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15. September 2003. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Weltweit London-Southall

Ein Spaziergang durch Southall

London mag zwar bekannt sein als die Metropole mit den meisten indischstämmigen Menschen in Europa - vielleicht leben hier sogar die meisten Non-Resident Indians [1] weltweit. An fast jeder Ecke gibt es ein indisches Restaurant und in jeder Straße ein paar indische Gemüseläden, die oftmals rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche geöffnet haben. Kein Bus fährt ohne indische Passagiere durch die Weltmetropole. Keine Seitenstraße ohne indische Passanten. Dies ist ein Teil des Eindrucks, den jeder Londontourist bekommt.

Allerdings kennen eigentlich nur Insider das wahre Indien in London - London-Southall. Es ist hier aber nötig, ein bisschen zu differenzieren: In Southall befindet sich nicht unbedingt das Indien Londons, sondern eher ein "Little Punjab". Bemerkenswert ist es, dass sich die Regionen Indiens und Südasiens anscheinend auch im Ausland in ihrer Identität herausgebildet und bewahrt haben. So befindet sich z.B. "Little Gujarat" in Wembley und "Little Pakistan" in Ealing, wobei vielleicht auch hier weiter unterschieden werden sollte. Es ist durchaus möglich, dass sich auch "Little Pakistan" in ein "Little Beluchistan" oder ein "Little Sindh" unterteilt. Dies herauszufinden wäre eine interessante Aufgabe.

Unweit vom Flughafen Heathrow befindet sich diese Kommune, in denen "wahre Briten" selbst "Fremde im eigenen Land" sind. Schon das Stationsschild am Bahnhof ist bilingual in Englisch und Punjabi ausgeschildert. Bereits von hier sieht man nach dem Aussteigen die Gudwara, in der sich die Sikhs Londons regelmäßig zum Gebet und Langhar (gemeinsames Essen nach dem Gottesdienst) treffen. Auf die Frage nach dem Stadtzentum Southalls bekam ich nur die Antwort: "There is nothing like a Downtown Southall! It is rather a boring place, but our home". Also folge ich den Schildern zum "Broadway". Und siehe da: je näher man dieser Hauptstraße kommt, desto belebter wird die Gegend. Vorbei am Kinopalast Himalaya mit den bunten Bollywoodplakaten, an den nach Curry riechenden Kebabständen, an der Halal-Metzgerei, am All-India Foodstore. Jetzt ist es wirklich eine Rarität, "weiße Briten" zu sehen, denn man befindet sich mitten im Herz Southalls, dem ultimativen Zuhause vieler Punjabis.

Es werden Saris am Straßenrand verkauft, die Preise für Okra sinken, je weiter man in die Stadt vordringt; Prakash Jewellers versucht, mir den neuesten Schmuck für meine nichtvorhandene Frau anzudrehen. Medikamente bezieht man nicht von Boots, sondern von Ali-Chem Pharmacy. Flugtickets werden anscheinend nur für Air-India und ausschließlich nach Indien verkauft. Punjabi Frauen samt Enkelinnen schlendern mit Saris und Chuples (Schlappen) an einem vorbei, mit einem Ladhu in der Hand. Die Cabrios brausen mit der neuesten Bhangra-Musik vorbei. Auch auf der Straße herrschen eher indische Verkehrsregeln. Stoßstange an Stoßstange wird gefahren und dabei wild mit Händen gestikuliert.

Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Generation. Während sich die erste Generation vorwiegend traditionell kleidet, unterscheidet sich die jüngere häufig durch ihren Kleidungsstil. Manchmal modern westlich, aber auch ein neuer, sehr origineller Stil - ein Mix zwischen traditionell-indisch und westlich, "Made in England" - hat sich herausgebildet. Dennoch scheinen diese beiden unterschiedlichen "Subkulturen" gut miteinander zu harmonisieren. Die zweite Generation von Indern im Ausland, der auch der Autor angehört, hat inzwischen ihre eigene Identität und eigene Kultur herausgebildet, ohne dabei die Kultur der Eltern zu verwerfen. Eine interkulturelle Verschmelzung hat stattgefunden.

Unterschiedlich ist auch die Artikulation der britischen Sprache: Hört man bei der ersten Generation doch sehr klar den Retroflex im Englischen heraus (wobei Punjabi die Hauptverkehrssprache Southalls bleibt), spricht die zweite Generation mitunter Englisch mit stark britischem Akzent. Eigentlich verwundert dies, zumal die Kinder eher in einer indischen Umgebung aufgewachsen sind. Ein weiterer Indikator, dass hier von Ghettoisierung nicht die geringste Rede sein.

Man sieht inzwischen schon die Kinder der zweiten Generation (seltsamerweise konnte ich keine Mischehe von zweiter Generation mit "weißen Britinnen und Briten" entdecken - diese haben sich vielleicht eher aus Southall entfernt). Jetzt gilt es abzuwarten, wie sich diese dritte Generation in die Kultur Southalls einfinden wird. Es werden sich sicherlich neue Werte entwickeln, die dazu beitragen, dass eine ganz neue Kultur in Anlehnung an das Vorhandene entsteht.

Erwähnt werden muss noch, dass man es hier offensichtlich mit einem besonderen Phänomen zu tun hat: Es ist schwer vorzustellen, dass sich eine Kommune wie Southall in anderen Ländern Europas entwickelt. Erfreulich ist, dass in diesem Zusammenhang keine Wörter wie "Überfremdung, Ausländerkriminalität und Ghetto" fallen. England hat anscheinend seine gemeinsame Geschichte mit den ehemaligen Kolonien akzeptiert, so dass Bürger, die aus denjenigen Ländern stammen, nichtsdestotrotz auch als Briten bezeichnet werden. Die einmalige Kultur Southalls ist ein integraler Bestandteil Englands geworden.

Anmerkung

[1] Non Resident Indians ("NRI's) steht für Inder, die im Ausland leben, umfasst aber auch Inder, die inzwischen eine fremde Staatsangehörigkeit angenommen haben. Im Vergleich zur "Person of Indian Origin" (POI) handelt es sich bei NRI's um Leute indischen Ursprungs nach 1939NRI's haben mehr Rechte als POI's. Siehe hierzu u.a. Lall, M. C. (2001). India's missed opportunity : India's relationship with the non-resident Indians. Aldershot, Ashgate.

Quellen

  • Ali, M. (2003). Brick lane : a novel. New York, Scribner.
  • Smith, Z. (2000). White teeth : a novel. New York, Random House.
    [Auf Deutsch: ders., (2002). Zähne zeigen. München, Drömer & Knaur.]
  • Lall, M. C. (2001). India's missed opportunity : India's relationship with the non-resident Indians. Aldershot, Ashgate

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