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Der Mann, der fast 'eigenhändig' den Staat Pakistan schuf, der brillante Anwalt Mohammad Ali Jinnah, hat sein Anliegen mit dem folgenden Satz begründet: "Islam and Hinduism...are not religions in the strict sense of the word, but are in fact different and distinct social orders".
Wer ein wenig mit Südasien vertraut ist, erkennt in diesem Satz neben dem Hinweis auf unvereinbare sozio-kulturelle Werte auch die deutliche Absage an religiöse Fanatiker. Diese Werte, die sicher Religiosität einbeziehen, sollen im Folgenden inhaltlich behandelt und auf das pakistanische Wahlverhalten bezogen werden. Dabei liegt mir zunächst an zwei gleichermaßen relevanten Thesen: Zum einen unterscheiden sich die Werte deutlich vom westlichen Weltbild und Demokratieverständnis. Zum anderen sind sie weder in sich homogen, noch unveränderliche Aspekte eines statischen Weltbildes. Sie sind vielmehr in sich widersprüchlich und wandelbar.
Mein Ausgangspunkt ist die in der Ethnologie unumstrittene These von einer Gesellschaft, die zwar vielerlei individuelle Eigenheiten zulässt und würdigt, den uns vertrauten Individualismus aber nicht als Basiswert kennt, geschweige denn gestattet. Konkret heißt das, dass ein Individuum nicht nur als solches wahrgenommen wird, sondern gleichermaßen die Möglichkeiten und Botschaften seines Kollektivs artikuliert. Diese Qualitäten sind größtenteils nicht erworben sondern zugewiesen. Gemeint sind "primordial loyalties", vorgegebene Bindungen gegenüber supra-individuellen Größen wie Familie und Sippe, Klan und Stamm, Ethnos und Region, Kaste, Sekte, und religiösem Orden. Darüber hinaus werden erworbene Bindungen, wie die gegenüber einem Heiligen oder einem College, gegenüber der Armee oder dem Verwaltungsdienst, in der Folgezeit wie zugeschriebene behandelt. Wer in eine bestimmte Gemeinschaft oder einen bestimmten Dienst eintritt, gehört dann zu einem Corps, das genauso dauerhaft wie eine zugeschriebene Kategorie beachtet wird.
Damit soll der obligatorische Charakter dieser überindividuellen Größen betont werden. Das Individuum entscheidet sich nicht für oder gegen seinen Stamm oder seine "batch mates" in der Armee, sondern es ist als ein Teil des Ganzen dessen Regeln und Loyalitäten unterworfen. Der Teil steht für das Ganze. Vielleicht bereichert oder beschädigt er das Ganze. Hierzu ein kurzes Beispiel: Als Präsident Ayub Khan 1965 Wahlen inszenierte, versammelte sich die Opposition hinter einer einzigen Gegenkandidatin, Miss Fatima Jinnah, der greisen Schwester des Staatsgründers, die quasi den Status ihres Bruders einbrachte.
Bis heute stehen enge Angehörige politischer Führer für ihre verstorbenen Väter, Brüder oder Gatten. Benazir Bhutto hat z.B. niemals die generell radikalen Utopien ihres Vaters Zulfikar vertreten. Im Gegenteil: Sie leitete den konservativen Studentenverband von Oxford. Aber die politischen Inhalte von Vater oder Tochter waren gleichermaßen nebensächlich gegenüber der gemeinsamen Chiffre, die jeder verstand, nämlich dass hier unendlich reiche Großgrundbesitzer der Provinz Sindh gegen die Vormacht der Einwanderer, der Armee und der anderen Provinzen antraten. Natürlich waren auch unendlich reiche Großgrundbesitzer auf der Gegenseite.
Diese vorgegebenen Bezugsgrößen und Loyalitäten kreuzen und widersprechen sich regelmäßig, so dass ihr obligatorischer Charakter durch taktische Auswahlchancen ergänzt und modifiziert wird. Weil die "primordial loyalties" nicht kongruent verlaufen, müssen immer einige gebrochen werden. Verrat ist systeminhärent. Politische Dynamik ergibt sich aus der Frage, welche der sich wechselseitig widersprechenden Loyalitäten eingehalten und welche gebrochen werden.
Ich könnte jetzt die zahlreichen Kombinationen vorstellen, aber das würde Sie ermüden. So wähle ich den vertrauteren Weg der historischen Beschreibung. Warum hat sich Indien, nicht aber Pakistan, zu dem entwickelt, was auswärtige Beobachter gern eine "gefestigte Demokratie" nennen?
Meine Antwort fällt ziemlich kurz und deshalb sicher angreifbar aus. Sie betrifft die Pakistan-Bewegung der Kolonialzeit: Das Konzept eines Staates für die indischen Muslime wurde eher schwächlich in dem Gebiet vertreten, das heute die Islamische Republik Pakistan ausmacht. Es wurde vielmehr in Nordindien entwickelt, wo Muslime deutlich in der Minderheit waren. Die politischen Vertreter der Pakistanidee waren liberale Großbürger und Fürsten, die ihren Einfluss in einem unabhängigen Indien bedroht sahen. Diese muslimischen Führer waren 1946 nach einem Wahlrecht für Besitzbürger gewählt worden, als sie ein Jahr später - zusammen zahlreichen anderen Flüchtlingen - in die neue Hauptstadt Karachi umzogen, um als Parlament die neue Verfassung zu entwickeln. Anders als in Indien blieb diese Aufgabe unerledigt. Warum wurde sie auf Dauer verzögert?
Die Antwort verweist auf den ersten zentralen Widerspruch: Ein demokratisches System würde mit Sicherheit zum Machtverlust der liberalen Flüchtlinge führen, weil ihr Wählerreservoir niemals dem der Einheimischen entsprechen könnte. Letztere - das war sicher - müssten sich für Kandidaten der eigenen Kategorie entscheiden, also für eher ungebildete und reaktionäre Stammesführer und Feudalfürsten und nicht für die Fremden aus dem Osten. Als Folge ließ Karachi den Einheimischen einen gewissen Freiraum in den Provinzparlamenten, aber die Zentralmacht lag bei den alten eingeführten Politikern und ihren alten eingeführten Verwaltungskadern, weil beide gleichermaßen dieser neuen ethnischen Kategorie der Flüchtlinge angehörten. Gewählt wurde nicht.
Die Pfründe waren auch beachtlich: Hindus und Sikhs hatten in Pakistan sehr viel höhere Vermögenswerte hinterlassen als umgekehrt Muslime in Indien. So konnten sich die eingewanderten Eliten erheblich bereichern, solange sie an der Macht blieben. Diese Form der Selbstbedienung, dieses Komplott von routinierten Beamten und fragwürdig gewählten Abgeordneten ist gewissermaßen die Erbsünde der pakistanischen Demokratie. Alle späteren Versuche haben sich an diesem Beispiel orientiert und dadurch Militärregimes ausgelöst.
Die heutige politische Führung gilt als die vierte Militärdiktatur des Landes, aber die Zahl ist nicht ganz richtig. Schon 1953 wurde erstmals der Notstand ausgerufen. Das Militär zog sich aber nach vier Wochen freiwillig in die Kasernen zurück. Anlass waren religiöse Unruhen gewesen. Angeführt von der Jamaat-e-Islami, war der Mob gegen die Ahmadiya-Sekte auf die Straße gegangen, aber auch gegen die liberalen Eliten der Flüchtlinge. Heute würden wir von einem islamistischen Aufstand sprechen, damals gab es diesen Ausdruck noch nicht. Damals - und in den folgenden drei Jahrzehnten - wurden die pakistanischen Islamisten vielfältig von den USA unterstützt, weil man in ihnen ein antikommunistisches Bollwerk sah. Diese externe Förderung wurde seit den achtziger Jahren von Saudi Arabien übernommen.
Tatsächlich haben die islamistischen Parteien bei Wahlen immer nur einen geringen Stimmanteil gewonnen, der primär aus dem städtischen Kleinbürgertum kam. Sie waren gegen die Gründung Pakistans und gegen die Demokratie. Speziell die Jamaat-e-Islami ist nach bolschewistischem Vorbild als Kaderpartei organisiert und hat die langen Verbotsphasen im Untergrund bestens überstanden. Die Jamiat-ul-Ulama-i-Islam (JUI) vertritt eine bedeutende puritanische theologische Schule, während die Jamiat-ul-Ulama-i-Pakistan (JUP) eine wichtige gnostische Tradition repräsentiert. Alle drei ignorieren grundsätzlich die primordialen Loyalitäten und Befangenheiten, sie negieren weitgehend die Bindung an Familie und Kaste, an Ethnos und Region. Ihr Anspruch ist universal. Sie betreiben eine Weltinnenpolitik, wenn auch nicht eine mit den uns genehmen Inhalten. Obwohl die Islamisten niemals auch nur 10% der Wähler hinter sich hatten, waren sie immer ein politischer Faktor, der die Straße mobilisieren konnte. Sie machten so geachtete Mitbürger einer Sekte zur formal "nichtmuslimischen Minderheit" und sie setzten die fatalen Blasphemie-Gesetze durch.
Dementsprechend liegt auch der Umkehrschluss nahe: Wer den Aufstieg der Islamisten nicht unbedingt fördern will, sollte in Pakistan entweder die traditionellen Würdenträger mit dem merkwürdigen Demokratieverständnis unterstützen, oder aber jene modernistischen, universalistischen Kräfte im Militär, die Demokratie nur als Selbstbedienungsladen erlebt haben. Schließlich ist noch eine weitere Variante denkbar, die zwischen 1977 und 1988 - nicht aber in den letzten Jahren - zur Geltung kam, nämlich die islamistisch inspirierter Militärs.
Zurück zur Geschichte: Als die Politiker 1958 erneut das Militär riefen, ließ sich General Ayub Khan nicht mehr benützen, sondern schickte sie ins Ausland oder in Pension, um die Misswirtschaft zu beenden. Mehr als drei Jahre lang ging er hart gegen korrupte Führer vor, dann schloss er sich ihnen an. Ich will diesen Punkt nicht vertiefen. Wichtiger ist die Verlagerung des politischen Schwerpunkts im Jahrzehnt Ayub Khan. Der Diktator verlegte das Machtzentrum aus Karachi, der Hochburg der Flüchtlinge, in den Norden, in die Nähe seiner eigenen Ländereien. Die neue Hauptstadt Islamabad berührt die Bundesländer Punjab und Grenzprovinz, also die Gebiete von Punjabi und Pakhtunen, den größten Ethnien des Landes. Ayub Khan selbst war ein durch die britisch-indische Armee geprägter Pakhtune. Die Armee des neuen Staates Pakistan besteht fast ausschließlich aus Angehörigen dieser beiden Ethnien, und ihre Generale hatten langfristig das Sagen. Kurz: Die Vorherrschaft der Flüchtlinge wurde 1958 zu Gunsten der Einheimischen gebrochen. Innenpolitisch hat Ayub Khan Punjabi und Pakhtunen an die Schalthebel gebracht. Damit bannte er zumindest eine grundsätzliche Gefahr, die sich auf die Identität der Pakhtunen bezog.
Bekanntlich leben die Pakhtunen zur einen Hälfte in Afghanistan, zur anderen in Pakistan. Die Briten hatten die Pakhtunen-Gebiete nördlich und westlich des Indus erobert, waren aber jenseits Pässe im heutigen Afghanistan an den Warlords gescheitert. Seit dem 20. Jahrhundert erhalten die Führer der unfruchtbaren autonomen Stammesgebiete staatliche Subsidien, während die fruchtbaren Gebiete von der ordentlichen Regierung der Grenzprovinz verwaltet werden. 1947 wurde dort überall die Stammesversammlung oder Jirga abgehalten, die den Eintritt in den neuen Staat Pakistan beschloss. Das war nicht selbstverständlich, denn die bekanntesten - auch demokratisch gewählten - Pakhtunenführer standen Gandhi nahe und waren gegen Pakistan. Deshalb wurden sie - mit kurzen Intervallen - langfristig bis zum Ende der siebziger Jahre inhaftiert.
Was galt damals als pakhtunische Politik? Bei fairen Wahlen in Pakistan gingen die meisten pakhtunischen Stimmen immer an eine Partei, die heute Awami National Party heißt und seit drei Generationen von der gleichen Familie geführt wird. War der Führer inhaftiert, übernahm die Ehefrau seine Stellung. Diese pakhtunische Partei träumte zunächst von einer Vereinigung mit Afghanistan. Aber daraus wurde nichts, weil in der Grenzprovinz Pakhtunen zwar dominieren, aber nicht die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Die Mehrheit besteht aus den traditionellen Klienten der Landbesitzer und anderen ethnischen Minoritäten, die sich bei Wahlen immer für Pakistan aussprachen.
Wir dürfen deshalb festhalten: Entweder fanden keine Wahlen statt, oder sie verliefen nicht korrekt, oder aber die nicht-pakhtunische Mehrheit setzte sich durch. Diese wurde auch regelmäßig von abtrünnigen Pakhtunen angeführt. Der Stammeskodex sieht keinerlei Herrschaftsinstanzen vor. Jeder Pakhtune ist ein Khan, ein freier Mann, und das gilt insbesondere gegenüber den nächsten Verwandten. Auf Pakhtu steht das Wort tarbur für Vetter ebenso wie für Feind. Der Vetter des dauerhaft inhaftierten Pakhtunenführers verbündete sich in den siebziger Jahren mit Premier Bhutto und wurde deshalb ermordet, so dass der Sohn des Opfers seitdem pro-pakistanische Parteien in verschiedenen Kabinetten vertritt.
Ich fasse zusammen: Seit den sechziger Jahre verlegt Ayub Khan den Schwerpunkt der Macht auf Kosten der Flüchtlinge nach Norden. Die zunächst skeptischen Pakhtunen identifizieren sich danach zunehmend mit dem neuen Staat. Der grundsätzliche und irreversible Wandel tritt in den achtziger Jahren ein, als Millionen afghanischer Flüchtlinge in der Grenzprovinz aufgenommen werden müssen, was bei den pakistanischen Brüdern keinesfalls Begeisterung auslöst. Seit dieser Zeit wird das Land mit Drogen und Waffen überschwemmt, und seit dieser Zeit ist der Traum von einem Groß-Pakhtunistan, also Afghanistan plus westliches Pakistan, endgültig ausgeträumt.
Nach der Grenzprovinz komme ich jetzt zu den anderen Bundesländern. Auch in Baluchistan leben Pakhtunen. Sie dominieren auch die nördliche Hälfte an der afghanischen Grenze, während die Baluchen im Süden leben. Was unterscheidet sie? Ganz allgemein gehören Baluchen und Pakhtunen gleichermaßen zu den Stammesgesellschaften zwischen Atlas und Indus, Punjabi und Sindhi dagegen ähneln strukturell eher der indischen Kastengesellschaft. Natürlich sind aber zahllose Übergänge und Differenzierungen beachten.
In Baluchistan sind die Pakhtunen als besonders strenge Muslime bekannt. Ihre Solidarität gilt dem örtlichen Klan und auch dem Stamm oder dem Ethnos, aber daneben und dagegen läuft die explizit anarchische Forderung nach Privatautonomie. Krieger wehren sich im heiligen Zorn gegen Verräter, erreichen aber nur dann höchstes Ansehen, wenn sie nicht dem Gruppendruck folgen, sondern sich gegen die jeweiligen Anführer, gegen die Übermacht oder gegen den Rest der Welt stellen.
Die Baluchen aber sind Gefolgsleute ihrer Stammesführer, ihrer Sardar. Einige dieser Fürsten sind gewissermaßen von der Zivilisation korrumpiert, andere leben wie die Schaf- und Kamelnomaden ihres jeweiligen Stammes und folgen dem nach wie vor gültigen Kodex. Anders als die Pakhtunen gelten die Baluchen nicht als sonderlich eifrige Muslime. Als Gebiet bilden die Wüsten Baluchistans die größte Provinz, aber die Bevölkerungszahl macht die kleinste aus. Ayub Khan und Zulfikar Ali Bhutto ließen aufständische Baluchenstämme von der Luftwaffe bombardieren und die Stammesfürsten töten oder inhaftieren, aber seit den achtziger Jahren sind - im Hinblick auf die Lage im benachbarten Afghanistan - alle separatistischen Bewegungen eingestellt worden.
Gleichzeitig mit dieser neuen Friedfertigkeit gegenüber der Zentrale ist eine Front gegen die zuvor verbündeten Pakhtunen entstanden. Auslöser waren politische Morde, aber sicher auch die zahllosen afghanischen Flüchtlinge, die alte Weiderechte der einheimischen Nomaden ignorierten. Heute ringen zwei politische Parteien als nationalistische Bewegungen von Baluchen bzw. Pakhtunen um die Kontrolle der Provinz. Der Kampf wird oft genug mit Waffengewalt ausgeführt und paralysiert Schulen und Hochschulen nahezu vollständig.
Der islamistische Militärdiktator Zia-ul-Haq hatte zwischen 1977 und 1988 solche interethnischen Kämpfe systematisch gefördert, um seine Herrschaft abzusichern. Genauso setzen in seiner Zeit die wechselseitigen Ermordungen von Sunniten und Schiiten überall im Land ein, die bis heute nicht einzudämmen waren.
Neben der Grenzprovinz und Baluchistan ist der Sindh das dritte der kleinen Bundesländer, und auch hier werden weite Regionen gewohnheitsrechtlich von Stammesführern beherrscht, die sich allerdings im Lebensstil den feudalen Verhältnissen angepaßt haben. Einige dieser Stammesfürsten aus dem Sindh wurden kurzfristig Landes- und Bundesminister.
Sozio-ökonomisch ist die Provinz durch Extreme gekennzeichnet. Etwa ein Prozent der Bevölkerung von Sindh verfügt über mehr als 90 Prozent des Bodens. Diese Großgrundbesitzer sind unvorstellbar reich, ihre Bauern unvorstellbar arm. Dieselben Namen der Feudalherren erscheinen seit 1947 natürlich auch auf den Kabinettslisten in Bund und Land. Wir kennen die Bhuttos, sollten aber auch ihre Gegenspieler, die Khurros, beachten, oder ihre langjährigen Verbündeten, die Pirzada. Im nördlichen Sindh dominieren die Talpur und die Heiligen von Pagara, die den Stamm der Hur anführen. Natürlich haben diese Fürsten inzwischen auch Ländereien in Europa und Amerika und manche sind wie die Bhuttos an Universitäten ausgebildet worden. Aber ihre Machtbasis ist das Land, für das niemals auch nur ein Pfennig an Steuern bezahlt wurde. Ganz allgemein heißt in Pakistan die Kontrolle von Land so viel wie die Kontrolle der Menschen, die das Land bewohnen und bearbeiten.
Die Fürsten des Sindh demonstrieren dies durch einen bestimmten Lebensstil, z.B. im Verhältnis von Mann und Frau. Der in England und Amerika ausgebildete Jurist Bhutto setzte sich selbstverständlich auch gewaltsam gegen seine Ehefrau durch. Die Oxford-Absolventin Benazir Bhutto ließ sich selbstverständlich von ihrem Ehemann öffentlich demütigen. Viele Großgrundbesitzer sperren ihre erste Gattin, die Mutter ihrer legitimen Kinder, lebenslänglich in verschlossene, abgedunkelte Räume, während ihnen von den Untertanen andere Frauen zugeführt werden. Natürlich hat ein Fürst seine privaten Kerker und Folterkammern, und natürlich ist er in zahllose Fehden mit Nachbarn und Verwandten verwickelt, die mit bewaffneten Trupps überfallen werden. Die traditionelle Vendetta fand zu Pferde statt, aber heute lässt man vor den Klubs und Hotels von Karachi ermorden. Trotz zahlreicher Leibwächter wurde z.B. der letzte verbliebene Sohn Bhuttos von den Gehilfen seines Schwagers so exekutiert, aber dies ist nur ein Beispiel von vielen, und ich erwähne es nur, weil es die angeblichen Garanten der pakistanischen Demokratie beschreibt.
Dieser Schwager, Benazirs Gatte, hat sich in den Zeiten ihrer Regierung völlig unverhohlen massiv bereichert und lehnt heute vor Gericht ebenso selbstbewusst jegliches Fehlverhalten ab. Mir geht es um zwei Wertideen dieser Führungsschichten: Einmal das im Sindh traditionelle Vorrecht, Untergebene ganz offen auszuplündern und zum anderen die Unbeugsamkeit und Skrupellosigkeit auch im Angesicht der überlegenen Staatsmacht.
Der junge Zulfikar Ali Bhutto war Ayub Khans Stütze im Sindh gegen den Einfluss der Flüchtlinge in Karachi. Aber er löste sich beizeiten von seinem Gönner, um eine populistische Opposition im Lande an die Macht zu führen, bis er 1977 vom dritten und islamistisch inspirierten Militärregime gestürzt und bald danach getötet wurde.
Diese Hafenstadt im Sindh hatte 1947 etwa 400 000 Einwohner. Heute sind es vielleicht 13 Millionen, die weitgehend ohne städtische Infrastruktur auf dem Wüstenboden dahin vegetieren. Karachi ist die größte Stadt der Sindhi, aber auch die größte Stadt der Baluchen wie die größte Stadt der Pakhtunen, und alle führen ihre bewaffneten Kämpfe innerhalb dieser Metropole aus. Vor allem ist Karachi Zentrum der Flüchtlinge, die sich seit den achtziger Jahren in einer politischen Partei mit zahlreichen Absplitterungen Karachi angeeignet haben. Der diktatorische Führer dieser MQM residiert in London und schickt deshalb seine Truppen per Handy oder e-mail in den Straßenkampf, wenn sich in irgend einem Stadtteil Gegner oder Abweichler zeigen. Die Partei hat auch mit dem Gedanken gespielt, eine Art Singapur an der Arabischen See zu gründen, wurde dann aber immer wieder für parlamentarische Mehrheiten in Islamabad benötigt und bestochen. Die Truppen der Großstadt finanzieren sich sonst durch den Schmuggel, insbesondere den Drogenschmuggel.
Die vierte Provinz, das Fünfstromland, ist mit mehr als 60% der Bevölkerung der wichtigste politische Faktor Pakistans. Der Staat kann nicht ohne oder gegen den Punjab regiert werden. Es ist auch erwähnenswert, daß sich Punjabi und Kashmiri kulturell sehr nahe stehen, und viele Städte des Punjab seit Generationen einen hohen Kashmiri-Anteil haben. Es ist also völlig unvorstellbar, dass irgendeine pakistanische Regierung an der Macht bleibt, die die Ansprüche auf das Tal von Srinagar aufgeben will.
Wie der Sindh ist auch Punjab durch die Kastengesellschaft geprägt, was die meisten Pakistani sicher nicht wahrhaben wollen, denn ihre Kasten haben keine religiöse Basis, und die vielen alltäglichen Einschränkungen der Kastenhindus gelten nicht für Muslime. Aber die ländliche Ordnung sieht dominierende Bauernkasten wie die Jat oder die Arain vor, und verschiedene Handwerkerkasten leisten Dienste, während die angeblichen Nachfahren des Propheten, die Seyed, als solche allgemeine Achtung genießen. Die früher so genannten Unberührbaren, tatsächlich die besitzlosen Landarbeiter, stellen zum guten Teil die Minderheit der pakistanischen Christen, die eine prekäre Rechtslage zu ertragen haben.
Die Großgrundbesitzer im westlichen Punjab waren niemals alter Adel sondern sind im 19. Jahrhundert als Günstlinge der Kolonialmacht privilegiert worden. Vieles trennt sie von den einheimischen Bauern, die immer schon ihr Land selbst bestellten und für alle Innovationen offen waren. Deren Klane dominieren das politische Geschehen der jeweiligen Distrikte, und sie geben auch in den rapide wachsenden Metropolen den Ton an. Diese Bauern stellen das Rückgrad der Streitkräfte.
Die beiden großen Parteien zeichnen sich nicht durch kontrastierende politische Inhalte aus, sondern sie sind wechselhafte Allianzen traditioneller Führer und ihrer Klienten. Vielleicht ist die Muslim League ein wenig traditionsgebundener und die People's Party etwas populistischer, aber die Differenz ist unbedeutend, so dass die Politiker auch problemlos die Seiten wechseln können.
Die bekannten Köpfe der Demokratie verdanken ihr Profil den Militärdiktaturen: Zulfikar Bhutto war eine Stütze Ayub Khans, und Tochter Benazir führt nur das Werk im Namen ihres Vaters fort. Nawaz Sharif, ein geschickter Kaufmann aus einfachsten Verhältnissen, verdiente sich als Klient des islamistischen Diktators Zia-ul-Haq Einfluß und Vermögen.
Jede Wahl ist immer in erster Linie eine Vermögenssache. Kandidat wird, wer dank seiner lokalen Stellung die Koffer der Parteiführung füllen und das Netzwerk der örtlichen Gangster finanzieren kann, die dann wiederum das Wahlvolk mit Geld und Waffen unter Druck setzen. Einmal gewählt, kann sich der Kandidat über öffentlichen Mittel refinanzieren.
All das ist kein Geheimnis und folgt dem Vorbild der Parteispitzen. Zu diesem Thema kurz ein Hinweis auf die neunziger Jahre, das Jahrzehnt der pakistanischen Demokratie. Einmal gelang es den beiden sich abwechselnden Regierungschefs, der unabhängigen Justiz endgültig den Gar auszumachen, und zum anderen verstanden sie es, das Land nachhaltig auszuplündern. Vater Bhutto hatte in den siebziger Jahren die Banken verstaatlicht, so dass sich in den Neunzigern die Minister der beiden konkurrierenden Parteien riesige zinslose Kredite per Dienstanweisung zuteilen lassen konnten, an deren Rückzahlung niemals gedacht war. Damit sei nur die einfachste der vielen Bereicherungschancen genannt.
Wichtig ist ferner, daß die gestohlenen Milliarden nicht im Lande selbst investiert wurden, sondern am Golf und auf den sicheren westlichen Finanzplätzen. Die großen Parteien wurden also weder durch Demokraten noch durch integere Persönlichkeiten geführt. Sie haben vielmehr die Gewaltenteilung systematisch abgeschafft und das Land durch reine Raffsucht in den Bankrott gelenkt. Nur unter diesen Umständen ist der letzte Militärputsch zu verstehen.
Das neue Regime, das deutliche kemalistische Züge trägt, setzt primär auf demokratische Beteiligung auf der kommunalen Ebene, schon um den Einfluss der alten Politiker-Garde auszuschalten. Ab Herbst werden auch gewählte Parlamentarier und Minister zugelassen, die sich aber sehr viel nachhaltiger als zuvor an die Richtlinien des Militär-Präsidenten halten müssen.
Dieser Präsident kann zu keinem der ethnischen oder konfessionellen Lager gerechnet werden. Er hat kein Vermögen und keinen einflussreichen Klan, sondern er gewinnt sein Profil allein aus der Armee und aus der Effizienz, für die die Streitkräfte nach wie vor stehen. Gerade deshalb will seine Politik vor allen anderen Maßnahmen zunächst die vielen Banden und Privatarmeen ausschalten, die in dem demokratischen Jahrzehnt unter religiösen Vorzeichen in den Slums der Metropolen wie die Pilze aus dem Boden schossen.
Der pakistanische Staat ist schwach! Im Nordwesten liegt Afghanistan, im Nordosten Kaschmir, im Landesinneren kann sich jeder leicht mit modernen Feuerwaffen ausrüsten. Es geht deshalb darum, das Gewaltmonopol abzusichern und eine Art Konkursverwaltung zuzulassen, die der Wirtschaft einen neuen Spielraum erarbeitet.
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