bei den Übergriffen, von denen Sie sprechen, wurden Menschen brutal und in einer barbarischen und unmenschlichen Weise behandelt. Bei diesen Vorfällen reagieren die Menschen hauptsächlich so, da sie denken, die Regierung wird keine Anklage erheben und dem Fall nachgehen und dass allgemein das Gesetz hier nicht praktikabel ist. Sie wollen es selbst entscheiden. Deshalb spreche ich regelmäßig mit den Vertretern der Minderheiten und mit den Gelehrten und versuche klar zu stellen, dass man den Leuten erklären muss, dass wir dieses Gesetz haben. Wenn es einen Fall von Gotteslästerung gibt, werden die Angeklagten gemäß der vorherrschenden Regeln und Gesetze behandelt. Ihr sollt das Gesetz aber nicht selbst in die Hand nehmen.

Wird aber nicht allein durch die rechtliche Existenz des Blasphemie-Tatbestandes Gewalt erst geschürt? Welche realistischen Möglichkeiten sehen Sie, Artikel 295 zu ändern, wie es Premierminister Gilani nach Gojra angekündigt hat?

Wenn wir dieses Gesetz einfach abschaffen, haben wir keine rechtliche Orientierung mehr und wären nicht mehr in der Lage, die Menschen zu kontrollieren. Deren Rechtfertigung wäre dann, es gibt kein Gesetz und diese Verbrechen können straffrei begangen werden ohne Rücksicht auf unsere Religion und unsere Gefühle. Also bestrafen wir die Täter nach unserem eigenen Ermessen. Dieses Gesetz dient als Puffer und Sicherheitsgürtel, wenn Sie so wollen. Natürlich kann es passieren, dass eine kommende Regierung dieses Gesetz unter fremdem oder ausländischem Druck abschafft. Dennoch müssen wir jetzt umso mehr den Menschen dieses Gesetz nahebringen und erklären. Dann wird es auch nicht mehr zu Situationen kommen, in denen wilde Terroristen und Extremisten die Massen verführen und aufhetzen.

Aber wenn es wieder zu einem ähnlichen Übergriff kommt und die Ermittlungen ergeben, dass die Anschuldigungen falsch waren. Wenn das Gesetz, wie schon oft geschehen, in persönlichen oder politischen Streitfällen missbraucht wird...

Gibt es ein einziges Beispiel dafür, dass jemand auf der Grundlage dieses Gesetzes bestraft oder verurteilt wurde?

Viele Angeklagte sitzen über Jahre in Haft bevor es überhaupt zu einer offiziellen Untersuchung kommt. Selbst wenn sich die Anschuldigungen als haltlos erwiesen, kam es zu Fällen von Lynchgewalt.

Aber dann ist die Haft nicht die Bestrafung durch dieses Gesetz. Sie können nicht sagen, all das geschieht allein aufgrund dieses Gesetzes. Wenn es ein Blasphemie-Gesetz gibt, sollte ein Angeklagter logischerweise nach diesem Gesetz bestraft werden. Und wenn es ein solches Gesetz nicht gäbe, würden die Leute auf ihre Weise für Bestrafung sorgen. Nachdem diese Menschen in Gojra lebendig verbrannt wurden, hat jeder diese Kriminellen, die das Feuer gelegt hatten, verurteilt, richtig? Aber angenommen, es hätte kein Gesetz gegeben, würde jeder diese Leute unterstützen. Sie haben das getan, da es keine gesetzliche Grundlage gibt, auf der die Angeklagten bestraft werden können. Das ist das vorherrschende Denken hier in Pakistan, ich bin mir sicher, Sie haben Ihre eigenen Erfahrungen damit gemacht.

Das weitverbreitete Selbstverständnis Pakistans als islamischer Wohlfahrtsstaat beruht maßgeblich auf einer islamischen oder Pakistan-Ideologie, die verschiedenen Interpretationen unterworfen ist. Entsprechende Verfassungsartikel sind sehr unscharf formuliert und obwohl der Schutz der Minderheiten garantiert wird, kommt es regelmäßig zu Verletzungen dieser Position.

Um die Islamische Ideologie zu verstehen, sollten Sie erstens wissen, dass unter die meisten Fälle, die unter dem Blasphemie-Artikel registriert sind, Muslime und keine Nicht-Muslime fallen. Diese Tatsache zeigt, dass das Gesetz keine Waffe, ein "Schwert über unseren Köpfen" darstellt oder automatisch bedeutet, dass jeder in diesem Lande ein Opfer dieses Gesetzes werden kann. Zweitens basiert diese Ideologie auf der Zwei-Nationen-Theorie, die sich klar auf die Religion berief. Obwohl die Muslime Indiens eine der größten Bevölkerungsteile repräsentierten, war ihnen bewusst, dass sie lediglich als Minderheit ohne entsprechende Rechte immer von der Willkür der Hindus abhängig sein würden. Und ich behaupte auch heute noch, Pakistan ist ein religiöser Staat, Indien ein säkularer. Was ist in diesem säkularen Staat mit den Minderheiten passiert? Hier in diesem religiösen Staat entschuldigen sich der Präsident und der Premierminister öffentlich und die Gesellschaft zeigt größte Anteilnahme, wenn sieben Menschen verbrannt werden. Aber was ist in einem säkularen Staat wie Indien mit den Muslimen, mit dieser großen Minderheit, geschehen? Wie viele Häuser und wie viele hundert Menschen wurden lebendig verbrannt?

Kürzlich haben Sie das pakistanische Volk zum Schulterschluss mit den Streitkräften im Krieg gegen die Taliban aufgerufen und kritisiert, dass noch immer nicht alle 'Ulema' Selbstmordattentate ächten. Die Taliban versuchen gezielt Staat und Regierung als un-islamisch zu de-legitimieren. Wie kann der Staat auf dieser ideologischen Ebene antworten und welche Rolle kommt dabei den 'Ulema' als zentralen religiösen Autoritäten zu?

Wie Sie sagen, die 'Ulema' gelten als Experten in allen Fragen, die den Islam betreffen. Gleichzeitig ist es ihre Pflicht, ihre Anhänger zu führen, sei es in Friedens- oder in Kriegszeiten. Natürlich unterstützen wir den Kampf der Regierung gegen Kriminelle und Terroristen, die sich als Taliban auf den Islam stützen und in seinem Namen grausame Verbrechen an den Bürgern dieses Landes verüben. Wir verurteilen einhellig den Einsatz von Selbstmordattentätern, die immer häufiger unsere Großstädte heimsuchen, denn er ist nicht mit dem Islam vereinbar. Dieser Terror ist gerichtet gegen Muslime und Nicht-Muslime gleichermaßen. Die 'Ulema' sind mehr denn je gefragt, sich aktiv in diese Debatte einzumischen – das klassische Mittel sind dabei immer noch fatawa [religiöse Rechtsgutachten, Plural von fatwa, M.G.]. Es ist im gemeinsamen und nationalen Interesse, diese Gewalt zu beenden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es kann nicht mehr toleriert werden, dass einzelne religiöse Führer schweigen. Was wir jetzt brauchen, ist Geschlossenheit.

Herr Minister, ich bedanke mich für das Gespräch.

Quellen

Amnesty International: Amnesty Report 2010, Pakistan. Online unter: http://www.amnesty.de/jahresbericht/2010/pakistan?destination=node%2F2993#amnestyinternationalmissionenundberichte, Zugriff: 02.09.2010.

Azeem, Munawer: Audacious attack on minister in capital, Dawn, 03.09.2009.

Blom, Amélie (2008): The 2006 Anti-'Danish Cartoons' Riot in Lahore: Outrage and the Emotional Landscape of Pakistani Politics. In: South Asia Multidisciplinary Academic Journal, Special Issue, Nr. 2, 'Outraged Communities': Comparative Perspectives on the Politicization of Emotions in South Asia. Online unter: http://samaj.revues.org/document1652.html, Zugriff: 03.09.2010.

Hussain, Zahid (2007): Frontline Pakistan. The Struggle with Militant Islam. Lahore: Vanguard.

National Assembly of Pakistan (2010): The Constitution of the Islamic Republic of Pakistan, 5th Ed., (Eighteenth Amendment).

Pakistan Penal Code (2006): (Act XLV of 1860, amended).

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