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"Amul" steht in großen Lettern auf lilafarbenen Grund an dem breiten Steinsockel zwischen dem Alltagsshop von Pravin und dem Schiwa-Tempel am Rand von Anand im Herzen des westindischen Unionsstaates Gujarat. "Real Milk – Real Ice Cream" ist unter dem Firmenlogo zu lesen. Aber Speiseeis-Stangen aus der Kühltruhe sind längst nicht das einzige Amul-Produkt, das Pravin anbieten kann. Er holt Milchtüten hervor und zeigt auf Schokoladentafeln. Der nächste Laden mit Amul-Reklame ist nur einen Steinwurf entfernt und so ist es in weiten Teilen Indiens bis hinauf in die Vorberge des Himalaya.
Amul – genauer die Organisation National Diary Development Board (NDDB) – ist der mit Abstand größte indische Milchproduzent. Und das ist keineswegs der einzige Superlativ, mit dem sich das Unternehmen schmücken kann. Die Nationale Entwicklungsgesellschaft für die Milchwirtschaft ist eine der größten Kooperativen der Welt und zugleich wohl das weltgrößte Entwicklungsprojekt. Schon der Eingangsbereich zum Amul-Hauptquartier nur 100 Meter von Pravins Shop lässt Besonderes ahnen. Hinter dem Tag und Nacht von drei Sicherheitskräften bewachten Tor schießen die Fontänen eines Springbrunnens in den Himmel, dahinter architektonisch abwechslungsreich gefügte Gebäude inmitten gepflegter Rasenflächen, hohen Bougainvillea-Stauden, Platanen und Palmen. Kurzum, ein Wunderland im staubigen, gerade jetzt heftig von Dürre geplagten Indien.
Die Veterinärmedizinerin Dr. Amrita Patel, seit etlichen Jahren Chefin der Superkooperative mit 11 Millionen Mitgliedern in 21 indischen Unionsstaaten und nicht weniger als 170 Molkereien, weiht uns in die Anfänge des beispiellosen Unternehmens ein. Schon kurz vor Indiens Unabhängigkeit, berichtet sie, schlossen sich nur wenige Kilometer entfernt am anderen Ende von Anand Milchproduzenten zu zwei kleinen Kooperativen zusammen, um der Ausbeutung durch Zwischenhändler zu entgehen und die Milch selbst zu vermarkten.
Gefördert wurde das Vorhaben von Sardar Patel, dem aus der Gegend stammenden führenden Kongresspolitiker neben Nehru und Gandhi aus der Gründungszeit der Indischen Union – dem "Iron Men", der als mächtiger Innenminister Indien gegen den Widerstand einzelner Fürsten zusammenschweißte, ist ganz in der Nähe ein großer Erinnerungstempel gewidmet. 1965 erhob der damalige Premier Lal Bahadur Shastri das "Modell Anand" zum Beispiel für Indien und förderte dessen Ausbreitung über das Land. Der Durchbruch gelang indes erst nach 1970, als Anand mit Unterstützung der EU und der Weltbank die "Operation Flood" einleitete – eine Flut von Milch für Indiens große und kleine Metropolen. Als die Operation 1996 abgeschlossen war, stand die Kooperative unangefochten an der Spitze der inländischen Milchlieferanten und Indien überholte alsbald die USA als weltgrößter Milchproduzent. Heute ist das südasiatische Land mit über 84 Millionen Tonnen pro Jahr die Nr. 1. In den Sammelstellen der Anander Kooperative werden täglich über 17 Millionen Liter Milch angeliefert, mehr als 13 Millionen davon gelangen auf den Markt. Der Rest wird zu einen respektablen Anzahl von Milchprodukten verarbeitet.
Die knapp 30-jährige Kokila Bin, eines der 11 Millionen Amul-Mitglieder, hat an diesem Abend gegen halb sechs ihre zwei Büffel gemolken und sich mit ihrer Milchkanne auf den Weg zur Sammelstelle der Navali Milk Producers Cooperative Society gemacht. Navali, das ist eine 6.000-Seelen-Gemeinde einige Kilometer außerhalb von Anand, und die örtliche Kooperative ist eine von mehr als 100.000 im ganzen Lande (Indien hat etwa 550.000 Dörfer). Als Kokila Bin an der Sammelstelle ankommt, dunkelt es bereits. Doch das zweistöckige Gebäude ist nicht zu verfehlen – außer dem Hindu-Tempel überragt es am Marktplatz von Navali alles andere.
Schon von weitem sieht Kokila die Schlange der Genossenschaftler vor der Sammelstelle. In knapp zehn Minuten ist es soweit – die Büffelhalterin gießt die Milch in einen großen Edelstahlbottich. Menge und Fettgehalt werden, nachdem sie ihre Chipkarte eingegeben hat, per Computer festgestellt. Auf einem kleinen Bon kommen die Fakten des Abends zu Tage: 2,9 Liter Büffelmilch sind es diesmal, der Fettgehalt beträgt 5,8 Prozent, und dafür werden ihr 27 Rupies gutgeschrieben (etwa 60 Cent). Das Geld kann sie am nächsten Morgen abholen, wenn sie erneut zur Sammelstelle kommt.
Wie Kokila und ihr Mann unterhalten die meisten der 11 Millionen Amul-Genossenschaftler nur ein bis drei Rinder. Viele von ihnen, aber keineswegs alle, besitzen ein kleines Stück Land, meist nur ein oder zwei acres (1 acre = 0,47 Hektar). Von den 932 Mitgliedern der Navali-Kooperative sind 460 landlos, 415 besitzen Land bis zu zwei Hektar, 57 darüber.
Kokilas Familie – zu ihr gehören auch zwei Söhne und eine Tochter – hat kein eigenes Obdach. Sie bestreitet ihren Unterhalt plus Schulgeld für die Kinder maßgeblich mit den Einkünften aus dem Milchverkauf, rund 1.500 Rupies kommen im Monat zusammen. Dazu Erträge aus der Lohnarbeit der Eltern. Auch ohne große Rechenkünste wird schnell klar: Ohne die täglichen Einkünfte aus der Kooperative, am Jahresende kommt noch ein Genossenschaftsbonus dazu, könnte auch diese indische Familie – ebenso wenig wie die anderen 60 Prozent der von Dr. Patel als "arm, marginalisiert" eingestuften Amul-Mitglieder – kaum überleben.
Die Navali-Kooperative bietet auch eine Reihe sozialer Leistungen. Von den rund 213.000 Rupies Sozialausgaben stechen 44.000 Rupies für Milch für den Kindergarten des Ortes sowie Zuschüsse für Lehrerwohnungen, Elektrifizierung und Familienplanung hervor – soziale Anliegen, denen sich auch Amrita Patel und das Amul-Establishment nach wie vor verpflichtet fühlt.
Doch in den letzten Jahren, in denen der harsche Wind der Globalisierung auch das lange abgeschirmte Indien erreichte, haben sich die äußeren Bedingungen für die von Anand aus gesteuerte Superkooperative deutlich verändert. Da ist zunächst – im Gefolge der Regelungen der Welthandelsorganisation WTO – die Aufhebung jeglicher Beschränkungen für private Milchunternehmen, die, so klagen die Amul-Leute, in der Regel keine Kleinstproduzenten einbeziehen und keine sozialen Verpflichtungen übernehmen. Auch internationale Konzerne wie Nestlé, Danone oder Brittannia haben nun größere Möglichkeiten der Expansion im Milchtrinkerland Nr. 1. Obwohl der Chef von Nestlé India, Carlo M. Donati, im Gespräch mit deutschen Journalisten in Delhi erhebliche Probleme bei einer eventuellen Ausdehnung auf "Amul-Territorium" sieht, treibt auch sein Konzern die Expansion weit über die Kornkammer Punjab hinaus voran, wo Nestlé seit 1961 agiert.
Größere Sorgen bereiten dem Amul-Management jedoch die von der WTO legitimierten ungleichen Bedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer beim Welthandel von Milchprodukten. Die Industrieländer, zürnt man in Anand, können durch ihre Subventionspolitik außerordentlich billig produzieren und exportieren – nicht weniger als 39 Milliarden Dollar seien 2001 in die Taschen der Milcherzeuger geflossen, heißt es im Anander Jahresbericht 2001/2002. Zugleich habe Indien bereits 1995 auf Druck von WTO und IWF alle seine Schutzmaßnahmen wie mengenmäßige Importbeschränkungen und Zölle aufgegeben. Damit seien praktisch die Grenzen für ausländische Dumpingangebote offen. Zugleich würden sich jedoch die Industrieländer weiter vor Konkurrenz aus dem Süden abschotten.
In dieser Hinsicht hat die indische Großkooperative auch mit der EU erhebliche Probleme – wiewohl eine flotte Anander Glanzbroschüre mit dem Titel "Eine Saga erfolgreicher Partnerschaft" das entwicklungspolitische Engagement der Europäer im Rahmen der "Operation Flood" über den grünen Klee lobt. Damals hatte die EU aus ihren Überschüssen Milchpulver und Butteröl kostenlos an Amul geliefert, und mit den Erlösen konnte jenes weit gespannte Netz von Kooperativen über ganz Indien gespannt werden.
Doch schon bald zeigten sich erste Risse in der Partnerschaft. "Als wir dann große Überschüsse erwirtschafteten und exportieren wollten, hat uns das die EU verboten", erinnert sich Dr. Patel. Seit 1997 kommen keine Hilfslieferungen mehr aus Brüssel – aber stattdessen, wenn auch noch in geringem Umfang, subventioniertes Milchpulver und Butteröl. Will die EU das Entwicklungsprojekt ruinieren, das sie maßgeblich mitgeschaffen hat? Klar ist: Von nun an – auch eine Folge der Globalisierung – stehen sich beide auf dem Weltmarkt gegenüber. Und klar ist auch: Unter fairen Bedingungen, sprich deutlichem Abbau der EU-Subventionen und -Zugangsbeschränkungen, hätte Amul auch in Europa eine Chance. Gegenwärtig exportiert die Kooperative vor allem in die Golfregion, insgesamt in rund ein Dutzend Länder.
"Wenn die EU-Staaten oder andere Industrieländer in großen Mengen stark subventionierte Milchprodukte auf den indischen Markt werfen", resümiert Narendra Varshney, ökonomischer Direktor der Anander Zentrale, "wird hier weniger produziert und die Lebensbedingungen von Millionen Kleinstproduzenten würden beeinträchtigt – das heißt: Sie würden auf ihrem beschwerlichen Weg aus der Armut weit zurückgeworfen werden."
Kokila Bin aus dem Dorf Navali, Besitzerin zweier Büffelkühe, deren Milch das Überleben ihrer Familie garantiert, weiß über diese merkwürdigen Zusammenhänge (noch) nichts.
Quelle: Dieser Artikel erschien am 14. Januar 2003 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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