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"Die Bedrohung trifft uns alle, wir müssen die Verantwortung teilen", sagte der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari Anfang Mai bei seinem Besuch in den USA. Während er in Washington mit seinen Amtskollegen aus den USA und Afghanistan zusammentraf, erhielt daheim das pakistanische Militär den Marschbefehl. Die Armee soll an die Jihadisten verlorenes Terrain zurückerobern. Es folgte ein Angriff, der in seiner Intensität bisherige, oft eher halbherzige Aktionen weit übertraf. Zehntausende Soldaten rücken seitdem vor, unterstützt von schwerem Kriegsgerät wie Panzerartillerie und Kampfhubschraubern. Unterstützt werden sie dabei von der Luftwaffe, die ihnen den Weg freibombt.
Die Offensive konzentriert sich auf das langgestreckte Swat-Tal und die benachbarten Distrikte. In dieser Region war im Februar eine Art "Friedensvertrag" vereinbart worden, bei dem die Jihadisten gegen das Zugeständnis der Einführung der Sharia-Rechtsprechung ihrer Entwaffnung zustimmten. Präsident Zardari hatte später diesem umstrittenen Abkommen persönlich zugestimmt. In den folgenden Wochen zeigte sich, dass die Jihadisten sich durch das Zurückweichen des Staates eher zu weiteren Aktionen ermutigt fühlten. Weder ließen sie die versprochene Wiederherstellung der staatlichen Ordnung in ihrem Gebiet zu, noch gaben sie ihre Waffen ab.
Als die Jihadisten sahen, dass Politiker und Militär sie weiterhin gewähren ließen, rückten sie in den Nachbardistrikt Buner vor, bis sie nur noch gut 80 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt waren. Nun erst stießen sie seitens des Militärs sowie der Sicherheitsdienste auf Widerstand und räumten Buner wieder. Derweil festigten sie, ausgehend von Mingora, der größten Stadt im Swat-Distrikt, ihre Macht, zwangen der Bevölkerung ihre gnadenlosen Regeln auf und rekrutierten neue Kämpfer. Beide Seiten schienen danach erst einmal abwarten zu wollen.
Das Verhalten der Jihadisten kam diesmal der Regierung zugute. Zunehmend wird die voranschreitende "Talibanisierung" Pakistans auch innerhalb des Landes als Gefahr wahrgenommen. Zu lange hatte man die bewaffneten Islamisten geduldet und instrumentalisiert, teilweise auch, um machtpolitische Interessen in Afghanistan oder Indien durchzusetzen. Die Gotteskrieger sind nicht mehr nur im "Wilden Westen", den Regionen nahe der afghanischen Grenze, aktiv, sondern mitten im Land. Den Verantwortlichen im politischen Etablishements und den Sicherheitsdiensten wird das Ganze unheimlich – und zu kostspielig, denn im April begannen die Jihadisten, lokale Bankfilialen und Firmen zu plündern.
Obwohl Verschwörungstheorien noch immer beliebt sind und häufig die USA für den islamistischen Terror verantwortlich gemacht werden, wächst offenbar die Erkenntnis, dass die bisherige Beschwichtigungspolitik nicht fruchtet. In der pakistanischen Presse finden sich zunehmend selbstkritische Töne. So bekennt Tariq Rahman, Direktor des Nationalinstituts für Pakistan-Studien der Quaid-I-Azam-Universität, in einem Leitartikel der Tageszeitung Dawn, dass "wir und nicht das Ausland unsere eigenen Frankensteins kreiert haben".
Anders als in der Vergangenheit sollen die Jihadisten nun nicht nur zurückgedrängt, sondern möglichst viele von ihnen auch getötet werden. Um Rückzugswege abzuschneiden, werden Kommandos per Hubschrauber auf die Bergrücken hinter die Frontlinie gebracht. Die Armee geht von 5.000 in der Region eingeschlossenen Kämpfern aus, von denen in der ersten Woche rund 800 getötet worden seien.
Über die Zahl ziviler Opfer schweigt sich das Militär aus. Sie dürfte hoch sein, zumal überwiegend in Städten und Dörfern gekämpft wird. Selbst wenn die Armee sich bemüht, wird es schwer fallen, Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden, da im Kampfgebiet die meisten Männer einen Bart und eine Kalaschnikow tragen. Etliche Einwohner waren vor Beginn der Gefechte geflohen, die Mehrheit steckte danach erstmal fest. Im Laufe der vergangenen Woche setzte eine Massenflucht ein, bis zu eine Million Menschen versuchen, aus dem Konfliktgebiet zu entkommen.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen korrigiert seitdem täglich seine Bedarfsberechnungen nach oben. Hilfsorganisationen haben jedoch erhebliche Probleme, die Notleidenden zu erreichen, da die Lage sehr unübersichtlich ist. Sie gehen davon aus, dass die Hälfte der Bevölkerung noch im Kriegsgebiet ausharrt, wohin derzeit jedoch keinerlei Hilfsgüter gelangen. "Der Bedarf übersteigt die Vorräte in der Region bei Weitem", warnt UN-Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres.
In Telefoninterviews mit der pakistanischen Presse berichten in der Kampfzone Verbliebene über ein immenses Ausmaß der Gewalt auf beiden Seiten. Dutzende Menschen seien allein bei den wiederkehrenden, häufig wenig zielgerichteten Bombardements und Kampfhubschrauberangriffen auf Stadtteile Mingoras gestorben. Vielerorts hätten die Jihadisten die Straßen und Häuser vermint und missbrauchten die Zivilbevölkerung bewusst als Schutzschild. Die Interviewten riskieren ihr Leben, da sie den Taliban als Informanten des Feindes gelten, die zur Abschreckung geköpft werden sollten. Die Flüchtlinge berichten von Leichen auf den Straßen, wichtige Brücken seien zerstört und Flüchtlingskonvois beschossen worden.
Inzwischen spricht selbst die pakistanische Regierung von einer "humanitären Katastrophe". Premierminister Yousaf Raza Gilani gibt sich zwar siegessicher, warnt allerdings vor der Gefahr, die öffentliche Unterstützung zu verlieren. Am Dienstag vergangener Woche bat Präsident Zardari bei einem Treffen mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in New York um weltweite Unterstützung für die Notleidenden. Bisher halten sich die meisten Geberländer zurück. Das Auswärtige Amt in Berlin stellte dem Internationalem Roten Kreuz und deutschen Hilfsorganisationen 1,6 Millionen Euro für Sofortmaßnahmen zur Verfügung.
Die Menschen in der Swat-Region werden auch nach dem Ende der Kampfhandlungen noch lange auf Hilfe angewiesen sein, da zumindest für diese Saison die Ernte ausfällt, Viehbestände dezimiert wurden und die Infrastruktur teilweise zerstört ist. Landesweit sollen über 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht sein, die größte Anzahl seit der indisch-pakistanischen Teilung im Jahr 1947.
Derweil herrscht im Palament eine selten erlebte politische Einigkeit über das militärische Vorgehen. Am Montag vergangener Woche stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit der Militäroffensive mit dem vieldeutigen Namen "Der rechtschaffene Weg" zu, darunter auch die oppositionelle Muslimliga des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif. Nur die Abgeordneten der islamistischen Jamiat-e-Ulema Islami widersetzten sich.
Es ist zu befürchten, dass die Jihadisten sich nicht einschüchtern lassen und stattdessen andernorts ihre Aktivitäten intensivieren. Zum wiederholten Male griffen sie ein Nato-Versorgungsterminal am Stadtrand von Peshawar an. Auch spektakuläre Terrorakte wie der Anschlag auf das Marriott-Hotel in Islamabad, bei dem im September 80 Menschen starben und über 250 verletzt wurden, sind leider nicht unwahrscheinlich.
Andere islamistische Gruppen nutzen das Flüchtlingsdrama zur Profilierung. Die Stiftung Falah-i-Insaniat, Nachfolgerin der Wohltätigkeitsorganisation Jamaat-ud-Dawa, aus deren Umfeld Attentäter der Anschläge in Mumbai stammen sollen, zeigte wie bereits nach dem Erdbeben in Kaschmir 2005 ihre organisatorischen Fähigkeiten und errichtete in kürzester Zeit drei Flüchtlingslager.
Im südwestlich der Swat-Region gelegenen Malakand-Distrikt hat die Armee eine zweite Front eröffnet. Von dort aus will sie in Richtung der halbautonomen Stammesgebiete an der afghanischen Grenze vorrücken. Die Militärführung vermutet, dass die dortigen islamistischen Milizen sich infolge der Offensiven enger verbünden werden.
Auch die Gegenseite rückt gemäß der von geopolitischen Strategen ausgerufenen "Afpak"-Devise enger zusammen. Dieser Neologismus soll verdeutlichen, dass die Entwicklungen in Afghanistan mit denen in Pakistan eng verbunden sind. Einem Bericht der New York Times zufolge hat die US-Regierung zwar die Forderung der pakistanischen Regierung abgelehnt, ihr mit Raketen bestückte Drohnen zu überlassen, aber eine engere Zusammenarbeit bei deren Einsatz angeboten. Bereits im März hätten gemeinsame Tests im Grenzgebiet stattgefunden, bei denen die Informationen an ein lokales Koordinationszentrum übermittelt worden seien, in dem US-Amerikaner, Pakistanis und Afghanen zusammenarbeiten.
Pakistans Regierung und Militär werden vor großen Problemen stehen, falls die Offensiven keine schnellen Erfolge bringen. Wenn die Angriffe ins Stocken geraten und die Flüchtlingsproblematik sich weiter verschlimmert, könnte die öffentliche Unterstützung schnell enden. Dann dürften auch die Kämpfe zwischen den Parteien, die Partikularinteressen diverser Fraktionen der Oligarchie vertreten, wieder beginnen. Eine langfristige Befriedung der zurückeroberten Gebiete kann ohne grundlegende Reformen nicht gelingen. Die Jihadisten sind noch lange nicht geschlagen und haben Zeit.
Der Beitrag erschien im Original am 20. Mai 2009 in der Wochenzeitung Jungle World Nr. 21/2009.
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