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"Sundernagari? Was wollen sie denn dort?" Der Rikschafahrer schaut ein wenig verwundert, als wir ihm unser Ziel am nordöstlichen Stadtrand von Delhi mitteilen. In dem Viertel, erklärt er, gebe es doch nur Slums. Ob er schon von der "Right-to-Information"-Bewegung gehört habe, wollen wir wissen. Die veranstalte an diesem Tag in Sundernagari eine öffentliche Anhörung, bei der korrupte Machenschaften von Lokalpolitikern und Verwaltungsbeamten aufgedeckt werden sollen. Davon wisse er nichts, entgegnet der Mann, und außerdem könne gegen die Korruption sowieso niemand etwas tun.
"Dieser Ansicht sind viele Menschen", sagt Arvind Khejrival, Mitbegründer von Parivartan und einer der Initiatoren der Veranstaltung. "Parivartan" bedeute Veränderung, erklärt er. Und neben dem Kampf gegen die Korruption wolle seine Organisation in erster Linie die in der Bevölkerung verbreitete Auffassung verändern, machtlos zu sein.
Ein ehrgeiziges Ziel, denn angesichts ihres Ausmaßes wird die Korruption in Indien beinahe als natürliche Erscheinung in der Gesellschaft betrachtet. Auch eine unlängst veröffentlichte Studie scheint dies zu bestätigen: Jährlich zahlen Inderinnen und Inder fast sechs Milliarden Euro an Polizisten, Krankenhausärzte, Schuldirektoren und andere Staatsdiener, um ihnen eigentlich zustehende Leistungen überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Hinzu kommt die Veruntreuung öffentlicher Finanzen. Allein im Bereich der ländlichen Entwicklung, in den die Regierung jährlich etwa zwei Milliarden Euro investiert, würden zwischen 40 und 80 Prozent der Gelder unterschlagen, sagt der Journalist Bharat Dogra. Den hohen Anteil führt Dogra auf die Existenz eines Netzwerks zurück, in dem sich Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Polizei gegenseitig deckten.
Vor allem auf lokaler Ebene sind die Methoden vielfältig, Gelder ihrem Zweck zu entfremden. Bei staatlichen Bauvorhaben werden Personallisten manipuliert, um die Löhne von mehr Arbeitskräften einzustreichen, als tatsächlich auf der Baustelle anwesend waren. Rechnungen für nie ausgeführte Arbeiten werden eingereicht. Zudem werden staatlich garantierte Mindestlöhne nicht oder nur unzureichend bezahlt: Der "Überschuss" wandert in die Taschen der Verantwortlichen.
Auf dem weitläufigen Platz im Zentrum von Sundernagari ist ein riesiges Zelt aus bunten Tüchern errichtet worden. Einige Hundert Menschen haben sich versammelt. Die Medien sind ebenfalls zahlreich vertreten, allein vier Kamerateams haben ihr Gerät aufgebaut. Das Interesse ist groß, denn hier soll die erste öffentliche Anhörung in Delhi stattfinden. Zuvor gab es Veranstaltungen dieser Art nur im Unionsstaat Rajasthan, wo sie in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Instrument im Kampf gegen die Korruption geworden sind. Selbstredend sind die rajasthanischen Bürgerrechtler zur Unterstützung ihrer hauptstädtischen Kollegen angereist. Und Aruna Roy, die Mutter der "Right-to-Information"-Kampagne, hält die Eröffnungsansprache.
Ihren Ursprung hat die Bewegung in Devdungri, einem unscheinbaren Ort im Süden Rajasthans. Dort wurde vor mehr als zehn Jahren die Organisation zur Stärkung der Rechte von Arbeitern und Bauern (MKSS) ins Leben gerufen. Die kleine Gruppe um Aruna Roy hatte sich das Ziel gesetzt, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in dieser wirtschaftlich rückständigen Region zu verbessern.
Eine ihrer ersten Initiativen war der Kampf für die Auszahlung der staatlich garantierten Mindestlöhne. Die Erfahrungen dieser Arbeit offenbarten schnell die eigentliche Ursache des Problems: die Undurchsichtigkeit der öffentlichen Ausgaben. Fast immer wurde den Bürgerrechtlern die Einsichtnahme in Dokumente mit dem Hinweis auf Geheimhaltung verwehrt. So konnten die Behörden Unregelmäßigkeiten leicht vertuschen, denn dem MKSS fehlten Beweise für seine Anschuldigungen.
Aus diesem Dilemma entstand die "Right-to-Information"-Bewegung, deren Ziel zunächst das Recht auf Information, also die rechtliche Absicherung der Forderung nach Dokumenteneinsicht war. Die Aktivisten hofften, durch Transparenz die Korruption eindämmen zu können, da es für Akteure in Politik, Wirtschaft und Verwaltung unmöglich würde, ihre eigenen finanziellen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen.
Im Dezember 1994 veranstaltete der MKSS die erste von inzwischen mehr als einem Dutzend öffentlicher Anhörungen. Über tausend Menschen brachte man auf die Beine. Und auf Umwegen war es gelungen, Dokumente der Lokalverwaltung zu beschaffen. Aus denen gingen Unregelmäßigkeiten hervor, die den Versammelten präsentiert wurden. Die Empörung war groß, denn Personallisten mehrerer Bauprojekte enthielten Namen von Menschen, die nicht einen einzigen Tag gearbeitet hatten. Zudem wurden Lohnzahlungen in Höhe von 60000 Euro an eine Baufirma aufgedeckt, die nur in Form eines Bankkontos existierte.
Die vom MKSS organisierten Anhörungen sorgten in ganz Rajasthan für Aufsehen. Erstmals wurden die Mechanismen der Verwaltung öffentlich bloßgestellt. Durch die Bekanntmachung der Missstände gerieten die Netzwerke der Korruption unter den Druck der Öffentlichkeit und die Verantwortlichen waren gezwungen, Stellung zu beziehen. In einigen Fällen kam es zur Rückzahlung veruntreuter Gelder.
Was öffentliche Anhörungen von anderen Formen der Korruptionsbekämpfung unterscheide, sagt Aruna Roy, sei die direkte Einbeziehung der Bevölkerung. "Die Betroffenen sehen ihre Einflussmöglichkeiten auf politische Prozesse, denen sie zuvor hilflos gegenüberstanden. Nach unseren Erfahrungen sind die Anhörungen im ländlichen Raum ein äußerst wirksames Instrument."
Mit jeder neuen Anhörung stieg auch das Medieninteresse, und vor allem die Presse sympathisierte mit den Forderungen der Bewegung. Seit dem Unabhängigkeitskampf habe es in Indien keine politische Bewegung gegeben, der so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, sagt Bharat Dogra. Im Laufe der Zeit erhöhte sich der Druck auf die rajasthanische Staatsregierung und im August 2000 verabschiedete sie ein Gesetz, das fortan allen Bürgern den Zugang zu Dokumenten staatlicher Entwicklungsprojekte garantiert.
Die Erfolge des MKSS in Rajasthan haben auch in anderen Teilen Indiens ähnliche Bewegungen angeregt. Heute gibt es in sechs weiteren Unionsstaaten – auch in Delhi – und auf nationaler Ebene entsprechende "Right-to-Information"-Gesetze.
Mit der Gesetzgebung im Rücken untersuchte "Parivartan" vor der Anhörung mehrere Projekte in Sundernagari. So war von angeblich 29 erneuerten Abwasserkanälen kein einziger ausgebessert worden. Reparierte Asphaltdecken auf den Straßen waren nicht wie angegeben zehn, sondern nur fünf Zentimeter stark. Und die Liste der Mängel ließe sich fortsetzen.
Nachdem Aruna Roy die Anwesenden in Sundernagari über die Bewegung und ihre Einflussmöglichkeiten in Kenntnis gesetzt hat, sollen die ermittelten Unregelmäßigkeiten vorgetragen werden. Doch schon nach wenigen Minuten droht das Vorhaben zu scheitern, denn 50 Anhänger eines ranghohen Lokalpolitikers melden sich lautstark zu Wort. Sie beschimpfen die Bürgerrechtler und bezichtigen sie der Lüge. Am Rande des Veranstaltungszeltes kommt es zu einem Handgemenge. Erst das Eintreffen der Polizei kann die Gemüter ein wenig beruhigen. Die Debatten bleiben hitzig, und als dem Lokalpolitiker das Rederecht verweigert wird, verlässt er mit seinen Gefolgsleuten unter lautem Protest den Ort des Geschehens. Auch viele Bewohner Sundernagaris, die aus Neugier gekommen waren, haben sich angesichts des turbulenten Verlaufs schon auf den Heimweg gemacht. Am Ende sind Bürgerrechtler und Journalisten fast unter sich.
Trotz aller Schwierigkeiten zeigen sich Aruna Roy und Arvind Khejrival nach der Veranstaltung zufrieden. Ein Anfang sei nun auch in Delhi gemacht. Und gerade die Störversuche hätten gezeigt, wie machtvoll öffentliche Anhörungen sein können. In Zukunft müssten sich die Bürgerrechtler vor allem darauf konzentrieren, sagt Roy, die Bevölkerung über die Einflussmöglichkeiten zu informieren, die das "Right-to-Information"-Gesetz biete. "Der Rahmen muss gefüllt werden", ergänzt Khejrival. Dann sei die "Right-to-Information"-Bewegung vielleicht bald mehr als ein Hoffnungsschimmer.
Quelle: Diese Reportage erschien am 13. März 2003 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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