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14. März 2003. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Das indische "Software-Wunder"

Als im März 2000 eine Greencard-Regelung für Deutschland eingeführt wurde, die es unter anderem indischen Computer-Experten ermöglichen sollte, in Deutschland zu arbeiten, erregte dies - nicht zuletzt durch die umfangreiche Berichterstattung in den Medien - sehr großes Aufsehen. Obwohl nur ca. 25% der Greencard-Kandidaten Inder waren, prägten die Gegner dieses Programms den Slogan "Kinder statt Inder". An dieser Disproportionalität wird ersichtlich, welch große Aufmerksamkeit die Tatsache erregte, daß ausgerechnet aus einem Land, in dem ca. 50% aller Erwachsenen Analphabeten sind und das hierzulande bisher eher mit unvorstellbarer Armut in Verbindung gebracht wurde, der Nachwuchs kommen sollte, den die deutsche IT-Branche so dringend benötigte. Scheinbar über Nacht schien sich das Entwicklungsland Indien zu einem Giganten der Software-Industrie entwickelt zu haben.

Wenn der Eindruck, Indien sei ein "Global Player" auf dem internationalen Software-Markt, bei derzeit 1-2% Weltmarktanteil zwar nicht aufrechterhalten werden kann, so ist die Entwicklung der indischen Software-Branche in den letzten Jahren dennoch eine beeindruckende Erfolgsstory: Die Zuwachsraten betrugen zwischen 1995 und 2000 50-60%. Angesichts der schlechten Weltkonjunktur hat sich seit 2001 das Wachstum auf etwa 30% pro Jahr verlangsamt. Die ehemals beschauliche Verwaltungsmetropole Bangalore wurde zu einem agilen Zentrum der Software-Industrie. Der reichste Einwohner Indiens ist nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes der Software-Unternehmer Azim Premji, Chef der Wipro Corporation. Die Software-Firma Infosys, die 1981 mit 6.000 US$ Einlagen gegründet wurde, ist zu einem milliardenschweren Unternehmen avanciert, dessen Aktien an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq gehandelt werden.

Die Gründungsjahre

Die Anfänge der indischen Software-Industrie waren äußerst bescheiden. Frühe Hersteller von Software waren Tata Consultancy Services, ein 1968 gegründeter Ableger des bedeutetenden indischen Schwerindustrie-Konzerns Tata, und die 1976 entstandene Firma Pentafour Software. Sie spielten gesamtwirtschaftlich gesehen in Indien lediglich eine marginale Rolle. Außerdem sahen sie sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß IBM den indischen Markt mit minderwertigen elektronischen Massenwaren überschwemmte, die der amerkanische Wirtschaftsgigant anderswo nicht mehr absetzen konnte. Als IBM 1977 von der indischen Regierung aus politischen Gründen des Landes verwiesen wurde, entstand eine Marktlücke, die die Entwicklung der Computerbranche im Lande katalysierte und neue Firmengründung zur Folge hatte: 1978 enstanden Tata Infotech und Patni Computer. 1981 wurden NIIT und die beiden heute bedeutetensten Softwarefirmen Indiens, Wipro Corporation und Infosys Technologies, gegründet. Daneben entstand eine Reihe kleinerer Unternehmen.

Bis in die Mitte der achtziger Jahre betrieb die indische Regierung auch hinsichtlich der Software-Branche eine streng regulative und protektionistische Politik. Die Einfuhr von Computertechnologie musste vom Department of Electronics in einem aufwendigen und zeitraubenden Verfahren genehmigt werden. Dazu kamen Einfuhrzölle von 100-150% auf alle Importe. Diese Maßnahmen erschwerten es den indischen Software-Firmen, technisch auf dem neuesten Stand zu sein. Dann erkannte die indische Regierung die entscheidende Rolle der Computertechnologie und leitete erste Liberalisierungsmaßnahmen ein. Die neue Politik erleichterte und förderte die Gründung neuer Software-Unternehmen und Schaffung neuer Produktlinien. Produktionsmittel konnten nun zollfrei und ohne Genehmigungspflicht eingeführt werden. Exportprofite in der Software-Industrie müssen seitdem nicht mehr versteuert werden. Die Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen wurde freigegeben. 1987 wurden die Kapazitätsbeschränkungen der Firmen aufgehoben. Die 1985 von Rajiv Gandhi ermöglichte erfolgreiche Gründung einer Tochterfirma von Texas Instruments in Bangalore ermutigte europäische und US-amerikanische Fimen, ebenfalls einen Teil ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit nach Indien zu verlagern. Dies war nur möglich, weil durch gezielte Förderung der Regierung genügend gut ausgebildete Absolventen technischer Institute zur Verfügung standen, die die englische Sprache beherrschten. Hinzu kam ab 1990 die Einrichtung von sogenannten "Software Technology Parks", die mit der für Software-Unternehmen notwendigen Infrastruktur ausgestattet sind.

Der Boom der neunziger Jahre

Der endgültige Durchbruch für die indische Software-Industrie kam mit der 1991 von der indischen Regierung unter Narasimha Rao auf den Weg gebrachten Liberalisierung der indischen Wirtschaft, die gerade in der IT-Branche sehr konsequent umgesetzt wurde. Jetzt waren der uneingeschränkte Import von Hardware und Software möglich. Den Firmen wurde freigestellt, aus welchen Quellen sie ihren Energiebedarf decken wollten. Dies ermöglichte es den Software-Unternehmen, ihren eigenen Strom herzustellen, was sie unabhängig von dem unzuverlässigen staatlichen Stromnetz machte. Die Wirtschaftsreformen bedeuteten für ausländische Firmen ungehinderten Zugang zum indischen Markt und die uneingeschränkte Möglichkeit von Direktinvestitionen. Die günstigen Bedingungen, die die indische Regierung für die Software-Industrie geschaffen hatte - nicht zuletzt die Möglichkeit, ausreichend gut ausgebildetes Fachpersonal bei einem vergleichsweise günstigen Lohnniveau rekrutieren zu können - bewirkte, dass sich alle großen internationalen Software-Firmen in Indien ansiedelten. Davon profitierten auch indische Firmen, da die internationalen Konzerne immer wieder einzelne Projekte an diese vergaben, die dadurch Zugang zum Weltmarkt erhielten.

Inzwischen sind alle internationalen IT-Konzerne in Indien vertreten. Hewlett Packard z.B. begann 1989 in Bangalore mit 10 Angestellten und beschäftigte 2002 in Indien 1.100 Mitarbeiter. Das Unternehmen betreibt umfangreiches Outsourcing mit kleinen und mittleren indischen Software-Firmen, die zu diesem Zweck auch mit HP-Technologie ausgestattet werden und deren Mitarbeiter von HP geschult werden. Dadurch hat Hewlett Packard sehr viel zur Entstehung einheimischer Software-Firmen in Indien beigetragen. Daneben unterstützt das Unternehmen indische Colleges und Universitäten bei der Ausbildung von Fachkräften. Microsoft unterhält mehrere Software-Entwicklungszentren in Indien und investiert sehr aktiv in die Vermittlung von IT-Kenntnissen, die Microsoft-Technologie erfordern. Aber auch indische Großkonzerne wie Tata, Dhalmia und Birla haben eigene Software-Firmen gegründet, z. T. als Joint Ventures mit internationlen Unternehmen wie z. B. Tata IBM Limited.

Wenngleich aufgrund der derzeitigen weltweiten Wirtschaftsflaute vor allem kleinere Unternehmen unter den Einbußen beim USA-Geschäft leiden, so ist die indische Software-Industrie mit derzeit ca. 30% pro Jahr insgesamt gesehen noch immer eine Boombranche. Im Fiskaljahr 2001 machten Software-Produkte 16% des indischen Gesamtexports aus, wobei der Anteil des Software-Sektors am BIP lediglich 2% beträgt. Der große Vorteil der indischen IT-Branche ist weiterhin der große Pool an ausgebildeten Fachkräften und die geringen Arbeitskosten. Diese beiden Faktoren machen den Standort Indien trotz des eindeutigen Nachteils der schlechten Infrastruktur attraktiv. Denn die meisten IT-Firmen verfügen entweder über eigene Satellitenkommunikationsanlagen oder benutzen die Einrichtungen anderer Firmen mit. Die unzuverlässige Stromversorgung wird oft durch die Selbsterzeugung von Strom ersetzt. Zudem existieren in den von der Regierung eingerichteten "Software Technology Parks" adäquate Infrastrukturbedingungen.

Die hinsichtlich der IT-Branche praktizierte "Hände-Weg-Politik" der indischen Regierung hat sich gemeinsam mit gezielter Investition in Bildung und der zumindest teilweisen Schaffung einer geeigneten Infrastruktur ausgezahlt. Mittlerweile werden die Kosten für die Ausbildung von Fachkräften von Unternehmen wie HP und Microsoft mitgetragen. Dazu kommt das vergleichsweise geringe Lohnniveau der hervorragend ausgebildeten Fachkräfte, die zudem noch die englische Sprache beherrschen. Insgesamt gesehen sind die Zukunftsaussichten für Software-Produzenten in Indien gut. Trotz großangelegter Investitionen in IT-Ausbildung könnte der sogenannte "brain drain", d. h. die Abwanderung von ca. 100.000 gut ausgebildeten Fachkräften pro Jahr ein Problem werden. Schon jetzt kann das Angebot an IT-Fachkräften mit der stark gestiegenen Nachfrage kaum mithalten, wodurch die Lohnkosten im indischen Software-Sektor permanent ansteigen. Falls die indische Regierung diese Entwicklung gemeinsam mit den in Indien ansässigen Software-Unternehmen in den Griff bekommt, wird die indische IT-Branche noch lange erfolgreich sein.

Quellen

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