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Bagdi Ram Raika schaut betrübt in den strahlend blauen Himmel über Sadri. Kein Wölkchen will sich vor das Blau schieben, nur hin und wieder ziehen am Nachmittag milde weiße Schleier über dem nahen Aravalli-Gebirge auf. Die Bergkette, die bis zu 1.727 Meter ansteigt, zieht sich wie ein Dinosaurierrücken von der Grenze zu Gujarat bis nach Delhi und teilt Rajasthan in zwei klimatisch und geologisch höchst unterschiedliche Hälften. Der Nordwesten, den der Monsun nur selten erreicht, gleicht einem "See von Sand". In dem von einigen Flüssen gespeisten Südosten sind die Böden fruchtbarer. Das Städtchen Sadri indes liegt westlich der Aravalli-Wasserscheide und damit am Rande des riesigen Trockengebietes, das in Richtung Pakistan allmählich in die Thar-Wüste übergeht.
Der hoch gewachsene Bagdi Ram Raika, an seinem Sapha (Turban) wie an seinem Nachnamen als Angehöriger des legendären Raika-Stammes zu erkennen, ist an diesem Tag von Chittaurgarh herübergekommen, um an einem internationalen Treffen von Hirtenvölkern teilzunehmen. Hier schildert er ein bedrückendes Szenario von der Situation im farbenreichen "Land der Rajas". Sind schon in normalen Zeiten die Niederschläge jenseits der Aravalli-Kette sehr gering, so blieben sie beim letzten Monsun fast ganz aus.
Die Folgen sind nach Bagdi Rams Worten – und er muss es wissen, ist er doch Vorsitzender der Allindischen Raika-Assoziation und zudem einer der Vizepräsidenten des Indischen Bauernverbandes – selbst für die stolzen Rajkas und ihre Kamele dramatisch, obwohl die Tiere zu den genügsamsten dieser Erde zählen. Der Legende nach wurden Kamele wie Rajkas von den Hindu-Gottheiten Schiwa und Parvati erschaffen, und quasi zur Bestätigung zeigt mir Bagdi Ram in einer nahen Rajka-Wohnung eine ganze Galerie bunter Schiwa- und Parvati-Bilder. Aber selbst für die einhöckrigen Wüstenschiffe würden nun die harten Gräser und Blätter der stachligen Büsche knapp.
Doch weitaus mehr als die Rajkas sind die nach Hunderttausenden zählenden, ebenfalls landarmen oder landlosen Rajasthanis betroffen, die von ein, zwei Rindern, ein paar Ziegen und Lohnarbeit leben. "Diese Kleinbauern", berichtet Bagi Ram, "haben diesmal ihre Behausungen in einer wesentlich größeren Zahl als sonst verlassen und sind in die weniger von der Dürre betroffenen Staaten Gujarat oder Madhya Pradesh abgewandert. Aus dem Distrikt Marwar sind es bis zu 40 Prozent, aus ganz Rajasthan 20 bis 22 Prozent." Auch Selbstmorde von Kleinbauern nähmen zu, vier bis fünf seien ihm bereits bekannt geworden.
Wie zur Illustration von Bagdi Rams Worten berichtet an diesem Tag die Regionalausgabe der "Hindustan Times" über tumultartige Szenen auf dem Bahnhof des Ortes Raipur, als der Zug Richtung Südwesten eintrifft. Der 36-jährige Manglu Lal gehört mit seiner Frau und drei Kindern zu 400 bis 500 Leidensgefährten, die mit Sack und Pack auf den Zug nach Maharasthra warten. "Schaut auf dieses acht Monate altes Mädchen", sagt Manglu Lal zur Reporterin, "sie hört seit drei Tagen nicht auf zu weinen. Wir haben kein Geld für Lebensmittel, ich habe die letzten zwei Wochen keinerlei Arbeit gefunden." Als der Zug eintrifft, stürzen alle los, um einen Platz zu ergattern. "Es ist jeden Tag das Gleiche", erzählt ein Bahnhofspolizist.
Noch schlechter die Nachrichten des Magazins "Frontline" aus dem Distrikt Baran. Dort sind bereits 47 Angehörige der Stammesbevölkerung Hungers gestorben. Ihr Hauptnahrungsmittel in der Not ist der Samen des Grases sama, der, mit Milch genossen, bekömmlich und dank hohen Proteingehalts auch nahrhaft ist. Doch die armen Adivasi von Baran können in diesen Zeiten praktisch keine Milch kaufen. Außerdem wird sama bei anhaltender Trockenheit allmählich giftig und so zu einem "langsamen Killer", wenn keine andere Nahrung parat ist. "Wahrscheinlich ist das einer der Wege, auf dem Hunger tötet", kommentiert das Magazin.
Dass viele Rajasthanis die Trockenheit ihrer Region nicht länger als unabwendbares göttliches Schicksal betrachten, erleben wir, als wir auf der Magistrale von Ajmer nach Jaipur abbiegen und über schmale, aber streckenweise gut ausgebaute Straßen etliche Kilometer in die staubige Steppe tauchen. Hier, in der 2.500-Seelen-Gemeinde Gagalu, hat der Entwicklungsexperte Laxman Singh vor vier Jahren eine Organisation ins Leben gerufen, die das Land ringsum buchstäblich umkrempelt. Grünes sehen wir zunächst nur an Dornbüschen und "abgeernteten", ihre abgehackten Äste in den Himmel streckenden Bäumen. Grünes auch auf kleinen Feldern nahe der Häuser, wo sich neben den Pumpen Steine häufen – dem sinkenden Grundwasserspiegel musste quasi hinterhergebohrt werden.
Dem wird nun abgeholfen. Laxman Singh und seine Leute haben ein riesiges System von niedrigen Dämmen und polderartigen Anlagen geschaffen, das das wenige Nass, das während des Monsuns herunterkommt, aufhält und schnellem Wachstum und leichter Hebung des Grundwasserspiegels dient. Wir sehen eine Gruppe von Frauen in grünen, gelben, blauen und roten Saris, die bei winterlichen 25 Grad im Schatten weitere Gräben und Dämme anlegen. Sie erhalten dafür von der Organisation Nahrungsmittel, die wiederum hauptsächlich von der Caritas aus den USA stammen.
Unterdessen wurde das Bewässerungsprojekt bereits auf 30.000 Hektar ausgedehnt, 41 andere Dörfer wurden einbezogen. Die Polder freilich sind nun staubtrocken – nur selten sind noch ein Rest Wasser und etwas Grün zu sehen. Kein Wunder, der letzte Monsun vor sechs Monaten brachte hier nur 105 Millimeter Niederschlag (sonst 500 bis 600 mm).
Längst ist die Not in Rajasthan – nach Angaben der Regierung in Jaipur sind alle 32 Distrikte des 342.000 Quadratkilometer großen und von 50 Millionen Menschen bewohnten Unionsstaates von Dürre und Nahrungsmittelknappheit betroffen – ein heißes Thema der indischen Politik. Kurz vor der Jahreswende befassten sich beide Häuser des indischen Parlaments damit. Premier Vajpayee unterbreitete die Idee, die wichtigsten indischen Flüsse durch Kanalsysteme zu verbinden und den Trockengebieten Wasser zuzuführen. Unter anderem soll quer durch Rajasthan ein Kanal von den Vorbergen des Himalaja und der Jamuna bis zum Sabarmati-Fluss in Gujarat gezogen werden. Aber angesichts bisheriger, zumeist schlechter Kanalbau-Erfahrungen fand die Idee nicht nur Zustimmung.
Bereits in diesen Parlamentsdebatten zeichnete sich ab, dass aus der Not Rajasthans auch politische Münze geschlagen wird. Vajpayee, Chef der von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) geführten Regierung in Delhi, zählte die Kongress-Partei-Regierung in Rajasthans Hauptstadt Jaipur an, ihre Hilfsmaßnahmen für die darbende Bevölkerung seien alles andere als ausreichend. Die lokale BJP nahm den Ball dankbar auf. Dabei hat sie wenig Grund zum Zetern. 1998 war sie nach nur wenigen Jahren an der Macht vom rajasthanischen Wahlvolk in die Wüste geschickt worden – schwache Leistung während schwerer Dürrejahre Mitte der 90er, Wachstumsrückgang in Industrie und Landwirtschaft, steigende Arbeitslosigkeit und schließlich ihre vom Volk wenig goutierte Teilhabe am Kernwaffentest in Pokhran waren die Gründe. Aber – 2003 ist eben wieder Wahljahr in Rajasthan.
Zweifellos – die Engpässe bei der Versorgung gerade der Landbevölkerung sind groß und die staatlichen Maßnahmen des Programms "Food for Work" (Nahrungsmittel für Arbeit) sind nicht ausreichend, auch wenn zum Beispiel im Distrikt Ajmer 10.000 Menschen in 330 Hilfsprojekten beschäftigt sind, bei denen sie pro Arbeitstag den gesetzlichen Minimallohn 60 Rupies (etwa 120 Cent) erhalten.
Doch von ganz anderem Kaliber als die Kritik der hindunationalistischen Opposition ist die Abrechnung der Menschenrechtsaktivistin Aruna Roy, die wir in Tilonia treffen, einem Dorado indischer und europäischer Alternativer. Die von missionarischem Gerechtigkeitssinn getriebene Aruna Roy ist voller Zorn über Gleichgültigkeit, Tatenlosigkeit und Korrumpierbarkeit der Politiker. Während 16 Millionen Tonnen Getreide in den Lagern der Regierung gestapelt seien, müssten Millionen Frauen, Männer und deren Kinder hungern – eine Schande. Auch die großen Rupie-Summen, die von den Regierenden immer wieder für ihre Hilfsprogramme ausgewiesen werden, kämen meist nur höchst "verdünnt" unten an. Deshalb streitet Aruna Roy mit ihrer Organisation zur Stärkung der Rechte von Arbeitern und Bauern (MKSS) erfolgreich für das "Right to Information" – u.a. wird in öffentlichen Anhörungen die Unterschlagung öffentlicher Gelder für "Food for Work"-Programme aufdeckt. Auf diese Weise, meint sie, könne auch das in schweren Dürrezeiten so lebenswichtige "Right to Food" (Recht auf Nahrung) eingeklagt werden.
Auch Bauernführer Bagdi Ram Raika legt die Hände nicht in den Schoß. In zwei Memoranden forderte sein Verband die Regierung in Jaipur zu Hilfsmaßnahmen – u.a. Subsidien und Kredite – für die armen Kleintierhalter auf. Aber erst als 40.000 Bauern durch Jaipur marschierten, fand er etwas Gehör. "Jetzt in Wahlzeiten wird viel versprochen", weiß er aus Erfahrung, "aber dann..." Und er lässt durchblicken, dass seine Bauern gewiss nicht zum letzten Mal auf diese Art am Jaipurer Hawa Mahal, dem berühmten Palast der Winde, vorbeizogen.
Quelle: Dieser Artikel erschien am 25. Januar 2003 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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