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21. August 2010. Analysen: Afghanistan - Politik & Recht Zuwanderungs- und Ausländerpolitik in Afghanistan

Wie kann die Zuwanderungs- und Ausländerpolitik eines Staates dargestellt werden, der erst seit 150 Jahren entstanden ist und sich gegenwärtig seit mehr als 20 Kriegsjahren fast aufgelöst hat? Im Kern gilt es deshalb, im folgenden eine "Politik" darzustellen, die entweder im Schatten eines unvollendeten Staates oder ohne einen Staat bestand. Mit anderen Worten, Zuwanderungs- und Ausländerpolitik muss im wesentlichen auf der Ebene der nach wie vor gültigen normensetzenden politischen Einheit beschrieben werden, dass heißt, diese Politik muss als inter- und intra-tribale und inter- und intra-ethnische Politik dargestellt werden. Um die besonderen Formen oder besser das besondere Kuriosum einer solchen Zuwanderungs- und Ausländerpolitik außerhalb des Staates oder ohne den Staat verständlich zu machen, will ich im folgenden in drei Schritten vorgehen:

1. Ich beschreibe zunächst das späte Entstehen und die prekären Grundlagen des Staates Afghanistan.
2. Ich schildere anschließend, anhand von zwei paschtunischen Beispielen, Mechanismen des Umgangs mit Fremden und Flüchtlingen.
3. Schließlich schildere ich vor dem Hintergrund der Kriegswirren der letzten zwei Jahrzehnte, die Formen und die innenpolitischen und sozialen Folgen der bis dato größten Fluchtbewegungen der afghanischen Geschichte.

I. Ein später, unvollendeter und fast aufgelöster Staat

Einen Staat Afghanistan hat es in der Antike und während des islamischen Mittelalters nie gegeben. Die Region nördlich und südlich des Hindukusch bildete vielmehr über mehr als 2.000 Jahre die strategische, militärische und merkantile Schutz-, Konkurrenz- und Transitzone zwischen den im Iran, in Zentralasien und in Nordindien entstandenen Imperien, Reitervölkern und Großmächten. Dieser Status einer ständig umkämpften, da unverzichtbaren Peripherie verdankt die Region ihre geographischen Strukturen. Die Region wird von dem fast unüberwindlichen Hindukusch, einem Ausläufer des Pamir und des Karakorum in Nord-Süd-Richtung geteilt und im Südosten bei Kabul und bei Kandahar liegen die einzigen Pässe, Khyber- und Bolanpass, die einen einfachen Zugang in das Industal und nach Südasien ermöglichen. Jede nordindische, zentralasiatische oder iranische Großmacht musste zum Zwecke des Selbstschutzes, des Angriffs oder der Organisation des Karawanenhandels alle oder zumindest einige der strategischen Transitpunkte – also die Hindukuschpässe, den Khyber-, den Bolanpass und das offene Terrain bei Herat am Westende des Hindukusch – kontrollieren. Es ist unter diesen Umständen nicht erstaunlich, sondern selbstverständlich, dass die Geschichte der Region nicht von den eigenen Machthabern, sondern von dieser Konkurrenz der Außenmächte geprägt wurde.

Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gesellschaftsstruktur, die ethnische Zusammensetzung der Region wurde durch diese imperialen Konflikte und strategischen Interessen geprägt. Die wesentlichen ethnischen Gruppen in der Region – die Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Hazara – erinnern in ihrer Zusammensetzungen und Siedlungskonzentration an eine von Kriegen, Reiterinvasionen und dem Durchzug von Nomadenvölkern gestalteten Geschichte oder aber diese Gruppen sind die direkten Nachfahren eingewanderter Nomaden und Krieger. Die von einer indo-iranischen imperialen Konkurrenz und zentralen asiatischen Nomadeninvasionen geprägte Geschichte der Region lebt in der ethnischen Vielfalt der "afghanischen" Gesellschaft fort; sie hat sich in der intra- und inter-ethnischen Sozialstruktur sedimentiert: Unter den mehr als 50 großen Stämmen der Paschtunen zeigen sich vor allem im Kandaharbereich einige aus dem Iran oder Zentralasien zugewanderten Nomadengruppen, die erst spät eine Paschtunenidentität angenommen haben. Bei den Tadschiken handelt es sich um eine aus der ursprünglichen Bauernbevölkerung und aus persisch-sprechenden Städtern zusammengesetzte, lediglich im Begriff zusammengezogenen Gruppe, die später zu Teilen von den in den Norden des Hindukusch eingedrungenen Nomadenstämmen in die Berggebiete, vor allem in den Nordosten der Region abgedrängt wurde.

Die im Hindukuschmassiv ansässigen, schiitischen Hazara bzw. "Tausender" (Mannschaften) sind die Nachkommen jener Gruppen, die nach der Mongoleninvasion von den Mongolenkhanen zur Kontrolle der Hindukuschpässe angesiedelt wurden. Die turkmenischen und usbekischen Nomadengruppen im Norden sind in den Jahrhunderten seit dem Mongolensturm langsam zugewandert. Über immer wieder neue Zuwanderungs-, Verdrängungs-, aber auch Kooptationsprozesse entstand eine immer wieder neu ausgestaltete und politisch wie ökonomisch neu äquilibrierte Gesellschaft – ohne Staat oder außerhalb eines Staates. Aus der Perspektive und der Selbstverständlichkeit des modernen Territorialstaates gesehen, bestand diese Gesellschaft immer aus ursprünglichen oder saisonalen Migranten, aus anfänglichen oder zeitweiligen Flüchtlingen und – in der historischen Langzeitperspektive – mehrheitlich aus Ausländern. Zwei Zufälle lassen schließlich bis Anfang des 20. Jahrhunderts einen Staat mit dem Namen Afghanistan entstehen. Dies ist zunächst die Bildung einer paschtunischen Herrschaftsdynastie seit Ende des 18. Jahrhunderts, die während des 19. Jahrhunderts auch die Regionen im Norden des Hindukusch ihrer Gewalt unterwirft und dies ist die, Ende des 19. Jahrhunderts erzielte Übereinkunft zwischen dem Zarenreich und Britisch Indien, in der Region einen außenpolitisch neutralen Pufferstaat zu errichten – der künftig einen Zusammenstoß russischer und britischer Expansionsinteressen verhindern soll.

Damit haben die ethnisch höchst heterogenen, historisch zentrifugalen und politisch polyzentrischen Bevölkerungsgruppen der Region zu einem eigenen, wenn auch höchst prekären und paschtunisch dominierten Staat gefunden. Eine auch nur in Ansätzen fassbare staatliche Zuwanderungs- und Ausländerpolitik bestand und besteht in diesem Staat nicht. Moderne Staatlichkeit und damit eine solche Politik setzt Prozesse des State- und Nation Building voraus; beispielsweise eindeutige und überwachte Grenzen und eine handlungsfähige Bürokratie, ebenso wie eine weithin akzeptierte nationale Identität und die Vorstellbarkeit eines "Inländers" oder Bürgers. Der Staat Afghanistan verfügt aber bis heute über keine überwachten Grenzen; auch vor dem Einsetzen des anti-sowjetischen Jihad und innerafghanischen Bürgerkriegs endete die Wirksamkeit staatlicher Bürokratie an den Grenzen der wenigen Städte und der Versuch des paschtunisch dominierten Königshauses und Staatsapparats, eine paschtunische Nationalidentität durchzusetzen, trifft auf Widerstand. Damit bleibt die jeweilige tribale und ethnische Identität und eine islamische Identität die weithin verpflichtende Richtgröße für die persönliche Einschätzung und das Alltagsverhalten der Bevölkerungsgruppen. Diese ethnische Binnenorientierung verbunden mit einer von Außen und nach strategischen Interessen vollzogenen Grenzziehung führt zu der Situation, dass fast alle ethnischen Gruppen Afghanistans einander fremd bleiben und sich jenseits ihrer lokalen Gemeinschaft, "Quaum", vorrangig mit den mit ihnen verwandten Ethnien außerhalb Afghanistans identifizieren.

Die Nordgrenze Afghanistans trennt nur auf der Landkarte turkmenische, usbekische und tadschikische Minderheiten von den nördlich des Amur Darja siedelnden jeweiligen Stammesbevölkerungen oder ethnischen Mehrheiten. Gravierender aber ist die Situation im paschtunischen Siedlungsgebiet: Hier trennt die von den Engländern an strategischen Überlegungen orientierte Durandlinie die "afghanischen" Paschtunen von jener paschtunischen Bevölkerungshälfte, die in Britisch Indien und heute in Pakistan lebt. Diese Teilung der Paschtunen führt seit Beginn des 20. Jahrhunderts bei der afghanischen Paschtunenelite zu dem Wunsch, alle Paschtunen in einem "Greater Afghanistan" oder "Paschtunistan" wieder zu vereinen. Selbst die staatstragende ethnische Gruppe bleibt damit nach außen orientiert, auf jene Bergstämme und Bauerngruppen westlich des Industals, die inzwischen 2/3 aller Paschtunen repräsentieren. Diese Außen- oder "extro-nationale" Orientierung der meisten ethnischen Gruppen geht einher mit dem unbehinderten Austausch und Handel innerhalb dieser Gruppen – über die vor Ort nicht existierenden Grenzen. Im Süden des Landes ziehen afghanische und pakistanische Nomadengruppen, Händler oder Schmuggler ungehindert über die nicht markierten Grenzen; im Westen halten persisch sprechende und persisch geprägte Bevölkerungen einen problemlosen Kontakt über die "iranisch-afghanische" Grenze und im Osten besteht sogar zwischen "afghanischen" und "pakistanischen" Paschtunen eine weitgehend herrschaftsfreie Zone: Entlang der Durand-grenze haben hier die britischen Kolonialherren autonome Stammesterritorien errichtet – "Federally Administrated Tribal Areas" (FATA) – die bis heute jeder staatlichen pakistanischen Kontrolle entzogen sind und die von den Paschtunenstämmen für Schmuggel, Waffenherstellung, Opiumanbau und Angriffszüge genutzt werden. Es war nur folgerichtig, dass der prekäre afghanische Staat angesichts dieser grenzüberschreitenden ethnischen Orientierungen, Handelsnetzwerke und Kontakte und angesichts des Mangels an einer nationalen Identität keine offizielle Flüchtlings- und Ausländerpolitik etablieren konnte. Suchen wir stattdessen nach Ansätzen einer solchen "Politik", so müssen wir sie auf der Ebene der einzigen relevanten politischen Einheiten, auf der Ebene des Stammes und der Ethnie suchen. Dabei sollen die Paschtunen als Beispiel dienen.

II. Ausländer und Flüchtlinge in einer Gesellschaft der Stämme; das Beispiel der Paschtunen

Wie bereits angedeutet galt und gilt der Satz Karl Valentins "Alle Menschen sind Ausländer – fast überall" im Falle Afghanistans auch für das Inland, außerhalb des eigenen Stammes. Von der nomadischen "Transhumanz" bis hin zum Karawanenhandel, zu der Versorgung durch Basarmärkte zum lokalen oder städtischen Handwerk und bis zur Pilgerreise blieb aber diese ethnisch und tribal segmentierte Gesellschaft auf den ständigen Umgang mit und auf die kalkulierbare Vergesellschaftung von Fremden angewiesen. Fast unlösbar von dieser Grundvoraussetzung des Wirtschaftens, Lebens und Überlebens bestand darüber hinaus eine weitere Rahmenbedingung. Aufgrund der schwierigen Naturbedingungen und unberechenbaren Herrschaftsverhältnisse musste jede Familie, Stammessektion oder jeder Stamm damit rechnen, einmal oder periodisch zum Flüchtling zu werden.

Besonders die paschtunische Stammesgesellschaft hat angesichts dieser Unverzichtbarkeit inter-ethnischer Arbeitsteilung, Kontaktnahme und Austauschbeziehungen, ebenso wie angesichts dieser unabwendbaren Notlage Normen und Verfahren entwickelt, die den Umgang mit Fremden regulierten und das Los des Flüchtlings erleichterten: An dieser Stelle kann nur in aller Kürze auf die entsprechenden Traditionen und Institutionen verwiesen werden. Paschtune zu sein bedeutete und bedeutet nicht nur – im Rahmen einer verbindlichen, alle Stämme erfassenden Genealogie und Abstammungslegende – von Paschtunen abzustammen, neben dieses zugeschriebene, ererbte Identitätsmerkmal trat stets eine weiteres, ein erworbenes: Paschtune ist, wer dem Ehrenkodex der Paschtunen, dem Paschtunwali folgt. Zu diesem Ehrenkodex zählen neben dem Gebot der Rache, der Mitgliedschaft in der gleichberechtigten, also nur im Konsens entscheidungsfähigen Stammesversammlung und der Verpflichtung auf Verschleierung, also Schutz und Distanzierung der Frauen auch das Gebot der Gastfreundschaft. Der Fremde, auch der ethnisch Fremde, darf nicht abgewiesen werden; er muss im Rahmen einer festgelegten, seiner sozialen Stellung entsprechenden Form bewirtet und aufgenommen werden. Dieses Gebot hat zur Institution des Gästehauses geführt, in dem der jeweils durchziehende Ausländer in respektvoller und zugleich notwendiger Distanz gegenüber dem Wohnareal der Familie und den Frauen untergebracht werden kann. Die Norm und diese Institution der Gastfreundschaft etablierten damit einen Mechanismus und ein Netzwerk, mit deren Hilfe die isolierten, oft verfeindeten und höchst traditionalistischen Paschtunengruppen weiträumige Handelsverbindungen, stammesübergreifende Koalitionen, Friedensgespräche und manchmal eine fast internationale Kontaktnahme und Diplomatie organisieren konnten.

Wichtig aber war vor allem, der Fremde, ebenso wie der Flüchtling konnten dank dieser Norm und Institution Schutz vor Verfolgung und eine zeitweise Duldung gewinnen. Die Tradition der Gastfreundschaft setzte damit den inneren und äußeren Gewaltkreisläufen der Paschtunengesellschaft eine Grenze, sie sicherte den erstaunlichen Kosmopolitismus dieser Krieger, Bauern und Nomaden und sie trug nicht unerheblich zu der bis heute andauernden Unabhängigkeit der Bergstämme bei. Vergleichbare, wenn auch nicht so ausgeprägte Normen und Institutionen der Gastfreundschaft lassen sich auch bei den anderen Ethnien Afghanistans finden. Die Paschtunengesellschaft konnte aber nicht nur Fremde und Flüchtlinge kurzfristig schützen, sie konnte sie auch auf Dauer integrieren, "unterwerfen". Die Stärke, Anpassungsfähigkeit und Weltläufigkeit der Paschtunenstämme beruhte nicht zuletzt auf dem Tatbestand, dass ein erheblicher Teil der Mitglieder einer Paschtunengruppe nicht vollberechtigte Paschtunen, sondern Klienten und Abhängige waren. Dabei handelte es sich nicht nur um Paschtunen, die durch Armut, Landverlust, Verschuldung und Abhängigkeit das Recht an der Teilnahme in der Stammesversammlung verwirkt hatten, in den meisten Fällen handelte es sich um Fremde, manchmal fremdgläubige Händler und Geldverleiher, die als Klienten einerseits den Schutz des Stammes genossen, andererseits für die Organisation der Geldgeschäfte, der Handelsexpeditionen oder der Kriegszüge unverzichtbar waren. Der rechtlich sanktionierte Status des Abhängigen und Klienten bildete und bildet damit den entscheidenden Mechanismus, durch den die Paschtunengruppen Fremde und Flüchtlinge schützen und integrieren und im gleichen Zuge unterwerfen und nutzen konnten. Auf Dauer, allerdings über Generationen war es dabei nicht ausgeschlossen, dass ehemalige Klienten durch Leistung, Anerkennung und vor allem durch die exemplarische Einhaltung des Paschtunwali in den Rang eines vollberechtigten Paschtunen aufsteigen konnten. Die Paschtunengesellschaft war eine Leistungsgesellschaft, eine "Meritokratie", die den Fremden und Flüchtling nicht nur einordnen, sondern ihn im Grenzfall auch als Vollmitglied integrieren konnte. Dieser Umgang mit Fremden und Flüchtlingen in einer de facto staatenlosen Gesellschaft verdient nicht nur unser historisches Interesse, diese Erinnerung ist notwendig, wenn wir verstehen wollen, wie die afghanische Bevölkerung 20 Jahre des Krieges, der Vertreibung und der lucht überstehen konnte.

III.    Flüchtlinge und Vertreibungen in Afghanistan

Afghanistan ist nicht nur, wie bereits ausgeführt, ein Staat ohne Ausländer- und Flüchtlingspolitik, aber mit ethnischen Traditionen und Normen des Umgangs mit Fremden und Flüchtlingen; der Staat weist darüber hinaus die Besonderheit auf, dass 20 Jahre Krieg zwar fast die Mehrheit der Bevölkerung zu Flüchtlingen gemacht hat, dass Afghanistan selbst aber selten zum Ziel größerer Fluchtbewegungen wurde. Afghanistan droht damit in mehrfacher Weise aus einer Untersuchung der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik einzelner Staaten herauszufallen. Die Region verfügt entweder über keinen Staat oder wenn, über keine Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Vor allem aber hat Afghanistan in den letzten 20 Jahren weit mehr Flüchtlinge hervorgebracht als es im ganzen 20. Jahrhundert an Flüchtlingen aufgenommen hat. Die folgende Darstellung wird deshalb sehr kurz die Fluchtbewegungen nach Afghanistan darstellen und daran anschließend, ausführlicher, die durch den Bürgerkrieg ausgelösten Umwälzungen und Fluchtformen schildern. Dabei gehe ich vorrangig auf die internen Fluchtbewegungen ein, denn die Fluchtbewegungen nach Pakistan und in den Iran werden in den entsprechenden Länderstudien betrachtet.

Flüchtlinge wandern zeitweilig oder auf Dauer während des gesamten 20. Jahrhunderts in Afghanistan ein, aber in der überwältigenden Mehrheit der Fälle handelt es sich dabei um kleinräumige und zumeist kurzfristige Fluchtbewegungen: Balutschen, die unter Dürre und Nahrungsknappheit leiden oder – während eines kurzfristigen Aufstandes unter Bhutto - militärischer und politischer Verfolgung entgehen wollen, ziehen zu benachbarten, oft verwandten Balutschengruppen im Südwesten Afghanistans, das gleiche gilt für die Paschtunen Britisch Indiens und später Pakistans. Überwiegend handelt es sich dabei um krisenbedingte und intra-ethnische Wanderungen. Sie werden vom afghanischen Staat kaum registriert und die Flüchtlinge finden im Rahmen von Gastfreundschaft, Klientenstatus oder Kooptation kurzfristige oder dauerhafte Aufnahme bei den ihnen nahestehenden Ethnien. Mit diesen traditionellen, fast periodisch zu nennenden, Fluchtbewegungen kontrastiert die nach der Niederwerfung des sogenannten Basmachi-Aufstandes durch die Sowjetunion einsetzende Flucht aus Zentral-asien und eine von der anti-britischen "Khilafatbewegung" initiierter Versuch eines Massen-exodus der rechtgläubigen Muslime aus Britisch Indien nach Afghanistan. Beide Fluchtbewegungen finden während der 20er Jahre statt. Zu diesen, im Ganzen bescheidenen Fluchtbewegungen nach Afghanistan stehen aber die seit 1979 durch den Einmarsch der Sowjetunion, den anti-sowjetischen Jihad und den inner-afghanischen Bürgerkrieg ausgelösten internen und vor allem nach außen gerichteten Fluchtbewegungen in einem vollständigen Gegensatz: Die Rahmenbedingungen und Folgen dieser, seit dem Mongolensturm größten politischen Katastrophe in der Geschichte der Region können hier nur kurz geschildert werden.

Der Einmarsch der Sowjettruppen im Dezember 1979 soll das umsturzgefährdete sozialistische Regime in Kabul stützen. Der Einmarsch löst rasch die größte Fluchtbewegung aus, die Afghanistan seit der Entstehung dieses dynastischen Kunststaates, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebt hat. Aus dem Westen Afghanistans fliehen die sprachlich, historisch und religiös dem Iran nahestehenden Bevölkerungsgruppen in den Iran. 1981 sind dies 1,5 Millionen, 1990 3 Millionen Menschen. Im Ostteil des Landes fliehen die Stammesgruppen, hier überwiegend Paschtunen, nach Pakistan. Ende 1982 handelte es sich um rund 2,9 Millionen Menschen. In wenigen Jahren hat Afghanistan damit mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung und die dominierende im Südosten siedelnde Paschtunenmehrheit hat fast die Hälfte durch Flucht verloren. In Pakistan bilden sich jetzt entlang der Grenze mehr als 300, oft 100.000 und mehr Menschen unfassende Flüchtlingslager, ein erheblicher Teil konzentriert sich auf das Umfeld der Provinzhauptstadt der North West Frontier Provinz Peshawar und der Provinzhauptstadt von Balutschistan Quetta. Diese neue Flüchtlingslager- und bald Stadtlandschaft bleibt im wesentlichen bis heute stabil. Denn nach dem Rückzug der Sowjetarmee 1988 verhindert der Fortbestand eines pro-sowjetischen Regimes bis 1992, anschließend der interne Bürgerkrieg zwischen den Mujaheddin-Fraktionen bis 1996 und danach die Repression seitens des aus Pakistan einmarschierten neuen Taliban-Regimes eine dauerhafte und massive Rückwanderung. Pakistan und der Iran sehen sich damit für zwei Jahrzehnte mit einer Flüchtlingsbewegung und Flüchtlingspopulation sui generis konfrontiert.

An dieser Stelle soll allerdings nicht auf die nach Pakistan oder in den Iran emigrierten Flüchtlinge, sondern auf die internen Umwälzungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen eingegangen werden. 22 Jahre Krieg, des Jihad, des internen Bürgerkrieges und des Aufstiegs und Fall der Taliban lösen ethnische, räumliche, ökonomische, soziale und religiöse Verlagerungen und Wandlungsprozesse aus, die nicht nur den ohnehin ephemeren afghanischen Staat zerstören, sondern seitdem die ethnische und tribale Fragmentierung steigern. Obwohl das sowjetische Regime in Kabul, der anti-sowjetische Jihad und am Ende die Taliban-Bewegung von Paschtunen dominiert werden, verlieren die Paschtunen langfristig an Einfluss. Es fliehen nicht nur relativ mehr Paschtunen in das "Ausland", nach Pakistan, die paschtunischen Siedlungsenklaven im Norden des Hindukusch werden im Laufe des Krieges entweder aufgegeben oder geschwächt. Insgesamt führen die Kriegswirren dazu, dass die neben den Paschtunen größeren ethnischen Gruppen, Tadschiken, Usbeken und Hazara sich in zunehmendem Maße stärker politisch und militärisch organisieren können. Das macht die Wiedererrichtung eines von paschtunischen Eliten dominierten Staates schwierig. Die Kriegsjahre führen darüber hinaus zu enormen räumlichen Verlagerungen: Sowohl die nach Pakistan wie in den Iran flüchtenden Menschen, oft Bauern oder Nomaden, werden jetzt in den pakistanischen Flüchtlingslagern oder iranischen Städten (zwangs-)urbanisiert. Für die nicht-paschtunischen Flüchtlinge bedeutet dies, dass jetzt primarschulgebildete und technisch-qualifizierte Schichten heranwachsen, die sich künftig einer Paschtunendominanz widersetzen können. Vor allem aber zeigt sich diese Zwangsurbanisierung in Afghanistan selbst.

Vor allem der Jihad löst sowjetische Gegenschläge und Strategien aus, die auf eine Entvölkerung des flachen Landes zielen und massive Flüchtlingsbewegungen in Richtung der Städte, insbesondere Kabul auslösen. Die Bevölkerung von Kabul verdreifacht sich und das Kabulregime subventioniert, aufgrund seiner Unterstützung dieser Flüchtlinge, notgedrungener Maßen auch den anti-sowjetischen Jihad. Der Krieg führt aber auch zu weiteren räumlichen Verlagerungen. Entsprechend dem Kriegs- und Frontverlauf verarmen bestimmt Regionen und Basarzentren, während sich an anderer Stelle, in strategischen Rückzugsgebieten der Mujaheddin und an den alten, nur von Menschen und Kamelen begangenen Passstrecken, manchmal ein wirtschaftlicher Aufschwung und generell ein massives Schmuggelwesen zeigen. Insgesamt verliert der Nomadismus jetzt an Bedeutung, da die großen Nomadenstämme, etwa die Durrani und Ghilzai, ihre Wande-rungsbewegungen einschränken müssen. Sie werden von den sowjetischen Truppen ausgeplündert, können die gutbewachte Herat-Kandahar-Kabul-Strasse nicht überqueren und im Hindukusch, im Hazarajat, auf ihren traditionellen Sommerweiden treffen sie jetzt nicht mehr auf fügsame, sondern politisch organisierte und gut bewaffnete Hazarabauern. Vor allem aber führen die beiden Kriegsjahrzehnte zu sozialen Verschiebungen, die vermutlich kaum mehr rückgängig zu machen sind. Die mächtigen lokalen Führer, die Khans, Maliks oder Arbabs, haben jetzt an Einfluss verloren. Entweder haben sie versucht, sich mit dem sowjetischen Regime zu akkommodieren, was sie im Verlauf des Krieges um ihre Autorität und oft um ihren Besitz bringt – ihre konfiszierten Wohn- und Festungskomplexe dienen den lokalen Mujahed-din als Basis – oder sie sind ins Ausland geflohen.

An ihre Stelle ist entweder der anti-sowjetische Dorfmullah oder, wo vorhanden, der Sharia-geschulte Rechtslehrer, der Maulavi, getreten. Aber auch die schmale, westlich gebildete Intelligentsia und Technokratenschicht ist ins Ausland, in den Westen geflohen. Damit ist seit 1980 der Weg frei für eine komplexe, verwirrende und immer noch offene Neugliederung dieser zutiefst traditionalistischen Gesellschaft. Sie ruht nach wie vor auf der lokalen Dorf-, Stammes(sektions-)- oder Nomadengemeinschaft, dem "Quaum", aber mit dem Jihad haben sich jetzt im pakistanischen Peshawar Parteien gebildet, die von (sunna-)fundamentalistisch geprägten Ideologen und Kriegsführern dominiert werden und vor Ort, ebenso wie in den Flüchtlingslagern, beherrscht oder beeinflusst der islamische Kleriker, der Mullah, der Maulawi oder Qazi die Führung des Widerstandes und die lokalen Mujaheddin. Diese im Kern traditionalistischen religiösen Führer bestreiten nicht den politisch-ideologischen, also fundamentalistischen Führungsanspruch der Peshawar-Parteiführer. Sie halten sich vielmehr für die einzige lokal verfügbare Rechts- und Ordnungsmacht, sie sind für die Sharia-Rechtssprechung, also für die Organisation und das Überleben der "Zivilgesellschaft" zuständig. Diese zu neuem Einfluss gekommene Klerikerschicht kann an dieser vertikalen Arbeitsteilung zwischen großer Politik und lokaler Ordnung und Zivilgesellschaft festhalten, weil und solange die religiöse Grundlage des Widerstandes, des Jihad, außer Frage steht. Dennoch, auf Dauer zeigen sich jetzt eine Schwächung der Tradition, eine soziale Umschichtung und neue Orientierungen:

Das Paschtunwali oder andere tribale Verhaltensnormen verlieren jetzt gegenüber der Sharia-Rechtssprechung an Boden und diese religiöse Rechtssprechung kann, da sie universal ausgerichtet und systematisiert ist, auf Dauer fundamentalistisch überformt und "modernisiert" werden. Diese Schwächung einer lokalen, tribalen Tradition und dieser Bedeutungszugewinn einer religiösen und zugleich fundamentalistisch modernisierbaren Tradition gehen einher mit sozialen Umschichtungen. Das Leben in den Flüchtlingsstädten und die Organisation des Ji-had lassen neue fundamentalistisch, aber auch technisch gebildete Schichten entstehen, die diesen Islam mittragen. Sowohl die Flüchtlinge, als auch die in ihren Dörfern Gebliebenen identifizieren sich mit diesem Islam, weil er Konflikte ohne finanzielle Anforderungen schlichtet, an einfachen Gerechtigkeitsgrundsätzen orientiert ist und bei der Organisation des Jihad eminent praktisch ist. Streitigkeit werden rasch, billig und unter Anhörung der Betroffenen entschieden; das Land von Flüchtlingen und "Absentee Lords" darf bewirtschaftet werden, die (Almosen-)Steuern, Zakat und Ushr, sind berechenbar, gering und finanzieren den Widerstand; die Intervention der lokalen Richter, der Qazis, verhindert die summarische Exekution von Regierungssympathisanten und damit das Wiedereinsetzen inter- oder intra-tribaler Fehden und insgesamt koordinieren diese religiösen Autoritäten den Widerstand vor Ort und sie stellen die Abgleichung zwischen den strategischen Interessen der Peshawar-Parteien und den taktischen Interessen der lokalen Mujaheddin und des "Quaum" her. Diese sozialen Umschichtungen und neuen, religiös-universalistischen Orientierungen erleichtern schließlich den Sieg im anti-sowjetischen Jihad, sie tragen aber nicht zu einer supra-ethnischen und zugleich religiös fundamentalistischen Einigung der Widerstands- und Bevölkerungsgruppen nach dem Rückzug der Sowjetunion bei. Wie bereits erwähnt, führen die Kriegswirren zu einer Schwächung des paschtunischen Einflusses und zu einer relativen Stärkung, einer neuen Organisationsfähigkeit und Bewaffnung anderer großer ethnischer Gruppen.

Der Widerstand gegen die Sowjetunion geht nicht nur mit einer Aufwertung der Kleriker und Fundamentalisten einher, sondern auch mit einer Aufwertung der ethnischen Identität, insbesondere derjenigen der großen, nicht-paschtunischen Gruppen. Auch ihnen, nicht nur den Paschtunen, verschafft diese "Islamisierung" des Widerstandes die Chance, den Lokalbezug und die Bedeutung des Quaum zurückzudrängen und sich stärker mit der eigenen ethnischen Gruppe identifizieren. Nicht nur stehen die einzelnen Peshawar-Parteien (auch) für diese ethnischen Gruppen, die Kooperation zwischen fundamentalistischen Parteiführern und lokalen Klerikern befördert sowohl die Islamisierung des Widerstandes als auch eine neue intra-ethnische Kohäsion der Gruppe. Dies zeigt sich nach dem Fall des sowjetischen Najibullah-Regimes 1992, denn jetzt beginnen sich die ethnisch segmentierten Bürgerkriegsparteien und Kriegsführer, der Paschtunenführer Hekmatayar, der Tadschikenführer Masud und der Usbekenführer Dostum, in der Hauptstadt zu bekämpfen. Um diesen inter-ethnischen Bürgerkrieg zu beenden und um zugleich die Rückkehr zu einem paschtunisch dominierten und geeinten Afghanistan zu sichern, formiert und organisiert das pakistanische Militär seit 1992 die ausschließlich paschtunische, ebenso wie fundamentalistische Talibanbewegung. Jedoch entgegen den Absichten ihrer Förderer verschärfen die Taliban die neuen ethnischen Polarisierungen, da sie bei der Eroberung des Landes zum Mittel des ethnischen Pogroms gegen Hazara, Usbeken und Tadschiken greifen. Selbst der von den Taliban verfügte und gegen die anderen Gruppen eingesetzte extreme (Sunna-) Fundamentalismus war paschtunisch geprägt und trug damit zur weiteren ethnischen Fragmentierung bei.

Mit dem Fall des Taliban-Regimes Ende 2001 ist damit weniger ein Neuanfang, als ein vorläufiger Endpunkt zunächst der Staatsauflösung und massiven Fluchtbewegungen, dann der zunehmenden fundamentalistischen Islamisierung und ethnischen Segmentierung erreicht. Ob die neue, aus allen großen ethnischen Gruppen gebildete Übergangsregierung diese Staatsauflösung und Fluchtbewegungen rückgängig machen kann, die Fundamentalisierung des Islam und die ethnische Segmentierung überwinden will und vor allem die Paschtunen für den neuen Staat gewinnen kann, muss sich künftig erst zeigen.

 

Literaturverzeichnis

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UNHCR: Zur Lage der Flüchtlinge in der Dritten Welt. 50 Jahre humanitärer Einsatz, Bonn 2000.

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .

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