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15. April 2004. Analysen: Politik & Recht - Indien Gujarat und die Menschenrechte

Zwei Jahre danach

Am 27. Februar 2002 brach im indischen Gujarat eine Gewaltwelle aus, die in Indien ihres gleichen suchte. Mindestens 2.000 Menschen, vor allem Muslime, starben während der ersten beiden Monate bei den schlimmsten Übergriffen seit der Unabhängigkeit. Viele Menschenrechtsorganisationen, so auch amnesty international, bezeichneten diese Übergriffe aufgrund ihres systematischen Charakters als Pogrom.

Als Initiator und Drahtzieher der Massaker selbst wurde schon früh die hindunationalistische Organisation des Vishva Hindu Parishad (VHP, Weltrat der Hindus) identifiziert. Darüber hinaus wurde bekannt, dass staatliche Organe wie die Polizei sich aktiv an den Übergriffen beteiligt und teilweise den Mob angeführt hatten. Zwei Jahre danach soll also zurückgeblickt und gefragt werden, was seit dieser Zeit geschehen ist und ob damals begangenes Unrecht behoben werden konnte.

Leider ist das Ergebnis dieser Jahre als negativ zu bezeichnen. Eher wurde in dieser Zeit die Gewalt des Frühjahrs 2002 für richtig erklärt, als dass irgendetwas zu ihrer Wiedergutmachung getan wurde. Menschen werden bis heute systematisch Rechte versagt und sind Verfolgungen ausgesetzt. Und dies nur aus dem Grund, dass sie einer bestimmten Religion angehören.

Bereits mit den Landtagswahlen in Gujarat vom Dezember 2002 erfuhren die Bemühungen von Menschenrechtlern und Demokraten um Wiedergutmachung einen schweren Rückschlag. Die mit dem VHP ideologisch und teilweise personell verbundene Bharatiya Janata Party (BJP) war aus dem Urnengang siegreich hervorgegangen. Bedeutsam war hierbei, dass die Gewaltwelle des Frühjahrs in der Wahlkampagne dieser Partei einen wichtige Rolle gespielt hatte. Der zur Wiederwahl stehende Chefminister Narendra Modi hatte die gegen Muslime gerichtete Gewaltwelle leidlich ausgenutzt und sie als das logische Ergebnis des "gemeinsamen Kampfes gegen den muslimischen und pakistanischen Terrorismus" bezeichnet. Damit war der Kurs seiner Regierung bestätigt: Ihr Mandat beruhte auf Mord und Gewalt.

Schon allein aus diesem Umstand folgte, dass der größte Teil der Täter der Pogrome nicht bestraft wurden. Die Behörden hatten kein Interesse daran, weder die Hergänge der Ausschreitungen aufzuklären, noch die Mörder von damals zu verurteilen. Die meisten gerichtlichen Verfahren sind statt dessen "aus Mangel an Beweisen" eingestellt worden. Tragisch war in diesem Zusammenhang, dass die überlebenden Opfer und Zeugen systematisch eingeschüchtert wurden und fortgesetztem Druck und Furcht vor weiterer Verfolgung ausgesetzt waren. Die Neue Zürcher Zeitung sah sich daher sogar veranlaßt, die Justiz Indiens einem "Spießrutenlauf" gleichzusetzen.

Der Best-Bakery-Fall

Besonders deutlich zeigte sich dies im Fall von Zahira Sheikh und ihren Begleitern. Sie waren am 1. März 2002 Zeugen der Ermordung von 14 Personen in der Backstube "Best Bakery" in Vadodara (Baroda). In ersten Befragungen durch die Polizei, die Nationale Menschenrechtskommission und Menschenrechtsorganisationen sagten sie aus, dass ein Mob von etwa 500 Personen mit Benzinkanistern die Bäckerei angegriffen habe. Während der gerichtlichen Verhandlung am 17. Mai 2003 hatten sie diese Aussagen wieder zurückgenommen, was schließlich zur Freilassung der Beschuldigten am 27. Juni führte. Zahira Sheikh, die die gesamte Zeit keinen polizeilichen Schutz hatte, beklagte, Mordandrohungen erhalten zu haben. Sie sagte aus, dass lokale Politiker, darunter der Abgeordnete der BJP, Madhu Srivastava, sie unter Druck gesetzt hätten. Schließlich fand sie Anfang Juli 2003 Zuflucht bei Menschenrechtlern in Mumbai (Bombay). Diese bemühen sich seit dem Sommer um die Untersuchung der Rolle von Politikern bei der Einflußnahme auf die Zeugen und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die freigelassenen Beschuldigten. Eine der engagiertesten Aktivistinnen hierbei ist die Herausgeberin der Zeitung Communalism Combat, Teesta Setalvad. Bezeichnend für die Situation in Gujarat ist, dass auch sie in der Folgezeit Morddrohungen erhielt.

Mittlerweile hat das Oberste Gericht angeordnet, den Fall neu aufzurollen. Am 12. April 2004 befanden die Richter in Delhi nach eingehender Prüfung, dass es scheine, "als ob der Staatsanwalt sich eher wie ein Verteidiger benommen habe anstatt seiner Pflicht gerecht zu werden, dem Gericht die Wahrheit zu präsentieren". Weiter urteilten sie, dass das verantwortliche Gericht sich wie ein "schweigender Zuschauer" verhalten und eine Manipulation der Fakten geduldet habe. Nun muss der Fall neu untersucht und verhandelt werden.

Doch das Schicksal von Zahir Sheikh ist nur eines unter vielen. Am 3. März 2004 berichtete The Hindu von Naseem Bano, einer 31jährigen Frau, die mithilfe von Frauenorganisationen eine Strafanzeige gegen die Mörder ihrer Familie gestellt hat. Auch sie sagt aus, Drohungen erhalten zu haben, schreckt allerdings nicht davor zurück, Gerechtigkeit zu fordern.

Die Situation ist, wie der Filmemacher Mukesh Sharma zeigt, denkbar schlecht. In seinem bei den Berliner Filmfestspielen prämierten Film "Final Solution" wird eine zu tiefst gespaltene Gesellschaft gezeigt. Nach den Massakern sind viele vormals gemischte Dörfer allein von Hindus bewohnt. In Städten leben Muslime separat durch hohe Mauern von der restlichen Bevölkerung getrennt. Auch zeigt Sharmas Film Mittelstands-Hindus, die sich in der Handhabung von Waffen üben und die allgegenwärtig die Ausschreitungen vor zwei Jahren rechtfertigen. Stimmen der Vernunft sind kaum zu hören.

Die Straflosigkeit wird nicht nur für Indien langfristige Konsequenzen haben, sondern fordert auch vom Ausland Verantwortung. Wichtig ist hierbei, sich der politischen Zusammenhänge innerhalb Indiens und des Platzes von Gujarat darin bewußt zu sein, und Gujarat nicht nur als ein Problem unter vielen anzusehen. Gujarat hat im Gesamtsystem der Regierung Indiens für die BJP eine strategisch hohe Bedeutung. Die politische Entwicklung hier ist natürlich eingebunden in die Gesamtentwicklung ihrer Regierungsmacht in der Hauptstadt. Es sei daran erinnert, dass Chefminister Narendra Modi von der Parteizentrale in Delhi nach Gujarat entsandt wurde, um die Partei in dem Unionsstaat neu zu ordnen. Während und nach den Pogromen beeilte sich die gesamte Parteiführung, Narendra Modi ihrer Unterstützung zu versichern.

Es bleibt zu hoffen, dass die Verleihung des Menschenrechtspreises der Stadt Nürnberg an Teesta Setalvad keine Alibifunktion der deutschen Politik bleibt, sondern dass den Worten von Ministerpräsident Stoiber und Bundesministerin Wieczorek-Zeul zur Festfeier auch Taten folgen. Eine Konsequenz wäre, Indien nicht vorrangig unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern als einen Staat, der Menschenrechten wenig Beachtung zukommen lässt. Der zunehmend verbreiteten Auffassung "nicht jeder Muslim ist ein Terrorist, doch jeder Terrorist ist ein Muslim" (wie es ein VHP-Führer in "Final Solution" formuliert) ist entgegenzuhalten, dass höchste Regierungsposten von Personen wie Lal Krishna Advani, Uma Bharti und Murli Manohar Joshi bekleidet werden, die an vorderster Front an der Kampagne zur Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya beteiligt waren.

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