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Nur vordergründig eine regionale Auseinandersetzung, ist der Kaschmir-Konflikt insofern einzigartig, da Pakistan bereits mehrfach Indien den Einsatz von Nuklearwaffen angedroht hat – auch für den Fall eines massiven konventionellen Angriffs von Seiten Indiens. Über fünf Jahrzehnte hinweg hat sich der Konflikt zu einem festen Bestandteil des jeweiligen nationalen und im Falle Indiens demokratischen Selbstverständnisses und politischen Konsenses verwandelt.
Indien stützt sein demokratisches Selbstverständnis auf die These der einen, der säkularen Nation. Der Bundesstaat Jammu und Kaschmir ist der einzige mit einer Muslimmehrheit und untermauert damit formal den Anspruch Indiens auf eine Überwindung des Hindu-Muslim-Antagonismus. Hinzu kommt, dass Congress- wie Nicht-Congress-Regierungen den Anfang der 50er Jahre Kaschmir zugestandenen Sonderstatus weitgehend aufgehoben und den Bundesstaat allen anderen weitgehend gleichgestellt haben. Autonomiekonzessionen an Kaschmir drohen deshalb nach Auffassung indischer Nationalisten, vergleichbare Forderungen bei anderen Bundesstaaten auszulösen. Eine begründete oder vorgeschobene Angst vor einer "Balkanisierung" dieses Vielvölkerstaates steht damit inzwischen Autonomiekonzessionen im Wege.
Pakistan hingegen steht nach wie vor auf dem Standpunkt seines Staatsgründers Mohammed Ali Jinnah, demzufolge es auf dem Subkontinent zwei Nationen, eine Muslim-Nation und eine Hindu-Nation gäbe. Aus historischen, kulturellen, ökonomischen und "infrastrukturellen" Gründen hatte und hat Pakistan, jener Staat für die Muslime des Subkontinents, das Recht, diese Muslim-Mehrheitsprovinz einzufordern. Der fragwürdige Anschluss des Hochtals an Indien und drei direkt oder indirekt um Kaschmir geführter Kriege haben auf der Seite Pakistans einen Komplex an Ressentiments, Misstrauen und Verfolgungsängsten entstehen lassen, der das ganze Staatsverständnis durchdringt, zur permanenten Rechtfertigung des starken, des Militärstaates beiträgt und inzwischen, trotz dreier verlorener Kriege, die raison d’etre des pakistanischen Militärs, dieses Staats im Staate, konstituiert. (A. Jalal 1999: 49-93)
Die Zeitdauer und Brisanz des Konfliktes legen einen Vergleich mit dem Israel-Konflikt nahe. Ein solcher Vergleich muss allerdings berücksichtigen, dass hier der an Bevölkerung zweit- und siebtgrößte Staat der Erde und zugleich zwei Nuklearmächte einander gegenüberstehen. Des weiteren muss in Rechnung gestellt werden, dass in diesem Falle jedwede Variante eines "Land gegen Frieden" auf beiden Seiten von der Gesamtheit der Partien und der politischen Eliten bislang kategorisch abgelehnt wird und es in 50 Jahren nicht gelang, auch nur zeitweise einen sich selbst stabilisierenden Verhandlungsprozess zu etablieren. Der Kaschmirkonflikt hat keinen Verhandlungsprozess und nur wenige Lösungsvorschläge, dafür aber eine kaum mehr übersehbare Fülle von Monographien, Analysen und Pamphleten hervorgebracht. (M. S. Deora/V. Grover/A. Arora 1995, 1997, 1998)
An dieser Stelle soll nicht auf diese Darstellungen, aber auf die wichtigsten Lösungsvorschläge eingegangen werden. Eine Analyse der Lösungsvorschläge setzt aber eine kurze Darstellung der seit 1988 beobachtbaren Konflikteskalation voraus. Diese Konflikteskalation erschwert eine ohnehin nur schwer denkbare Verhandlungslösung, sie macht zugleich angesichts der mit der militärischen Konfrontation verbundenen Gefahren eine Suche nach Lösungen notwendiger denn je zuvor. Der Artikel gliedert sich deshalb in drei Teile: Zunächst wird die Entwicklung des Aufstandes und des Terrors im Kerngebiet des Bundesstaates, dem Hochtal von Kashmir mit der Hauptstadt Srinagar, seit 1988 dargestellt; daraufhin werden die Erfolgsaussichten der seit langem bestehenden Lösungsvorschläge beschrieben; abschließend sollen die seit Ende November 2003 erkennbaren Verhandlungsinitiativen eingeschätzt werden. Für eine Darstellung des Konflikts sei der Leser auf die bestehenden zahlreichen Monographien verwiesen. (D. Rothermund 2003)
Noch bis zu Beginn der 80er Jahre hätte eine auf einen Ausgleich und eine Verhandlungslösung bedachte indische Regierung bei den Kaschmiris Gehör und Ansprechpartner gefunden. Bis zu diesem Zeitpunkt steht mit Sheikh Abdullah, dem "Löwen Kaschmirs" eine Autorität und ein charismatischer Politiker bereit, der trotz seiner manchmal erratischen Entscheidungen und strategischen Richtungswechsel bei den Muslimen des Hochtals, aber auch bei einem Teil der Hindus Ansehen und Loyalität findet. Trotz der Manipulationen, Spaltungsversuche und Repressionen seitens der Congress-Regierungen in Delhi und seitens des Jammu-und-Kaschmir-Congress-Landesverbandes kann Sheikh Abdullah immer noch seinen Einfluss auf die wichtigste politische Organisation in Jammu und Kaschmir, auf die von ihm geschaffene und jahrzehntelang dominierte "National Conference" geltend machen. Sheikh Abdullah selbst und seine politische Bewegung und Partei sind unersetzbar für Verhandlungsinitiativen, da sie über eine grundlegende inter-ethnische Idealisierung, Vision und Strategie verfügen, über das Konzept des "Kashmiriyat", des "Kaschmiriwesens".
Unter Kashmiriyat versteht Sheikh Abdullah, der sich in Habitus und Rhetorik fast als Allegorie dieses Kaschmiritums stilisiert, eine Geisteshaltung der besonderen Art: Diese Geisteshaltung soll sich aus den von Toleranz, Pietismus und Mystizismus geprägten Hindu- und Muslimtraditionen des Hochtals ableiten; dieses Kaschmiritum ist in der Lage nicht nur die religiösen Grenzen zwischen Hindus und Muslimen, sondern alle ethnischen, kulturellen oder historischen Grenzen zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen des so ausgedehnten ehemaligen Königreichs zu transzendieren. Damit verkörpert Sheikh Abdullah ein überethnisches Ideal, das in weiten Teilen auch von anderen Gruppen, etwa den Hindus in Jammu und den Buddhisten in Ladakh noch geteilt wird.
Die Verbindlichkeit dieses zwar von den Muslimen des Hochtals ausgehenden, aber auch für andere Bevölkerungsgruppen annehmbaren Ideals zeigt sich indirekt in der Form der politischen Auseinandersetzung: Die Massenkampagnen der National Conference, ebenso wie ihrer Gegner, bedienen sich zwar aller klassischen, "Gandhianischen" Agitationsformen, aber sie bleiben eben deshalb auf das Prinzip der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Kommt es bei diesen, nie exakt zu kontrollierenden hochtalweiten Auseinandersetzungen zu Gewaltausbrüchen zwischen Demonstranten und Polizisten oder indischen Armeeeinheiten, so lassen sich diese immer lokalisierten Gewaltausbrüche rasch eindämmen. Keine der Parteien greift zum Mittel des politischen Attentats; es werden keine Angriffe auf indische Truppen oder politisch-administrative Mitläufer der von Delhi gestützten Provinzregierungen durchgeführt. Keine Partei oder Agitationsbewegung greift zum Mittel der Erpressung, Entführung oder Autobombe. Zugleich verhindert das Bekenntnis zu einem eigenen kulturellen und zugleich universalen Erbe die Besetzung von Moscheen und Sufi-Schreinen. Denn solche Besetzungen liefen Gefahr, die indischen Truppen zur Belagerung und Zerstörung solcher Heiligtümer zu provozieren. (A. Lamb 1991: 322-341)
Die Grundlage für einen bewaffneten Konflikt und damit für einen Ausschluss von Verhandlungslösungen wird allerdings zu Beginn der 80er Jahre gelegt. 1982 stirbt Sheikh Abdullah, die Kontrolle über die Nationale Conference geht jetzt, bis auf den heutigen Tag, auf den weit weniger angesehenen und kompetenten Sohn Abdullahs, auf Faruk Abdullah, über. Wesentlich ist, dass Faruk zunächst von Indira und Rajiv Gandhi, später aber auch von der Lok Dal-Regierung V. P. Singhs und schließlich der Congress-Regierung unter Narasinha Rao systematisch desavouiert und geschwächt wird. Die National Conference hat seit 1987 durch ihr Zusammengehen mit dem Congress und durch Wahleinschüchterungen und -manipulationen inzwischen soweit an Ansehen verloren, dass sie das inter-ethnische Ideal des "Kaschmiritums", des Kashmiriyat, nicht länger aufrecht erhalten kann. Sie beginnt ihre Autorität bei den Muslimen im Hochtal fast vollständig einzubüssen. Es entsteht jetzt, seit Ende der 80er Jahre, die erste militante Aufstandsbewegung, die "Jammu and Kashmir Liberation Front" (JKLF), die von nun an das Ideal des Kashmiriyat weiterträgt und zunächst für den bewaffneten Kampf für ein geeintes und unabhängiges Kaschmir eintritt.
Sie wird anfänglich von der pakistanischen Armee und dem pakistanischen Geheimdienst "Interservice Intelligence" (ISI) unterstützt. Pakistan fördert die JKLF um einen bewaffneten Aufstand zu schüren, auch wenn die Ziele der JKLF für Pakistan unannehmbar sind. Nachdem die JKLF allerdings durch spektakuläre Angriffe und Entführungen das Terrain vorbereitet hat, beginnen Armee und ISI mit der Aufstellung, Organisation oder Finanzierung pro-pakistanischer Gruppen, die sie glauben besser kontrollieren zu können. Diese äußerst militanten Gruppen beginnen jetzt nicht nur die indische Armee und die "National Conference"-Regierung Faruk Abdullahs, sondern vor allem die JKLF zu attackieren. (R. Wirsing 1995: 111-142)
Seit Beginn der 90er Jahre stehen damit der JKLF in zunehmendem Maße islamistische und pro-pakistanische Aufstandsorganisationen entgegen. Obwohl alle diese politischen und militanten Gruppierungen vordergründig in einer gemeinsamen Organisation, der "All Party Hurriyat Conference" (APHC), zusammengeschlossen sind, verfügt diese Dachorganisation über keinerlei Geschlossenheit und Autorität. Seit 1990 entstehen vielmehr über zwei Dutzend militante Aufstandsorganisationen, die in der Mehrzahl der Fälle vom pakistanischen Geheimdienst ISI, der pakistanischen, sunnitisch-fundamentalistischen Jamiyat-i-Islam und der pakistanischen Armee finanziert, beraten, aber auch ausgerüstet werden.
Tiefgreifende und weitreichende Entwicklungen in Pakistan, Afghanistan und der ganzen islamischen Welt, die seit dem Beginn der 80er Jahre bereits eingesetzt haben, von den indischen Politikern und Militärs allerdings ignoriert wurden, beginnen seit Mitte der 80er Jahre auf die Kaschmir-Region einzuwirken. In den 80er Jahren wird ein Fundamentalismus sunnitischer oder schiitischer Prägung im mittleren Orient richtungsweisend und die Diktatur Zia ul Haq’s hat die Jamiyat i Islam systematisch aufgewertet und ihr einen wesentlichen Stellenwert bei der Organisation des anti-sowjetische Jihad in Afghanistan zugewiesen. Dieser Jihad wird unter sunnitisch-fundamentalistischen Vorzeichen geführt und vom pakistanischen Geheimdienst und der pakistanischen Armee zumindest indirekt gesteuert. Wie ein Kashmiri später, 1994, sagt: "Wir haben gesehen, wie das kleine Land Afghanistan gegen eine Supermacht kämpfte, sie zum Rückzug zwang, ihren Niedergang und ihre Auflösung auslöste. Wir sahen, wie am Ende fünf neue islamische Staaten entstanden. Weshalb sollten wir das gleiche nicht in Kaschmir mit Indien versuchen?" (Azam Inquilabi, in: V. Schofield 2000: 126)
Pakistan verfügt jetzt über die fundamentalistische Ideologie, die Organisationen, Erfahrungen, Kompetenzen, aber auch die Kämpfer, um im Hochtal von Kaschmir eine Aufstandsbewegung mit vollständig neuer Militanz und religiös fundamentalistischer Stoßrichtung auslösen zu können. Es sind die Hisb-ul-Mujaheddin, Harakat-ul-Ansar, Lashkar-i-Toiba und später die Jaish-e-Mohamed genannten Organisationen, die im Vordergrund dieses Aufstandes stehen. Der Aufstand ist damit international, weil er grenzübergreifende, islamische Ideale und nicht nur eine lokale Irredenta verfolgt; er ist international, weil er von einem Nachbarstaat, von Pakistan, ausgelöst und gesteuert wird, einem Nachbarstaat, der zugleich weitere Finanziers, vor allem Saudi-Arabien, hinter sich gebracht hat; der Aufstand ist des weiteren international, weil alle der genannten vier Organisationen über ausländische Kämpfer, über arabische und paschtunische Kämpfer, aber auch tschetschenische, sudanesische und jemenitische Desperados verfügen.
Von Anfang an kommen jetzt neue, gewalttätige und terroristische Strategien, ebenso wie eine neue Agitationskompetenz zum Einsatz. Hatte sich die JKLF noch im wesentlichen auf Entführungen, Besetzungen und Straßenagitationen beschränkt, so kommen jetzt gezielte politische Exekutionen zur Anwendung. Die Hisb, aber auch die Harakat ermorden systematisch die Vertreter des indischen politischen und militärischen Establishments im Hochtal; nicht genug damit, sie machen systematisch Jagd auf gemäßigte Kashmirimuslime, auf die Vertreter jenes, bereits weitgehend diskreditierten synkretistischen Toleranzideals des "Kashmiritums".
Es sind diese Organisationen, die durch ihren Terror schließlich die Massenflucht der Kashmiripandits aus dem Hochtal auslösen. Eine über eintausendjährige Tradition und Präsenz der Brahmanen findet damit ihr Ende. Die Organisationen attackieren nicht nur die Straßenpatrouillen und Stützpunkte der indischen Armee, sie besetzen auch heilige Städten der Kashmirimuslime und nehmen dabei bewusst deren Zerstörung im Rahmen der indischen Rückeroberungsversuche in Kauf. Einzelne dieser Organisationen zeigen frühzeitig die Bereitschaft, ihre Bombenattentate aus dem Hochtal auf Neu Delhi, auf das politische Zentrum Indiens, auszuweiten. Zugleich führen sie spektakuläre Entführungen von Ausländern durch, mit denen sie einerseits auf den Konflikt aufmerksam machen, andererseits Kombattanten freipressen. Hinzu kommt die fast routineartige Entführung von höherrangigen Kashmiris, indischen Politikern und Touristen. Durch diese Entführungen stellen die Organisationen ihre Finanzierung sicher. Sie machen zugleich systematisch Jagd auf all jene politischen Gruppierungen, die sich für die Unabhängigkeit Kaschmirs aussprechen und sie terrorisieren jene Journalisten, Akademiker, Künstler und Prediger des Hochtals, die nach wie vor dem Ideal eines inter-ethnischen Ausgleichs nachhängen.
Die durch ihre bedingungslose Gewaltstrategie ausgelöste militärische Eskalation nehmen diese Organisationen bereitwillig in Kauf. Nachdem sich das Hochtal durch die Stationierung von rund 200.000 indischen Truppen in eine Besatzungszone verwandelt und die Menschenrechtsverletzungen von Seiten der indischen Polizei, paramilitärischer Verbände wie der Border Security Force und regulärer Armeeeinheiten enorm zunehmen, beantworten die militanten Gruppen die militärischen Schutzmaßnahmen Indiens mit einer weiteren Steigerung des Terrors und der Provokation. (R. Wirsing 1995: 143-162)
In zunehmendem Maße werden Autobomben gezündet und Selbstmordangriffe durchgeführt. 1999 gelingt es Mitgliedern dieser Kommandos, die von der pakistanischen Armee ausgerüstet und trainiert wurden, die Berghöhen und Bunker von Kargil zu besetzen und über zehn Wochen lang die wichtigste strategische Verbindung zwischen Srinagar und Ladakh fast zu unterbrechen. In Kaschmir werden von ausländischen Mujaheddin also Strategien eines internationalen islamistischen Terrors zur Anwendung gebracht und am Ende operiert eine Tochterorganisation von Al Qaida im Hochtal. Im gleichen Entwicklungsgang wird selbst die fortdauernde Kontrolle dieser Terrorgruppen durch das pakistanische Militär und Parteien fragwürdig.
Denn die Konkurrenzsituationen und Machtkonfrontationen innerhalb des undurchsichtigen pakistanischen Herrschaftsapparates beginnen sich auch im Hochtal zu zeigen. Damit entwickelt sich über ein Jahrzehnt in Kaschmir, im Binnenraum einer islamistischen, propakistanischen und zugleich irredentistischen Aufstandsbewegung eine unüberschaubare neue Situation: Zwei Dutzend terroristische Aufstandsorganisationen in unterschiedlicher Stärke, mit unterschiedlicher lokaler Verankerung, zumeist mit afghanischer Mujaheddin-Mitgliedschaft und pakistanischer Unterstützung bekämpfen nicht nur die indische Armee, die JKLF und die Verfechter einer kaschmirischen Unabhängigkeit, diese Organisationen bekämpfen sich auch zu Teilen wechselseitig, sie unterhalten unterschiedliche politische und soziale Außen- und Schaufensterorganisationen und sie scheinen beim lukrativen Geschäft der Entführungen und Schutzgelderpressungen auch mit Kriminellen, mit Subkontraktoren und mit lokalen Klientelgruppen zusammenzuarbeiten.
Von entscheidender Bedeutung für einen eventuellen Verhandlungsprozess ist aber, dass diese Gruppen, ebenso wie die Aufstandsbekämpfung der indischen Armee die Bevölkerung inzwischen so weit eingeschüchtert, segmentiert und traumatisiert haben, dass die indischen Regierung auch bei weitreichenden Zugeständnissen in absehbarer Zeit im Hochtal keine Verhandlungspartner mehr finden wird. (V. Schofield 2000: 163-188)
Der Maximalismus des islamistischen und propakistanischen Terrors verhindert damit Gesprächsbereitschaft und Gesprächschancen. Hinzu kommt, dass neben diesen Organisationen sogenannte Renegatengruppen entstanden sind, die in 6 unterschiedliche Organisationen gespalten sind. Diese Renegatengruppen sind aufgrund von Fraktionskämpfen aus den Terrororganisationen selbst hervorgegangen, sie sind von Kashmiriyat-Patrioten gegründet worden oder sie sind vom indischen Geheimdienst (RAW) oder der Border Security Force aufgestellt worden. Diese Renegatenorganisationen machen, oft in enger Verbindung mit kriminellen Milieus systematisch Jagd auf Aufstandsorganisationen oder sie helfen der indischen Armee beim Aufspüren und Identifizieren der Widerstandskämpfer. Dieser gegen die propakistanischen Terrororganisationen gerichtete Schattenkrieg im Schattenkrieg macht damit die Unterscheidbarkeit von Freund und Feind und die Suche nach angesehenen und überlebensfähigen Verhandlungspartnern fast unmöglich.
Die seit 1987 einsetzende Eskalation hat damit sukzessive alle Träger eines möglichen Verhandlungsprozesses, Faruk Abdullah und die National Conference, die JKLF und schließlich die APHC desavouiert, marginalisiert oder zersplittert. Aber selbst, wenn es einen Ansprechpartner und einen Verhandlungswillen gäbe, so stünden solchen Verhandlungen eine seit Jahrzehnten bestehende Blockade bezüglich der Verhandlungs- oder der Lösungswege entgegen: Der Kaschmirkonflikt ist nicht deshalb unlösbar, weil es an Vorschlägen für Verhandlungswege oder Lösungen mangelt. Er ist unlösbar, weil sich bei allen denkbaren Alternativen unaufhebbare Blockaden eingestellt haben. Bevor allerdings diese Blockaden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, ist es wert, einen kurzen Blick auf die zur Zeit in Jammu und Kaschmir operierenden Terrororganisationen zu werfen. (Tabellarische Darstellung: Islamisch-propakistanische Aufstandsbewegungen)
Seit Ende der 90er Jahre sind Hizb-ul-Mujaheddin, Lashkar-i-Toiba und Harakat-ul-Ansar die aktivsten Gruppierungen. (Nachdem die US-Regierung Harakat-ul-Ansar 1997 auf die Liste internationaler Terrororganisationen gesetzt hat, hat sich die Organisation zu Harakat-ul-Mujaheddin umbenannt.) Weitere pro-pakistanische Gruppen sind Hizbullah, Al Umar Mujaheddin, Ikhwan-ul-Mujaheddin, Hizb-ul-Momineen, Al Badr, Operation Balakot, Forum Against Sellout, Tehrik-ul-Mujaheddin, United Jihad Council (das Council ist eine Dachorganisation für 14 weitere kleine Gruppen) und die Frauenorganisation Dukhtaran-e-Milat. Zu den Renegaten-Organisationen mit insgesamt etwa 3.000 Mitglieder zählen Ikhwan-ul-Muslimoon, Muslim Liberation Armee, Muslim Mujaheddin, Indian al Barq, Taliban (eine Gujar-Organisation) und Kashmir Liberation Jihad (von der BSF geschaffen); die Awami League dient der politischen Vertretung dieser Renegatengruppen.
Hatte Indien beim Ausbruch des Konfliktes zugesagt, es werde ein Plebiszit über den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union durchführen, und hatte Indien 1948 dabei der UNO noch eine wichtige Rolle eingeräumt, so hat sich Indiens Position in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Mit dem Simla-Vertrag von 1972 musste das nach der Sezession Bangladeschs geschwächte und gedemütigte Pakistan unterschreiben, dass das Kaschmirproblem in Zukunft als ein bilateraler Konfliktpunkt lediglich zwischen Indien und Pakistan zu verhandeln sei. Einem indischen Bestehen auf diesem Bilateralismus steht seitdem, mit dem Zuwachs an außenpolitischem Manövrierraum und Interventionspotential auf Seiten Pakistans dessen Interesse und Forderung entgegen, den Konflikt zu internationalisieren und wieder vor die UNO zu bringen.
30 Jahre eines von Indien geforderten und de facto durchgesetzten Bilateralismus haben sich als Sackgasse erwiesen. Dies aus mehreren Gründen: Weder für Pakistan, noch für Indien gibt es im Kern einen Verhandlungsspielraum. Für Indien steht fest, dass 1947 Kaschmir rechtmäßig an Indien fiel, dass mehrere Wahlen, als "Plebiszitersatz", inzwischen den Willen der Bevölkerung unter Beweis gestellt haben, in der Indischen Union zu bleiben und dass Pakistan zu Unrecht rund 40 % von Kaschmir besetzt hält. Im Gegensatz hält Pakistan an der Auffassung fest, dass Kaschmir als überwiegend muslimischer Gliedstaat Pakistan zustand und zusteht und dass die indische Armee ihrerseits zu Unrecht das Gros des Gliedstaates besetzt hält. (A. Lamb 1991: 214-246)
Der Bilateralismus musste des Weiteren versagen, da Indien von Anfang an daran festhielt, dass der Kernbereich des Problems, also die Zugehörigkeit des Hochtals zu Indien, kein Verhandlungsgegenstand sein könnte. Ein bewaffneter Aufstand im Hochtal, wie seit Ende der 80er Jahre kann damit nur als ein Werk Pakistans angesehen werden, eine solche Intervention gilt es zu verurteilen und zu bekämpfen, über sie kann nicht verhandelt werden. Damit verschüttete der Bilateralismus die Chance einer kritischen Selbstreflexion auf der indischen Seite. Indien wird niemals die Aussage eines Kashmiri-Politikers verstehen können: "Wenn jemand sein Haus mit Petroleum begießt und ein Gegner Feuer setzt, so ist dies hauptsächlich die Schuld des Hausbesitzers!" (bei V. Schofield 2000: 180). Die indische Regierung sieht sich durch diese Haltung aber auch um eine weitere selbstkritische Einsicht gebracht, um die Einsicht nämlich, dass ihre Politik der systematischen Bildungsförderung und Unterstützung der sozialen Mobilität, eine "Revolution der gestiegenen Erwartungen" ausgelöst hat, dass also höhere Bildung und höheres politisches Selbstbewusstsein, verbunden mit der konstanten Verweigerung von Autonomiezugeständnissen, Widerstand hervorrufen muss.
Der Bilateralismus musste des weiteren versagen, weil der Kaschmirkonflikt von Anfang an internationalisiert worden ist – durch Indien selbst, das 1948 gegen die Intervention, in seinen Augen die Aggression Pakistans, im Weltsicherheitsrat Beschwerde einlegte. Die Internationalisierung ist also nicht das Werk von Nawaz Sharif oder Benazir Bhutto in den 90er Jahren, sie ist von Indien selbst initiiert worden.
Der Bilateralismus hat versagt, weil Indien nicht bereit war und ist die Kashmiris selbst – ihre Hoffnungen, Rechte und Ambitionen – als eine dritte Kraft am Verhandlungsprozess zu beteiligen. Da Pakistan dieser dritten Partei, der Kashmiribevölkerung, ebenfalls keinen Stellenwert zubilligt, muss jede bilaterale Lösung, wäre sie überhaupt möglich, versagen: 50 Jahre Konfrontation haben vielmehr gezeigt, dass zumindest ein "Trilateralismus", die Einbindung der Kashmiris selbst bei der Suche nach Verhandlungslösungen unverzichtbar ist.
Schließlich musste der Bilateralismus auch versagen, weil nicht nur Pakistan und Indien unerschütterlich an die Rechtmäßigkeit ihrer vollständig unvereinbaren Standpunkte glauben, er musste versagen, weil sich beide Staaten misstrauen. Pakistans Elite glaubt nach wie vor, dass Indien nicht davor zurückscheuen würde, die 1971 begonnene Spaltung Pakistans fortzusetzen, Indiens Eliten glauben, dass Pakistans Militär und Geheimdienst alle innerindischen Aufstandsbewegungen unterstützt, um Indien zu destabilisieren und zu "balkanisieren". (Am Beispiel Siachen – R. Wirsing 1995: 195-216)
Auch wenn der Bilateralismus, der 30 Jahre Zeit gehabt hat, um Verhandlungslösungen auf den Tisch oder auf den Weg zu bringen, bis heute nichts bewirkt hat, so liegt er doch weiterhin im indischen Interesse. Denn im Bestehen auf den Bilateralismus setzt Indien auf zwei Dinge: Zum einen darauf, dass – wie rechtmäßig oder legal auch immer – 1947 eine neue militärische und politische Realität geschaffen wurde, zum anderen, dass die Zeit für Indien und gegen Pakistan arbeitet. Indien glaubt, dass auf Dauer Pakistan Indiens Vormacht und Kontrolle auch trotz seiner Nuklearbewaffnung und terroristischen Interventionsbereitschaft anerkennen wird. Der aussichtslose Verhandlungsweg des Bilateralismus entspricht deshalb exakt den indischen Interessen, er entspricht einem indischen Standpunkt, demzufolge es nichts zu verhandeln gibt – außer einem pakistanischen Rückzug und einem pakistanischen Interventionsverzicht.
Diese Grundeinstellung zeigt sich auch in jenen Fällen, in denen Indien episodisch der UN größere Mitspracherechte eingeräumt hat. In all diesen Fällen machte Indien überdeutlich, dass auch im Falle eines UN-Engagements – beispielsweise bei der Durchführung eines Plebiszits – zwei Dinge für Indien niemals infrage kämen: der militärische Rückzug und eine Kontrolle Kaschmirs durch die UN-Organe. Jedoch, selbst wenn multilaterale Verhandlungsmöglichkeiten, etwa auf der Ebene der UNO oder des Commonwealth, bestünden, so würden, wie ergebnislose Debatten seit langem zeigen, die vorgeschlagenen Regelungen des Konfliktes zu keiner Lösung führen (V. Schofield 2000: 225-238):
Die Lösungsansätze, die seit fünf Jahrzehnten immer wieder von unterschiedlichster Seite, vor allem von Seiten der Hochtalmuslime vorgeschlagen wurden, umfassen die Durchführung eines Plebiszits mit der Option der Unabhängigkeit, die Durchführung vier verschiedener, regionaler Plebiszite und die Anerkennung der Waffenstillstandslinie, der "Line of Control", als einer internationalen Grenze zwischen Indien und Pakistan.
Das Plebiszit: Die Forderung nach einem Plebiszit fällt mit dem Beginn des Konfliktes zusammen. Es war Nehru, der 1947/48 ein Plebiszit versprochen hatte, ein Plebiszit, mit dessen Hilfe, unabhängig von dem mit dem Maharaja ausgehandelten "Instrument of Accession", die rechtmäßige Eingliederung Kaschmirs in die Indische Union unter Beweis gestellt werden sollte. Seitdem lastet diese politische Hypothek auf dem gewandelten indischen Standpunkt. Mit der zunehmenden Eigenständigkeit Sheikh Abdullahs und dessen langjährigem Desinteresse an einem Plebiszit trat Indien in eine politische Falle und machte sich den Standpunkt zu eigen, die verschiedenen, unter Sheikh Abdullah durchgeführten Wahlen entsprächen einem Plebiszit. Offensichtlich von Sheikh Abdullah gesteuerte und später vom Congress manipulierte Wahlen gelten seitdem als legitimer Ersatz für das versprochene Plebiszit.
Seit dem Beginn der Aufstandes im Hochtal, seit 1988, steht aber die Forderung nach einem Plebiszit – wie schon seit der rebellischen Spätzeit des Sheikh Abdullah – an der ersten Stelle der Forderungen der Aufständigen. Auch Pakistan hat seit den 50er Jahren immer wieder ein Plebiszit gefordert. Allerdings, bislang bleibt die Form dieses Plebiszits ungeklärt und umstritten. Indien lehnt seit den 50er Jahren ein Plebiszit in jeder Form ab. Pakistan fordert seit den 50er Jahren ein Plebiszit. Dieses Plebiszit kann allerdings nach Auffassung Pakistans nur die Wahl zwischen einem Anschluss Kaschmirs an Pakistan oder an Indien enthalten. Eine Unabhängigkeitsoption wird von Pakistan kategorisch abgelehnt.
Hinzu kommt, dass ein solches Plebiszit nur im indischen Bereich durchgeführt werden darf. Es bleibt unklar, ob Pakistan eventuell bereit wäre, in Azad Kaschmir ein solches Plebiszit durchzuführen und ob es sich aus Azad Kaschmir zur Durchführung eines solchen Plebiszits zurückziehen würde. Eindeutig ist aber bereits das folgende: Die strategisch wichtigen "Northern Territories", das Gros des pakistanischen Territoriums in Kaschmir und damit jener Bereich, indem die seit 1970 errichtete Karakorum Highway Pakistan mit China verbindet, steht für ein Plebiszit nicht mehr zur Verfügung. Diese Territorien sind seit Z. A. Bhuttos Auflösung der Fürstentümer von Hunza und Nagar zum integralen Bestandteil Pakistans erklärt worden. Selbst wenn (angesichts der kategorischen Weigerung Indiens ohnehin undenkbar) ein Plebiszit im indischen Bereich und in Azad Kaschmir durchgeführt werden könnte, so gilt, dass bei welchem Ergebnis auch immer, eine der beiden oder beide Militärmächte, die Umsetzung des Plebiszits verhindern würden.
Wie aussichtslos darüber hinaus die Bildung eines unabhängigen Kaschmir, einer "Schweiz Asiens" ist, zeigt eine Literaturanalyse des Historikers Joseph Schwarzenberg: Bei 43 Autoren, die sich seit 1989 mit der Lösung des Konfliktes auseinandergesetzt haben, gibt es keinen einzigen, der die Entstehung eines unabhängigen Kaschmir ernsthaft in Erwägung zieht – auch wenn ein solcher Staat mit mehr als 84.000 Quadratmeilen größer als 87 und bevölkerungsstärker als 114 Mitgliedsstaaten der UN wäre. Vor allem aber, dieser Staat wäre von Anfang an nicht nur multi-lingual, multi-ethnisch und multi-religiös, sondern er wäre sprachlich, ethnisch und religiös segmentiert. Es war deshalb in Anerkennung dieser Unausgewogenheit und Fragmentierung von Jammu und Kaschmir, dass bereits während der 50er Jahre der im Auftrag der UNO stehende Kanadier Owen Dixon die Durchführung mehrerer regionaler Plebiszite vorschlug (V. Schofield 2000: 233).
Regionale Plebiszite: Dixon wies auf die, durch die Anschluss- oder Unabhängigkeitsrhetorik verstellte triviale Tatsache hin, dass die Region seit langem in zumindest fünf sprachlich, ethnisch und religiös unterschiedliche und in der Bevölkerungsstärke höchst ungleich gewichtete Teile gespalten ist. Dem von überwiegend Muslimen besiedelten, kashmiri-sprechenden und einer islamischen Sufitradition nahestehenden Hochtal, steht das ebenfalls bevölkerungsstarke Jammu gegenüber, das zu 2/3 von Hindus und 1/3 von Muslimen, hauptsächlich Gujars, besiedelt ist. Diese Bevölkerung spricht Punjabi, im Osten liegt das buddhistische, tibetisch-sprechende und von ethnisch den Tibetanern nahestehenden Gruppen besiedelte Ladakh; im Norden erstrecken sich die von Karakorum-Bergstämmen bewohnten, über eigene Sprachen verfügenden und den Shia-Sekten nahestehenden Bergfürstentümer von Gilgit, Hunza und Nagar; im Südwesten wiederum liegt Poonsh, besiedelt von pashtu-sprechenden, sunnitischen Paschtunen.
Unter den neuen Bedingungen die seit 1948 mit dem Waffenstillstand und der "Line of Control" eingetreten waren, konnte es nur Sinn machen, regionale Plebiszite durchzuführen. Dies war notwendig, um ein Wahlergebnis zu vermeiden, bei dem eine insgesamt schwache Mehrheit sich für Pakistan, Indien oder die Unabhängigkeit entschlossen und anschließend die Minderheiten majorisiert hätte. Diese Plebiszite müssten heute in den Northern Territories und in Azad-Kaschmir, in Leh, in Jammu und im Hochtal durchgeführt werden. Diese regionalen Plebiszite würden mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Jammu und Ladakh für Indien, die Northern Territories und Azad-Kaschmir für Pakistan votieren würden. Der geopolitische Status quo Indiens und Pakistans blieben somit erhalten. Unklar bleibt und bliebe, ob sich das Hochtal, also das Gros der Bevölkerung und der Muslime, für Pakistan oder die Unabhängigkeit entschließen würden. (A. Lamb 1991: 171-175)
So vernünftig der Vorschlag Owen Dixon’s scheint, er scheiterte bislang an den bereits genannten Gründen: Indien lehnt jedes Plebiszit ab; Pakistan besteht auf einem Plebiszit für die Gesamtregion, ein Plebiszit, das zudem die Unabhängigkeitsoption kategorisch ausschließt. Hinzu kommt, dass ein denkbares unabhängiges Hochtal, also ein neuer Binnenstaat von der Größe von Rheinland-Pfalz, erhebliche Bestandsgarantien und Versorgungszugänge von Seiten seiner übermächtigen Nachbarn braucht. Es ist unter diesen Rahmenzwängen nicht erstaunlich, dass der Owen-Dixon-Plan weder bei den meisten Minderheiten, noch bei den Muslimen des Hochtals und den zunehmend nationalistischen Hindus in Jammu Unterstützung fand.
Angesichts der unüberwindbaren Wiederstände, die einer Plebiszit-Lösung entgegenstehen, haben die wenigen an einer Verhandlungslösung interessierten Pragmatiker unter den Kashmiris deshalb eine weitere Lösungsalternative in die Debatte gebracht: die Anerkennung der bestehenden Waffenstillstandslinie, der "Line of Control" (LoC), als einer international gültigen Grenze zwischen Pakistan und Indien.
Die Anerkennung der LoC als Grenze: Die beiderseitige Anerkennung der "Line of Control" als einer internationalen Grenze, so glaubten Pragmatiker und Optimisten, könne sowohl Pakistan wie Indien Sicherheit in Bezug auf ihren territorialen Besitz und ihre geo-strategischen Positionen in der Region geben. Die Aufwertung und Festschreibung der LoC könnte darüber hinaus von der UN, des weiteren von den USA und noch entscheidender, von China mitgetragen werden. Eine solche Aufwertung und Garantie, also "Multilateralisierung" der LoC läge im Interesse aller Anrainer: Die LoC könnte durch den bislang umstrittenen Sia-Chen-Gletscher hinaus bis zur chinesischen Grenze festgelegt werden, also einen weiteren Konfliktpunkt entschärfen. Diese Aufwertung und Vervollständigung der LoC könnte damit auch die Karakorum-Highway, ebenso wie die Gebietsabtretungen Pakistans an China an der Nordgrenze international absichern. Damit wäre für Indien eventuell der Weg frei, um mit China zu einer endgültigen Regelung im Aksai-Chin-Bereich zu kommen. Die Anerkennung der LoC als internationale Grenze könnte deshalb die Konfrontation zwischen Pakistan und Indien und eventuell zwischen Indien und China entschärfen.Durch eine neue "trilaterale" Detente in dieser geo-strategischen Konkurrenzzone hätte Indien die Bewegungsfreiheit gewonnen, den Kashmiris im Hochtal Autonomiezusagen zu machen.
Auch dieser dritte Lösungsvorschlag ist zu unterschiedlichen Graden und aus unterschiedlichen Beweggründen für Indien, Pakistan, die Aufstandsbewegungen, aber auch die gemäßigten Kashmiris inzwischen inakzeptabel. Indien hält an der Unrechtmäßigkeit der LoC und seinem Anspruch auf das gesamte Königreich von "Jammu und Kaschmir" fest. Pakistan besteht im Gegenzug ebenfalls auf ganz Kaschmir. Sowohl aus der Perspektive Indiens wie Pakistans ist die aktuelle Konfliktsituation, also die Konfrontation, einer Anerkennung der LoC, also einem pragmatischen Verzicht auf die Chimäre einer Aneignung Gesamtkaschmirs, vorzuziehen: Indien glaubt, dass die Zeit gegen Pakistan arbeitet und vor allem die hindu-nationalistischen Regierungskreise wollen die vollständige Integration Kaschmirs und keinen endgültigen Verzicht auf die geo-strategisch bedeutsamen Grenzgebiete Kaschmirs. Pakistan dagegen glaubt, mit Hilfe gesteuerter Aufstandsorganisationen Indien international diskreditieren und militärisch und politisch schwächen zu können. (R. Wirsing 1995: 145-153)
Für die inzwischen hochmilitanten Aufstandsbewegungen gilt, dass sich ihre Beweggründe im Wesentlichen mit denjenigen Pakistans decken und dass sie darüber hinaus mit ihrem Jihad auf Delhi und den Zusammenhalt der gesamten indischen Union zielen. Da sie sich zusehends aus Kreisen der Afghanistankämpfer, der Paschtunen oder der Azad-Kashmiris rekrutieren, verfügen in ihren Kalkülen die Vorteile, die sich für die Hochtalbewohner aus einer solchen Normalisierung ergäben, nur über geringes Gewicht. So erklärt der für den Kaschmir Jihad predigende und Spenden sammelnde pakistanische Maulana Masood Anfang 2000: "Die Befreiung Kaschmirs ist Teil unseres Plans, Indien zu zerstören" (Newsline, Karachi, Februar 2000, in: P. P. Paringaux 2000: 12).
Für die gemäßigten, gegenwärtig zwischen indischer Armee und Jihad-Gruppen zerriebenen Kashmiris gilt dagegen, dass sie mit einer Anerkennung der LoC endgültig Abschied nehmen müssten von dem Traum eines unabhängigen und ungeteilten Kaschmir. Allerdings ist es in der seit über zehn Jahren vorherrschenden Situation permanenter und alltäglicher Überlebensangst, Verfolgung und Wirtschaftsmisere nicht unwahrscheinlich, dass eine Mehrzahl der gemäßigten, vermutlich die Masse der Kashmiris, dieser Normalisierungschance zustimmen würde. Es ist schließlich diese Mehrheit der Kashmiris, in deren Reihen die mehr als 60.000 Toten, die der Konflikt bislang gefordert hat, zu suchen sind. Aber unter dem Druck der Bedrohung und Einschüchterung von zwei Seiten und angesichts des Widerstandes der hindu-nationalen Regierung, diesen Vorschlag aufzugreifen, ist diese Mehrheit außerstande, diese Forderung sich zu eigen zu machen und dafür zu agitieren. (P. P. Paringaux 2002).
Vierzig Jahre der außenpolitischen, militärischen Konfrontation und der indischen, auf das Hochtal ausgerichteten innenpolitischen Manipulation und Repression, schließlich 14 Jahre des organisierten Terrors, des Jihad und der Gewalteskalation haben jetzt zu einer fast aussichtslosen Situation geführt. Lösungsvorschläge, die bis 1982 vielleicht noch verhandlungsfähig und mit Hilfe der National Conference umsetzbar gewesen wären, erscheinen nunmehr den drei wichtigsten Akteuren Indien, Pakistan und den Terrorgruppen als vollkommen unannehmbar. Der entscheidende, nie zu ersetzende Verhandlungspartner und (Mit-)Garant aller Friedenslösungen, eine gemäßigte Kaschmiri-Führung und die Mehrheit der Kashmiris, wurden inzwischen durch das Konfliktgeschehen marginalisiert und fragmentiert. Auf Seiten der drei verbliebenen Akteure überwiegen inzwischen politische und ideologische Einschätzungen, bei denen die ursprünglichen Konfliktursachen, also die Rechte, Interessen und inzwischen Nöte der Kashmiris fast keine Rolle mehr spielen.
Indien, die zweitgrößte Militärmacht Asiens, glaubt den Konflikt auf Dauer militärisch kontrollieren zu können und die Zeit auf seiner Seite zu haben. Pakistan sieht sich durch seine Nuklearbewaffnung geschützt und historisch, religiös und praktisch legitimiert, Indien in Kaschmir wenn nicht schwächen, so doch de-legitimieren zu können. Die Vorteile, die sich aus diesen Provokationen auf der Grundlage des ungelösten Status quo für das pakistanische Militär, Staatsverständnis und Statusdenken ergeben, sind so hoch, dass sie die Nachteile, die sich daraus für die Kashmiris ergeben, bei weitem aufwiegen. Für die Terrororganisationen hinwiederum gilt, dass sie inzwischen einen Jihad verfolgen, der weit über die Befreiung des Hochtals hinweg zielt: Auf Kosten der Kashmiris, die sie nicht gerufen haben, setzten sie eine Chaosdrohung nicht nur gegenüber Indien, sondern gegen ihre ursprünglichen Auftraggeber, das pakistanische Militär, ein. Damit hat, bislang zumindest, die Konfliktentwicklung des letzten Jahrzehnts alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten zerstört. Vor dem Hintergrund dieser längerfristigen Entwicklungen und weitreichenden VerhandlungsBlockaden gilt es, die seit November 2003 vorbereiteten neuen Verhandlungsrunden einzuschätzen.
Am 26. November 2003 setzen Indien und Pakistan einen allgemeinen Waffenstillstand in Kraft. Er bezieht sich auf die LoC und die umstrittene Siachen-Bergregion. Damit werden die seit mehr als zehn Jahren entlang der LoC ausgetragenen Artilleriegefechte und Truppenscharmützel, zumindest bislang, beendet. In der Folge ist Indien auch bereit, Luft- und Eisenbahnverbindungen wiederherzustellen, die seit dem Terroranschlag auf das indische Parlament im Dezember 2001 unterbrochen worden waren. Nachdem Indiens Premierminister A. Vajpayee im Rahmen eines SAARC-Gipfels im Januar 2004 mit Pakistans Präsident P. Musharraf neue Verhandlungsinitiativen vereinbarten, können sich beide Seite am 18. Februar 2004 auf Verhandlungen einigen, die in fünf Runden, vom März bis Juli 2004, durchgeführt werden sollen. In den Verhandlungsrunden sollen auf Staatssekretärsebene eine Vielfalt anstehender militärischer und ökonomischer Probleme angesprochen werden.
Unter der zentralen Agenda "Talks on Peace and Security including CBM’s and Jammu and Kashmir" werden durchgeführt: "...Talks on Siachen; Wullar Barrage/Tulbul Navigation Project; Sir Creek; Terrorism and Drug Trafficking; Economic and Commercial Cooperation; Promotion of Friendly Exchanges in Various Fields” (India-Pakistan Joint Press Statement on Framework for Bilateral Talks, February 18, 2004, Ministry of External Affairs, Government of India). Im August 2004 wollen die Außenminister beider Länder schließlich zusammentreffen "to review overall progress".
Ist mit dieser Verhandlungsbereitschaft, wenn nicht eine Lösung, so doch eine Begrenzung des Kaschmirkonfliktes wahrscheinlich geworden? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst auf die durch den Anschlag vom 11. September 2001 neu geschaffenen Rahmenbedingungen verwiesen werden. Die folgende Darstellung wird allerdings nicht die Gesamtheit der in beiden Ländern beobachtbaren außen- und innenpolitischen Entwicklungen berücksichtigen – auch wenn der Kaschmirkonflikt viele dieser Entwicklungen direkt oder indirekt reflektiert oder beeinflusst. Der Anschlag vom 11. September 2001, der Krieg gegen das Talibanregime und der Krieg gegen den Irak zwingen die USA zu einer neuen Stellung und zu neuen Langzeitabschätzungen gegenüber Pakistan. Um gegen und in Afghanistan Krieg zu führen, sehen sich die USA gezwungen, einen Militärdiktator, eine unberechenbare Nuklearmacht und ein Sanktuarium des islamistischen Terrors als Bündnispartner zu akzeptieren. Militärische, logistische und diplomatische Operationszwänge bürden den USA damit nicht nur Glaubwürdigkeitsverluste – im "Krieg gegen den Terror" – auf, die USA sind gezwungen, sich wieder mit einer Region auseinanderzusetzen, die seit dem Rückzug aus Afghanistan mit "benign neglect" behandelt wurde.
Neben der kurzfristigen, taktischen Notwendigkeit steht aber seit längerem eine, bereits während des Clinton-Besuchs, im Jahre 2000, deutlich gewordene strategische Entscheidung, eine verstärkte Annäherung an und Kooperation mit Indien zu suchen – letztendlich auf Kosten Pakistans. Kurzfristig oder langfristig an der verstärkten Kooperation mit zwei verfeindeten Militär- und inzwischen Nuklearmächten interessiert, müssen die USA auf eine Annäherung Pakistans und Indiens hinarbeiten – ohne, dass angesichts der prekären Stellung Musharrafs und der Sensibilität Indiens solche Interventionen öffentlich werden. Das Kaschmirproblem und eine militärische und sicherheitspolitische Eskalation in der Kaschmirregion liegen aber im Zentrum des Konflikts zwischen Indien und Pakistan – nicht erst seit dem Terroranschlag auf das indische Parlament im Dezember 2001. Es ist damit ein nachhaltiger, aber selten sichtbarer amerikanischer Druck, der mit Sicherheit zur neuen Verhandlungsbereitschaft mit beigetragen hat.
Aber auch auf pakistanischer und indischer Regierungsseite lassen sich seit Anfang 2003 Gründe für ein neues Verhandlungsinteresse ausmachen (Ch. Wagner/B. Wilke 2003): Vorrangig sind hier zunächst die Kalküle und Motive der indischen Regierung, vor allem Premierministers A. Vajpayees: Es wird leicht vergessen, dass Vajpayee seit seiner Amtsübernahme zu Verhandlungen mit Pakistan bereit war – weil er glaubt, dass Indien aus einer Position aktueller und künftiger militärischer Stärke verhandeln kann. 1999 war der Premier bereit gewesen, im Rahmen seiner spektakulären Busreise nach Lahore nach mehr als einem Jahrzehnt Verhandlungen zu Kaschmir aufzunehmen. Die Verhandlungen wurden abgebrochen, nachdem das pakistanische Militär und damit auch P. Musharraf die für Indien demütigende Kargil-Invasion durchführten. Sie muss, vor allem unter amerikanischem Druck, schließlich abgebrochen werden. Die BJP verdankt ihre Wiederwahl Ende 1999 auch der Tatsache, dass sie in vielen Wahlkreisen Witwen von Soldaten einsetzt, die bei der Rückeroberung des Kargil-Massivs getötet worden waren.
Vajpayee und die BJP wissen seitdem, dass man mit einer kompromisslosen, eventuell aber auch einer kompromissbereiten Politik zu Kaschmir Wahlen gewinnen kann. Anfang 2001 versucht Vajpayee ein zweites Mal in Agra, im Rahmen eines Staatsbesuchs von P. Musharraf, der 1999 Nawaz Sharif durch Putsch ersetzt hat, Verhandlungen in Gang zu bringen. Die Gespräche brechen ab, nachdem sich zeigt, das Musharraf eine zentrale indische Vorbedingung nicht erfüllen kann oder will – die Zerstörung der vom pakistanischen Militär organisierten "Infrastruktur des Terrors". Wiederum zwei Jahre später, seit April 2003, initiiert Vajpayee einen dritten, und wie er sagt, letzten Verhandlungsversuch.
Verschiedene Überlegungen sprechen dafür: 2002 ist es der indischen Regierung gelungen, in Kaschmir, trotz des Boykottaufrufs aller irredentistischen Bewegungen, eine – für Kaschmir ungewöhnlich – insgesamt freie Wahl allerdings mit nur 45 % Wahlbeteiligung durchzuführen. Die neue gemäßigte Regierungspartei verpflichtet sich auf "eine Politik der heilenden Hand" und verschafft der indischen Zentralegierung damit eine begrenzte Legitimität. Entscheidend für die indische Position ist aber das Wissen, dass Indien aus einer Position der Stärke verhandelt, dass es sich aus freien Stücken für Frieden oder Konfrontation entscheiden kann. Wie der Economist (19.02.2004, S. 2) zurecht vermerkt: "Debilitating though the war has been, India is a big country and believes that, if necessary, it can fight low-level wars on its periphery indefinitely."
Dieser Fähigkeit stehen aber die vielfältigen Vorteile gegenüber, die sich aus einer eventuellen Friedenslösung oder auch nur einer Eindämmung des Konfliktes ergeben. Zu diesen Vorteilen zählen weniger eine Verringerung der Militärausgaben, als eine Aufwertung der politischen, moralischen und ökonomischen Stellung dieser Hegemonialmacht. Ein Friedenslösung verringert automatisch die Aussichten auf einen militärischen oder gar nuklearen Schlagabtausch; sie stärkt Indiens Stellung als eine berechenbare und verantwortliche Nuklearmacht; sie setzt die demokratische Nation vom Vorwurf massiver Menschenrechtsverletzungen und politischer Repression frei; sie ebnet schließlich den Weg für grenzüberschreitende Handelsbeziehungen und Investitionen. Alle diese Statusgewinne schlagen auf der indischen Seite weit stärker als auf der pakistanischen Seite zu Buche. Hinzu kommt, dass in Indien 2004 Parlamentswahlen anstehen. Eine BJP-Koalition, die dann einer vom Kaschmirkonflikt, seiner Endlosigkeit und seinen Kosten ernüchterten Wählerschaft Entspannung oder Frieden verspricht, kann auf Wahlerfolge hoffen.
Pakistan dagegen befindet sich in keiner Indien vergleichbaren aktuellen und künftigen Machtstellung. Vajpayee glaubt deshalb, Pakistan zur diplomatischen Reziprozität zwingen zu können: Nachdem Pakistan unter amerikanischem Druck die Kargilkämpfer zurückziehen musste, ist deutlich geworden, dass der einzigen Strategie, mit deren Hilfe Pakistan auf den Kaschmirkonflikt einwirken kann, Grenzen gesetzt sind. 1999 und 2001 war die von Nawaz Sharif und dann von Musharraf geführte Regierung noch nicht bereit gewesen, die indische Vorbedingung für Verhandlungen, die Auflösung dieser "Infrastruktur des Terrors" zu akzeptieren. 2003 verspricht Musharraf, seine Regierung werde verhindern, dass pakistanisches Territorium genutzt werde, "(to) support terrorism in any manner".
Die Strategie, Indien mit (scheinbar) minimalem militärischem und politischem Aufwand maximale militärische Kosten und politische Legitimitätseinbußen zuzufügen, erscheint zunehmend kontraproduktiv: Die von Pakistan organisierten, ausgebildeten oder finanzierten Terrorgruppen lassen sich nicht mehr steuern; sie kooperieren mit den islamistischen innenpolitischen Gegnern des Musharraf-Regimes; sie sind an innerpakistanischen Anschlägen und Unruhen mit beteiligt; sie tragen potentiell zu Meinungsverschiedenheiten, Richtungskämpfen und zur Instabilität des Militär- und Geheimdienstapparates bei – und im Dezember 2003 fällt Staatspräsident Musharraf fast zwei Bombenanschlägen seitens dieser Gruppen zum Opfer. Eine Strategie, die Indien in Kaschmir schwächen sollte, stellt jetzt die innere Sicherheit Pakistans, die Funktionsfähigkeit des Militärapparates, das Überleben Musharrafs und nicht zuletzt die unverzichtbare Kooperation mit den USA in Frage. (M. A. Weaver 2003: 249-274)
Institutionelle, persönliche und strategische Schutzinteressen zwingen die Regierung und P. Musharraf dazu, auf das Verhandlungsangebot der indischen Regierung einzugehen. Die "Öffnung" des Verhandlungsfensters resultiert damit, wie fast immer, aus einer schwer bestimmbaren Mischung aus äußerem (US-amerikanischen) Druck und den zumindest kurzfristig konvergenten (aufgeklärten) Eigeninteressen zweier antagonistischer Mächte. Hilfreich für die aktuelle Verhandlungssituation ist dabei sicherlich, dass Indien weiß, dass nur mit Musharraf und einer noch von ihm zusammengehaltenen Regierung eine Friedenslösung verhandelt werden kann. Umgekehrt muss Musharraf wissen, dass er nur mit Vajpayee und jetzt zum dritten, zum letzten Mal über die Chance verfügt, einen umfassenden, realistischen und insgesamt für Pakistan günstigen Neubeginn der Beziehungen auszuhandeln. Schließlich wissen beide, dass die Zeit nicht nur für Indien, sondern für eine verstärkte amerikanisch-indische Kooperation spielt. Die pakistanische Führung muss damit einen doppelten Bedeutungsverlust Pakistans in Zukunft in Rechnung stellen.
Alle diese Faktoren begünstigen die indische Initiative und zwingen, zumindest derzeit, Pakistan zur formalen, diplomatischen Reziprozität. Aber sind diese Zwänge so stark, dass sie die über Jahrzehnte gewachsenen Verhandlungs- und LösungsBlockaden aufheben werden? Die Verhandlungen können selbstverständlich durch gezielte Terroranschläge, indische Repressalien und unvorhersehbare innenpolitische Konfrontationen in Pakistan jederzeit beendet werden. Von größerem Interesse ist allerdings die Frage, ob die Parteien sich auf eine gemeinsame und realistische Lösungsstrategie einigen können.
Vieles, auch im Vorfeld der Verhandlungen, spricht dafür, dass nur die Anerkennung der LoC als einer fortan von beiden Seiten anerkannten internationalen Grenze eine solche Lösung bilden kann. Die Einigung auf einen solchen Lösungsansatz würde absehbar ergebnislose Debatten über Lösungsvorschläge vermeiden, die von beiden Seiten abgelehnt werden – das Abhalten regionaler Plebiszite, eines Plebiszits im indischen oder (auch) eines im pakistanischen Kaschmir. Die Konzentration auf die LoC würde den Streit über eine für beide Seiten undenkbare Entwicklung, die Entstehung eines unabhängigen Kaschmir verhindern.
Der Preis einer solchen Konzentration und eines solchen Realismus besteht allerdings darin, dass wie seit 50 Jahren die Stimmen der Kaschmiris selbst nicht gehört werden und dass eventuelle, begrenzte Autonomieforderungen von Indien erst später und in einem strikt innenpolitischen Rahmen "nachverhandelt" würden. Eine Aufwertung der LoC zur internationalen Grenze böte allerdings die Chance, diese Grenze in ihren unmarkierten Abschnitten – dem Siachen-Gletscher – festzulegen, sie für den "kleinen" und künftig großen Grenzverkehr zu öffnen, zahllose "vertrauensbildende Maßnahmen" umzusetzen und mit der internationalen Gültigkeit zugleich die Durchlässigkeit der Grenze durchzusetzen – nicht für Terroristen, sondern für Zivilisten, Handel, Investitionen.
Von einem solchen Verhandlungsrealismus und politischen und wirtschaftlichen Pragmatismus könnten beide Seiten, vor allem aber die Kaschmiris, nur profitieren. Dennoch, es bleibt abzuwarten, ob sich das "Fenster der Gelegenheit" nicht wieder schließt: aufgrund neuer Anschläge, innenpolitischen Verschiebungen oder aufgrund der unverbrauchten Kraft nichtverhandlungsfähiger Nationalismen und Fundamentalismen.
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .
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