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21. August 2010. Analysen: Indien - Wirtschaft & Soziales Indische Speiserituale und die Speise des Herrn der Welt (I)

Eine Wissenstradition und eine Zivilisation, die den Menschen vorrangig als Vernunftswesen betrachtet, übersieht rasch, dass der Mensch (auch) ein nahrungssuchendes und produzierendes, (zunehmend komplexer) verarbeitendes und verspeisendes Tier war und ist. Keine der großen Zivilisationen hat diesen grundlegenden, animalischen wie anthropologischen Wesenszug vollständig übersehen, alle haben diese Notwendigkeit auf unterschiedliche Weise geregelt, reflektiert und gedeutet. Kaum eine aber hat in Bezug auf die Komplexität der Ordnungen und die Vielfalt der Interpretationen die Hindu-Zivilisation übertroffen. Darüber hinaus hat sich diese Zivilisation im Schatten ihres Normierungs- und Deutungseifers stets den Luxus der kalkulierten Widersprüchlichkeit bewahrt. Der folgende Aufsatz knüpft an diese Komplexität und Widersprüchlichkeit an.

Ich schildere zunächst die auf extremen Erlösungs- und Reinheitsvorstellungen ruhenden Ordnungen, die in Indien die Gewinnung, Zubereitung und den Verzehr von Nahrung regulieren. Diese Ordnungen folgen einer Logik der sozialen Distanzierung und Exklusivität und sie begründen oder legitimieren eine Gesellschaftsordnung, die auf der Vorstellung einer prinzipiellen Ungleichheit der Menschen beruht. Jedoch die Notwendigkeit des (Über-)Lebens in der Familie und in der Kastengesellschaft verhindern die Umsetzung eines Reinheitsideals, welches, radikal zugespitzt, darauf hinausläuft, dass nichts gegessen werden darf oder dass der Esser (gewaltfrei) seine eigene Nahrung gewinnt, selbst zubereitet und allein verzehrt. Einer der Mechanismen, die Kluft zwischen rituellem Ideal und gesellschaftlichem (Überlebens-)Zwang zu überbrücken, ist die "Ehr-Verunreinigung", bei der der nieder Gestellte vom höher Gestellten Nahrung empfangen kann.

Diese Vorstellung zeigt sich auch in der Speisebeziehung zwischen (Tempel-)Göttern und Menschen. Sie zeigt sich aber selten in radikaler, die (meisten) Kastenschranken niederbrechender Konsequenz. In einem zweiten Schritt schildere ich deshalb einen oder den einzigen Fall, in dem der Verzehr der Gottesspeise nach traditioneller Auffassung die Kastenschranken aufhebt, diese Speise von Gläubigen unterschiedlichster Kastenherkunft gemeinsam und öffentlich gegessen werden sollte und dieser Speisekult zugleich eine außergewöhnliche Größendimension und Eigengesetzlichkeit erreicht hat. Es handelt sich hierbei um die Bewirtung einer in Orissa, in der Tempelstadt Puri, verehrten Regionalgottheit und den Verzehr der diesem Gott, dem "Herrn der Welt", gestifteten Speise.

Wir betrachten also den für die konventionelle Kastengesellschaft einzigartigen Fall, in dem ein Tempel- und Speiseritual mit grundlegenden Reinheits- und Distanzregeln der Hindu-Gesellschaft in aller Öffentlichkeit bricht und die betreffende Tempelstadt ihren Ruhm und ihren Reichtum durch diesen Normbruch gewinnt. Allerdings diese, auf einen spektakulären Normbruch gegründete Sonderstellung Puris relativiert und entlastet eine auf Kommensalitätsverboten gegründete Kasten- und Reinheitsordnung, sie erschüttert oder widerlegt sie nicht.

I    Indische Speiserituale

Das Gewinnen, Zubereiten, Essen und Ausscheiden von Nahrung gehört zu den grundlegenden Tätigkeiten, Bedingungen und Manifestationen menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Es sind zugleich Tätigkeiten, Bedingungen, Manifestationen, die uns bis heute unabtrennbar mit der Natur, die uns umgibt und einer Naturgeschichte, an deren Ende oder in deren Mitte wir stehen, verbinden. Große, also reflexive Traditionen und Zivilisation sollten, so können wir vermuten, diese unabwendbare Verkettung und Verbindung bedenken, moralisch-religiös bewerten oder ethisch-rituell systematisieren. Viele haben dies auch getan. Die Hindu-Tradition hat aber, so scheint mir, diese Kausalitäten und Zusammenhänge in einem ganz außerordentlichem Maße zum Anlass von Spekulationen, Klassifikationen, Ordnungen und Bewertungen gemacht. Vor allem hat sie es, eher implizit als explizit, geschafft, diese reflektierten Verkettungen und Zusammenhänge in die Gesamtstruktur von Erlösungsphilosophien, Gesellschaftsmodellen, Ritualordnungen, Lebensreglementierungen zu integrieren. Dies ist, wie gesagt eine implizite, keine explizite Reflexion und Integration. Sie ist aber so prägnant, konsistent und anschaulich, dass sie dem westlichen, also dem kulturwissenschaftlichen Blick ohne weiteres bestimmbar und begreifbar erscheint. Damit macht dieses Denken über die Nahrungssicherung und das Essen Einsichten bezüglich der Hindu-Philosophie und der Hindu-Ordnung möglich, die einer ausschließlich religiösen, philosophischen, sozialen oder ökonomischen Einschätzung des Hinduismus verstellt bleiben. (J. Fuller: S. 3-28)

Ich will im folgenden versuchen, dieses theoretische Erfassen, ethische Bewerten und praktische Ordnen der Nahrungsgewinnung und des Essens im Hinduismus zu rekonstruieren. Dabei ist allerdings eine Einschränkung und Vorbemerkung notwendig. Der Hinduismus kann als eine aus fünf Vorstellungs- und Verhaltenstraditionen entstandene, gewachsene Struktur gesehen werden. Dies sind der Brahmanismus, der Asketismus, der Animismus, der Mystizismus und ein Haushalts-, Dorf- und Tempelkult – der diese vier Traditionen einerseits widerspiegelt und ihnen andererseits eigenständig entgegentritt. (G. Sontheimer 1989) Das Nachdenken über die und das Ordnen der Nahrungsgewinnung und Nahrungszunahme zeigt sich in allen fünf Traditionen. Auffällig aber ist, dass in diesem Nachdenken und Ordnen die vedische, also eine in Indien ursprünglich externe Vorstellungswelt und Sozialordnung, im Gegensatz zu den angesprochenen Aspekten des Hinduismus, wenig Spuren hinterlassen hat. Reflexion, Bestimmung und Regelung der Nahrungsgewinnung und des Essens finden vielmehr in einem Vorstellungsraum, einem Diskurs, statt, der von den – dem Asketismus und dem Buddhismus entlehnten – Idealen der vollkommenen Transzendenz (Brahman), der Erlösung (Moksha) und des Nicht-Tötens (Ahimsa) geprägt ist.

Diese Ideale konvergieren im Bild, in der grundlegenden Idealvorstellung einer vollkommenen Integrität. Vollkommen ist nur das Wesen, das frei von Einwirkung und Auswirkung, Reaktion und Aktion besteht. Vollkommenheit heißt, im Zustand vollständiger Unveränderbarkeit und Abgeschlossenheit zu stehen. Ein solcher Zustand gleicht einem nicht mehr vorstellbaren, aber philosophisch-spekulativ konzeptualisierbaren und konstituierbaren idealen und fernen Punkt. Dennoch besteht das Ideal, sich diesem unerreichbaren Punkt, diesem Zustand der Permanenz, Abgeschlossenheit und Integrität spekulativ und meditativ, sozial und rituell anzunähern. Vor allem aber dient dieser unerreichbare, ideale Zustand der Bewertung und der Ordnung der Welt – der Lebenden, also auch der Menschen. Diese Lebewesen sind in einer endlosen Kette des Lebens, also des Geborenwerdens und Sterbens verstrickt. Die Welt ist nichts anderes als dieser Gesamtzusammenhang des Lebens und Sterbens, damit der wechselseitigen und unlösbaren physischen und sozialen Verflechtung. Mit dem Bild des Sansara, des Geburtenkreislaufes und mit der Stände- und Kastenordnung, Varna und Jati, hat der Hinduismus diese große Kette des Lebens, diese Verkettung der Existenzen als einen moralischen und sozialen Zusammenhang gedeutet und reglementiert: Wer gutes Verdienst, gutes "Tun", "Karman", akkumuliert, wird höher, wer schlechtes Verdienst, schlechtes Karman anhäuft, wird niedriger wieder geboren. Wer kein Verdienst oder kein Karman hinterlässt erreicht Erlösung, Nicht-Wiederkehr und diesen Zustand der Vollkommenheit. Aus dem Blickwinkel der unauflösbaren sozialen Verkettung, der Vergesellschaftung, hat der Hinduismus mit dem Begriff des Wesenskreislaufes und der Ordnung der Kasten ein explizites Welt- und Abhängigkeitsmodell entdeckt und errichtet. Aus dem Blickwinkel der physischen, der Nahrungsabhängigkeit und Naturgebundenheit hat der Hinduismus, von tribalen, animistischen und asketischen, spekulativen Traditionen geprägt, ein implizites Deutungs-, Orientierungs- und Ordnungsmodell geschaffen. (J. Fuller: S. 245-252)

Leben heißt, Nahrung zu gewinnen und zu verspeisen. Nahrung zu gewinnen und zu verspeisen heißt, zu töten und zu zerstören, dies in einer Welt, die unter der moralischen Vorgabe, unter dem Ideal des Nicht-Tötens steht. Diesen Zusammenhang hat die asketische Tradition bereits frühzeitig, beispielsweise in der Brahmana Literatur seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert erfasst. So heißt es im Schatapatha Brahmana: "Denn welche Speise der Mensch in dieser Welt ist, die isst ihn in jener Welt wieder." Und weiterhin wird erzählt – in der Zusammenfassung, die Elias Canetti in seiner Untersuchung "Masse und Macht" gibt (II, S. 55-58): "Bhrigu, ein Heiliger, war ein Sohn des Gottes Varuna; er hatte sich ein großes brahmanisches Wissen erworben, und es war ihm zu Kopf gestiegen. Er wurde überheblich und stellte sich über seinen eigenen göttlichen Vater. Dieser wollte ihm zeigen, wie wenig er wisse und empfahl ihm, nacheinander in die verschiedenen Himmelgegenden, nach Osten, Süden, Westen und Norden, zu wandern. Da solle er genau auf alles achten, was es zu sehen gäbe, und ihm bei der Rückkehr erzählen, was er gesehen."

Wie nun das Schatapatha Brahmana berichtet: "Erstlich nämlich, im Osten, sah Bhrigu Menschen, welche anderen Menschen die Glieder eins nach dem anderen abhackten und die Stücke untereinander verteilten und dazu sagten: 'Das gehört dir, das gehört mir.' Als Bhrigu das sah, war er ganz entsetzt, und die Leute, die da die anderen in Stücke hackten, gaben ihm die Erklärung, diese hätten es mit ihnen in der anderen Welt ebenso gemacht, und sie täten nun nichts weiter, als mit ihnen entsprechend zu verfahren ... Daraufhin trat Bhrigu die Wanderung nach Süden an und sah dort Menschen, die anderen Menschen die Glieder eins nach dem anderen abschnitten und mit 'Das gehört dir, das gehört mir' unter sich verteilten. Auf seine Frage erhielt Bhrigu wieder dieselbe Antwort: Die jetzt zerschnitten wurden, hatten es mit denen, die sie zerschnitten, in der anderen Welt ebenso gemacht. Im Westen darauf sah Bhrigu Leute, die schweigend andere Leute aufaßen, wobei die Aufgefressenen sich ebenfalls schweigend verhielten. So nämlich hätten es diese in der anderen Welt mit jenen gemacht. Im Norden aber sah er Menschen, die, laut schreiend, andere Menschen aufaßen, die dabei auch laut schrien, so wie diese es jenen in der anderen Welt angetan hätten." Nach seiner Rückkehr wurde Bhrigu von seinem Vater Varuna aufgefordert, seine Lektion herzusagen wie ein Schüler. "Bhrigu aber sagt 'Was soll ich denn rezitieren? es gibt ja gar nichts!' Er hatte zu schreckliche Dinge gesehen, und alles erschien im nichtig. Da wusste Varuna, dass Bhrigu diese Dinge gesehen hatte, und erklärte: 'Die Menschen im Osten, die den anderen die Glieder abhackten, das waren die Bäume. Die Menschen im Süden, die den anderen Menschen die Glieder abschnitten, das waren die Rinder. Die Menschen im Westen, die schweigend schweigende Menschen aufaßen, das waren die Kräuter. Die Menschen im Norden, die, laut schreiend, laut schreiende Menschen verzehrten, das waren die Gewässer." In einem anderen Opfertraktat, dem Jaiminiya-Brahmana, heißt es dann: "Vieh, das hier geschlachtet und gegessen worden ist, hat drüben menschliche Gestalt angenommen und tut nun dem Menschen, was dieser dem Vieh getan hat." (Alle Zitate nach E. Canetti II 1960: S. 55-58; Canetti stützt sich auf H. Lommel 1950)

Und auch in dem frühen Gesetzbuch des Manu wird auf merkwürdige Weise der Ursprung des Sanskritwortes für Fleisch, mamsa, erläutert: 'mam' heißt 'mich', 'sa' heißt 'er': mamsa bedeutet demnach 'mich-er', und das wiederum bedeutet "'mich' wird 'er' in der nächsten Welt verzehren, 'er', dessen Fleisch ich hier esse, die Weisen erklären, dies sei die wahre Bedeutung des Wortes 'Fleisch' (mamsa)." (The Laws of Manu, Kap. V, Vers 55, nach G. Bühler, S. 177) Nahrung zu gewinnen und zu verspeisen heißt also, wie erwähnt, zu töten und zu zerstören, dies in einer Welt, die zumindest seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert immer stärker unter der moralischen Vorgabe der Gewaltlosigkeit, unter dem Ideal des Nicht-Tötens steht. Nicht nur aufgrund der Ernährungsnotwendigkeit, dieser physischen Abhängigkeit, aber auch und vor allem wegen dieser steht der Mensch in einer Vielzahl von sozialen Abhängigkeiten und Berührungen. Nahrungsgewinnung und Nahrungsaufnahme, ebenso wie diese Abhängigkeit und Berührungen drohen physisch und moralisch zu verunreinigen.

Der ideale, absolute Zustand der Vollkommenheit, Permanenz und Abgeschlossenheit kann, wie bereits angedeutet kaum vorgestellt und im Diesseits, im Wesenskreislauf und in der Abhängigkeit von Mensch und Natur, von Vergesellschaftung und Nahrung nie erreicht werden. Dieser Zustand gilt aber denjenigen, die das gute Leben leben und Erlösung erreichen wollen als Ideal, dem man sich im Diesseits, im Wesenskreislauf und in der Kastenordnung annähern kann und muss: Sei es nur deshalb, um eine verbesserte Chance und Stellung für Erlösung zu sichern. Im Diesseits, in der Kastenordnung zeigt sich damit das Ideal der Vollkommenheit, Abgeschlossenheit und Permanenz als Ideal der Reinheit (also der körperlichen und moralischen Integrität), der Abgrenzung (also der sozialen und physischen Distanz) und der Ruhe (also der Vermeidung zeitlicher und räumlicher Veränderung). Es sind die Brahmanen, die dieses Ideal hervorgebracht, exklusiv beansprucht und exemplarisch vorgelebt haben. Mit ihren Reinheits-, Abgrenzungs- und Ruhevorstellungen haben sie zugleich den gesamten Bereich der physischen- und Naturabhängigkeit, vor allem der Nahrungsgewinnung und der Nahrungszunahme, rituell und moralisch geordnet. Indem ich diese exklusive und exemplarische brahmanische Ordnung schildere, schildere ich zugleich ein weithin wirksames System. Das System ist weit gespannt, weil Brahmanen anderen, etwa Königen und Schutzherren, Respekt vor diesen Ordnungsvorstellungen abverlangen konnten; es ist aber auch weit gespannt, weil weite Teile der Hindu-Gesellschaft, hohe wie niedere Kasten über Jahrhunderte hin diese Ordnungen und Vorschriften entweder übernommen oder erlitten haben. (C. Jürgenmeyer, J. Rösel 1998)

Grundlegend für diese aus vielerlei Traditionen stammenden, aber von Brahmanen übernommenen, synthetisierten und systematisierten Ordnungsvorstellungen ist, dass sie zwischen dem religiösem Wert einer Person und der rituellen Reinheit eines Menschen, zwischen Geist und Körper, zwischen sozialer Interaktion und physischer Berührung, zwischen psychologischen und organischen Vorgängen, schließlich zwischen Habitus und Physis der Menschen keinen grundlegenden Unterschied machen. Um moralisch rein zu sein, muss der Mensch, der exemplarische Mensch, der Brahmane, auch rituell rein und angesichts der Natur dieser Ritualvorschriften auch physisch rein sein. Auf den zentralen Punkt der Nahrungsgewinnung und -einnahme gewendet, bedeutet dies, dass Moralität und "Oralität" komplementär gedacht werden. Wenn nur der körperlich Reine auch der moralisch Reine sein kann, dann kommt aus brahmanischer Sicht der Nahrungsgewinnung, Nahrungszubereitung, Nahrungszunahme und Nahrungsausscheidung eine moralisch, ebenso wie rituelle Bedeutung und Aufmerksamkeit zu, die aus der Perspektive einer fremden, unserer Kultur fast unvorstellbar erscheinen.

Nicht Töten

Nahrung kann durch Sammeln, Jagen und Anbau gewonnen werden. In unterschiedlichem Maße wird diese Grundbedingung des Lebens damit gegen das Gebot des Nicht-Tötens verstoßen: der Jäger und Fischer tötet; er ist deshalb sozial degradiert und rituell unrein. Getötetes darf nicht gegessen werden, in unterschiedlichem Maße und in unerhörter Variation haben deshalb die Brahmanschichten Indiens für sich den Vegetarismus zur Norm und gegenüber den anderen zu einem moralischen Beurteilungsmaßstab erhoben. Wer den Boden kultiviert tötet unausweichlich (Klein-)Lebewesen, ein Brahmane wird deshalb keine Feldfrüchte anbauen, er kann sie allerdings essen. Wer sammelt oder pflückt, tötet unter normalen Umständen keine Lebewesen. Gesammelte und gepflückte Nahrung gilt damit der angebauten Nahrung als rituell überlegen und auch der Brahmane, vor allem in dem letzten ihm vorgezeichneten Lebensabschnitt, demjenigen des hauslosen Asketen, kann sich durch Pflücken und Sammeln von Waldfrüchten ernähren. Unter der Beurteilungsperspektive des Tötungsverbotes wird damit auch verständlich, dass rohe Nahrungsmittel von jedem angenommen oder – etwa im Falle gesammelter Früchte – gegessen werden können. Rohe, das heißt gesammelte oder kultivierte Nahrungsmittel verfügen damit über eine rituelle Bewegungsfreiheit. Sie transportieren nicht, wie Fleisch oder Fisch, Verunreinigungen und sie nehmen auch keine Verunreinigung seitens Unreiner – Bauern, Dschungelbewohner, Träger oder Händler – an.

Ein, für das Leben und auch für Brahmanen unverzichtbarer Nahrungshandel wird dadurch erst rituell möglich. Der gleiche Zusammenhang gilt auch und vor allem für das so unverzichtbare Wasser, ebenso wie für die Milch. Die meiste Nahrung muss aber verarbeitet, gekocht, werden. Aus der (rituell gedacht) kontaktlosen rohen Nahrung wird jetzt die kontaktbehaftete, die mit Wasser, Öl oder Gewürzen vermischte Nahrung. Dieses Kochen, diese Zustandsveränderung ist aber in einem enormen Maße von Verunreinigung bedroht. Der Ort und Akt des Kochens muss deshalb vor Verunreinigung besonders geschützt werden, und der Transport gekochter Nahrung steht unter der Gefahr der permanenten Verschmutzung. Wird allerdings mit Butterfett, also dem höchsten Nahrungsstoff des höchsten Tieres, der Kuh, gekocht, frittiert oder gebraten, so verkehrt sich der Berührungszusammenhang: das Kochen mit Wasser, Öl und Gewürzen setzt das Gekochte der Gefahr der Verunreinigung aus, das Kochen mit Butterfett immunisiert die Speise.

Deshalb kann alles mit Butterfett gekochte, vor allem Fettgebäck und Süßigkeiten, relativ frei von Befleckungsgefahr in der Öffentlichkeit, etwa bei religiösen Festen, auf Märkten, in den Basaren und vor den großen Tempeln angerichtet, verkauft und gegessen werden. (A. Michaels: S. 199-207) Rohe Nahrung, Früchte, Wasser, Milch, bilden damit eine ideale und zugleich asketische, also für sozial- und kastengebundene Menschen unzugängliche Ernährungsgrundlage. Mit Wasser, Öl und Gewürzen gekochte Nahrung bildet dagegen für die in die Kastenordnung eingebundenen Menschen die unausweichliche, stets von Verunreinigung bedrohte Grundnahrung. Mit Butterfett gekochte, also rituell immunisierte Nahrung können sich unter normalen Umständen nur die Eliten, vor allem vermögende Brahmanen, leisten. Die Mehrheit kann sich diesen rituellen Luxus nur bei Festanlässen gönnen. Das Rohe konstituiert damit ein asketisches Ideal, das Gekochte eine unabwendbare, potentiell verunreinigende, gesellschaftliche Notwendigkeit, das Butterfettgekochte einen Akt der Heiligung und rituellen (Selbst-)Privilegierung.

Klassifikationen

Aus dieser Dreierskala ist bereits vor Jahrhunderten ein dichotomes Klassifikationsmodell, heute in Hindi "Kacca" und "Pakka" genannt, abgeleitet worden. In diesem Modell steht Kacca generell für das Kalte und Rohe, Pakka für das Heiße und Gekochte. Diese Klassifikation hat sich also von dem Dreierschema einer moralischen Bewertung entfernt und zielt auf eine generelle Einordnung:
"Kalt, roh (Hindi kaccã, Nepali sardhi) (sind) alle in Wasser gekochten Getreidespeisen, vor allem gekochter Reis, aber auch Milch, Butterschmalz, die meisten Früchte, Honig, Linsen und viele Gemüsesorten. Diese stehen für die klaren, reinen, 'brahmanischen' Qualitäten Enthaltsamkeit, Ruhe und Sanftmut. 'Heiße' (garam) Speisen sind dagegen in Butterschmalz (ghi) oder Öl gebratenes bzw. frittiertes Gemüse oder Süßigkeiten (z. B. laddu, halvã), Fleisch, Eier, Zwiebeln, Knoblauch, Mangos und in der Erde wachsendes Gemüse; sie erzeugen Begierde, Mut und Aggression. Ein in der einheimischen Medizin, dem Ãyurveda, und der Volksmedizin bewahrtes Wissen sorgt dafür, dass die Lebensmittel der beiden Gruppen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen." (A. Michaels 1998: 201).

Diese Kacca und Pakka Dichotomie hatte den unüberbietbaren Vorteil, dass sie in den unterschiedlichsten Regionen Indiens, also in den vielen kleinen Traditionen des Hinduismus immer wieder erneut variiert werden konnte. Lokale Nahrungsgüter und Speisen konnten damit in ein regionales Ordnungssystem und zugleich vordergründig in ein gesamtindisches Bewertungsschema integriert werden. Das auf Ausgleich, Balance zielende Schema hat sich aber seit langem über den Nahrungsbereich hinaus erweitert und dient zu einer an Kompetenz und Qualität orientierten Einschätzung der Welt: danach sind Pakka-Häuser aus "gekochten", aus gebrannten Ziegeln errichtete Bauten. Kacca-Häuser, etwa heute die Slums, die "Kacca-Abadis", dagegen bestehen nur aus sonnengetrockneten Lehmziegeln. Pakka sind geteerte Straßen, Kacca sind Pisten; Pakka ist der kompetente Mensch, die stabile Herrschaft, das verlässliche Automobil.

Die Kacca-Pakka Ordnung der Dinge ist vor allem in Südindien zu einem nicht nur gesellschaftlichen, sondern universalen Ordnungsschema ausgestaltet worden. Nicht nur werden Nahrungsmittel und Zubereitungsformen nach heiß und kalt geordnet, dem Schema liegt ein weit über die Nahrung und den Alltag hinausreichendes Bild des Dualismus und Ideal des Ausgleichs zugrunde. Nicht nur Speise, auch die Farbe (Weiß – Rot), die Geschlechter (Mann – Frau), die Götter (Shiva – Shakti), im Kern die ganze Welt könne nach diesem Schema geordnet werden. Die Anschaulichkeit und die interpretative Spannkraft des Schemas sind dadurch gegeben, dass die Kategorien heiß und kalt in der Welt der Sinne leicht vorstellbar und plastisch gemacht werden können. Wichtiger aber ist, dass die Kategorie der Hitze und damit des Kochens eine der religiösen Vorstellungswelt, der Askese entlehnte Kategorie ist: die großen Asketen, so vor allem die mythischen Rishis, beherrschen die (damit exemplarische) Kunst der vollständigen Enthaltsamkeit – von jeglicher Nahrung und jeglichem Geschlechtsverkehr. Sie verlieren also keinen Samen. Sie sind die bewunderungswürdigen Allegorien jenes ansonsten transzendent gedachten Punktes vollständiger Integrität, Permanenz und Abgeschlossenheit. Die mythischen Rishis, ebenso wie die großen, zeitgenössischen Asketen können über unglaublich lange Zeiträume fasten und keusch bleiben – Rishis über Jahrtausende. Das Ergebnis dieser Enthaltsamkeit – so die Legenden und der Volksgeist – zeigt sich bei ihnen nicht in Verfall und Tod, sondern in einem Zuwachs von im wesentlichen magisch gedachter Energie.

Die Asketen gewinnen Tapas, "Hitze"; diese, auf Dauer unerhörte Hitze zeigt sich in "Energie", Shakti. Diese manifestiert sich unter anderem in der Fülle und Stärke ihres Samens. Vollkommene Seher und Asketen werden damit aufgrund ihrer Hitzeausstrahlung und ihrer Kraft zu einer Gefahr für die Erde, die Menschen und die Götter. Das Schema von heiß und kalt nimmt diese, für den archaischen, magischen Asketismus grundlegenden Gedanken auf und mäßigt dieses außergesellschaftliche, auf Erlösung, Unversehrtheit und Selbstvervollkommnung zielende Ideal für die besonderen Bestandsbedingungen der Menschen- und Götterwelt. Damit diese beiden Welten nicht aus sich oder von außen gefährdet werden, gilt es hier heiß und kalt – Gott und Göttin, Weiß und Rot, Mann und Frau, scharfe Gewürze und milde Speisen etc. – in beständiger Balance zu halten.

Über die philosophische Spekulation, die Atman-Brahman-Doktrin, den Maya-Brahman-Gegensatz und die dualistischen "dvaita"- und nicht-dualistischen "a-dvaita"-Systeme lässt sich schließlich dieser religiös-asketisch fundierte Gegensatz von heiß und kalt sublimieren, auf den Kosmos projizieren und in der Abstraktion des Dualismus auf die Philosophie übertragen. (D. McGilvray 1998) Klassifikationen der Nahrungsgewinnung – gepflückt, getötet, angebaut –, der Speisezubereitung – Pakka und Kacca – und der Alltagswelt – heiß und kalt – tragen damit in umfassender Weise, direkt und indirekt zur Bewertung und sozialen Hierarchisierung der Gesellschaft, der Kastenordnung bei. Die Nahrungsabhängigkeit, also die Formen der Nahrungsgewinnung strukturieren die Kastenordnung. Diese kennt den Auszug – der Asketen –, die Ausschließung – der gänzlich Unreinen – und die Unterordnung – der Bauern. An der Spitze steht der relativ sozial und rituell abgegrenzte, vegetarische und Pakka-Speisen essende Brahmane, unter ihm stehen die anderen "zweigeborenen" Kasten, die diesen Idealen in Grenzen folgen können oder wollen. Unter den drei hohen Ständen – Brahmane, Kshattriya, Vaishya – stehen die Shudra, die durch Feldbau befleckten Bauern und die ihnen untergeordneten Dorfhandwerker und Dorfdiener. Ausgeschlossen, "outcast", sind die Stammesgemeinschaften, Fischer und Unberührbaren, also diejenigen die töten (durch Jagen und Fischen), die Getötetes essen und die mit Aas und Beflecktem beruflich in Berührung kommen – Abdecker, Lederarbeiter, Barbiere (Haar, Nägel), Wäscher (Menstruationsblut), Leichenträger, (Leichen-)Trommler etc. Die Nahrungsklassifikationen und die dem Kastensystem zugrunde liegenden Reinheits- und Distanznormen geben zugleich dem Kochen und dem Essen bestimmte Reinheits- und Schutzregeln vor.

Kochen und Essen

Kochen und Essen sind, wie das bisher dargestellte zeigt, höchst prekäre, immer durch äußerliche oder innerliche Verunreinigung gefährdete Akte. Je reiner und höher gestellt die Person, desto stärker die Sorge um Verunreinigung. Die Brahmanen haben diese Schutzvorrichtungen auf die Spitze getrieben und damit zugleich ein Exempel und einen Maßstab gesetzt. Die Küche, auch die Tempelküche, sollte Fremden und fremden Blicken nicht zugänglich sein. Sie liegt deshalb entfernt von den Wohnräumen und vor allem der Veranda und dem Vorraum, wo Gäste, Fremde, Zutritt erhalten. Kochen sollte selbstverständlich immer nur ein Gleichgestellter, idealerweise ein Höhergestellter, denn nur von diesen geht keine Verunreinigung aus. Bemerkenswerterweise trifft diesen keine Verunreinigung, wenn er für Niedrigergestellte kocht: das System, der Gradient der drohenden Verunreinigung, ist stets vom Anfang zum Ende, vom Rohen zum Gekochten und Gegessenen, nicht aber rückwärts gedacht.

Unter den Bedingungen eines plausiblen Selbstschutzes ist es deshalb verständlich, dass brahmanische Köche zu allen Zeiten gesucht waren und der Beruf des Koches – begründet durch eine religiöse Tradition, zunächst des Opfers, später des Tempelkults und der Gottesbewirtung – von Brahmanen gerne ausgeübt wurde. Mit dem Beginn kolonialer Modernisierung und postkolonialer Industrialisierung und Urbanisierung hat sich diese traditionelle Berufsstellung erweitert und angepasst. Brahmanen finden bevorzugt Anstellung in groß- und kleinstädtischen Restaurants: die einer Vielzahl von Kasten entstammenden Gäste sind in von Brahmanen geführten und bekochten Lokalen vor Verunreinigung sicher. Das Speisen außerhalb der Familie oder der Kastengemeinschaft gilt es aber, wenn immer möglich, zu vermeiden und für das Essen im eigenen Hause gilt, dass ein im Reinheitsstatus Gleicher, also ein Familienmitglied, fast immer die Frau, kocht. Zwar gilt sie im Reinheitsstatus innerhalb der Familie als dem Manne, dem "Grhastha", dem Haushaltsvorsteher, nachgeordnet und während ihrer Menstruationstage darf sie, da befleckt, nicht kochen. Aber die Nähe zu Mann und Familie und vor allem ihre in Brahmanenkreisen strikte, vor Verunreinigung schützende, Eingebundenheit in das Haus wiegen diese relativen Nachteile auf. Gekocht wird auf dem, oft täglich mit Kuhdung desinfizierten, "geheiligten" Küchenboden und bei der Zubereitung ebenso wie beim Essen zeigt sich ein für die Reinheitsnormen charakteristisches Dilemma.

Vollkommen rein kann nur ein Koch- und Essgeschirr, eventuell ein Koch- und Essbesteck sein, das nach Gebrauch vernichtet, für jedes Kochen und Essen also vollständig erneuert werden kann. Dies ist beim Kochen kaum möglich, es sei denn, man würde Tontöpfe nach Gebrauch jeweils zerschlagen. Beim Essen ist diese vollständige Reinheit möglich: gegessen wird idealerweise auf einem Bananenblatt oder auf zusammengesteckten Baumblättern, die anschließend weggeworfen werden. Blätter sind "roh", können also auch von niederen, unreinen Handwerkern geliefert werden. Da das Kochen, aber auch das Trinken somit auf wiederverwertbare Gefäße angewiesen bleibt, hat sich eine Reinheitsordnung ausgebildet, bei der jene Gefäße, die am vollständigsten zu reinigen sind, und über die höchste Härte und Unversehrtheit verfügen, an der Spitze stehen: Eisen, Bronze oder Silbergefäße stehen vor steinernen Gefäßen, Steingefäße und inzwischen Keramikgefäße vor Tongefäßen. Für das Trinken von (kaltem) Wasser gilt aber nach wie vor, dass bevorzugt aus der eigenen, also reinen, rechten Hand getrunken wird. Eine reine Koch- und Küchenausstattung wird damit auch zu einer Frage des Prestiges und des Geldes.

Höherkastige Familien verfügen über diese Metallgefäße und sie werden den Töchtern als Teil der Mitgift, der Aussteuer, gegeben. Stirbt ein Familienmitglied und ist deshalb der Haushalt "befleckt", dann müssen sie, im Gegensatz zu den Tongefäßen nicht zerstört werden. Vor allem aber steht das Essen selbst unter je nach Kastenrang strikteren Reinheitsregeln. Der Haushaltsvorsteher, der Brahmane, isst allein. Er reinigt sich vor dem Mahl gründlich. "Orthodoxe Brahmanen wechseln dafür mitunter die Kleidung, legen ein Stück ungenähten Stoff als Hüftwickel an, den nicht einmal ein unreiner Schneider berührt hat." (A. Michaels 1998: 200) Gegessen wird auf der Erde, an einem manchmal mit Kuhdung gereinigten Platz – cauka, Viereck. Aus Angst vor Verunreinigung muss unbedingt auf dieser desinfizierten, geheiligten Erde gegessen werden. Der Brahmane wird von der Frau bedient, erst danach werden die anderen Familienmitglieder, am Ende die Frau und die Töchter, essen. Frauen und Töchter essen oft in der Küche. Gegessen wird ohne Besteck, mit der rechten Hand, da die Linke als verunreinigt gilt – sie wird zum Säubern des Hinterns beim "Ausscheiden" benutzt.

Nach dem Essen werden Hand, Mund und Lippen gründlich mit Wasser gereinigt. Es ist unter diesen rituell und kulturell vorgegebenen Bedrohungsängsten verständlich, dass Essen immer ein privater, zurückgezogener, kein öffentlicher, ostentativer Akt sein kann. Was die Kastengesellschaft als ganzes charakterisiert, das strikte Kommensalitätsverbot zwischen Kastenfremden, wird damit in der kleinsten sozialen Einheit, der Familie, bereits rituell, sozial moralisch vorbereitet. Auch in der Familie, der Unterkaste und Kaste sollte idealerweise nicht gemeinsam gegessen werden. Das Verbot der Kommensalität zwischen Kasten ist die zur Norm gesteigerte Angst vor Verunreinigung, die bereits innerhalb von Kaste und Familie besteht. Deshalb entspricht dem Verbot der Kommensalität zwischen Kastenfremden kein Gebot der Kommensalität der Kastengleichen. Ängste vor und Normen gegen Kommensalität sind also grundlegend für die Kastengesellschaft.

Religiöse Wertvorstellungen (Nichthandeln, Nichttöten, Unversehrtheit) einerseits, Nahrungs- und Vergesellschaftungsabhängigkeit andererseits lassen Ideale und Bedrohungen der sozialen, rituellen, moralischen Reinheit entstehen. Sie zeigen sich vorrangig im Bereich der Nahrungsgewinnung, -verarbeitung und -einnahme, also einem zentralen Bereich von "Gesellschaft". Sie setzen Wertmaßstäbe und Normen, die das Kastensystem, also diese Festlegung von Rängen, Distanzen und Arbeitsteilungen sowohl strukturieren als auch rechtfertigen. Mit der Konzeption der Kaste als immer prekärer Speisegemeinschaft und mit dem Verbot der Kommensalität zwischen den Kasten wird dieser Zusammenhang deutlich. In einer solchen Gesellschaftsordnung müssen Festmahl und Bankett Randerscheinungen bleiben. Sie dienen nicht als Mittel, Macht, Einkommen oder Prestige zu demonstrieren, Fremde zu beeindrucken, Freunde zu gewinnen. Öffentliche Zur-Schau-Stellung von Herrschaft und Ruhm bleiben damit der Audienz, der Prozession oder dem Kriegszug vorbehalten. Noch entscheidender aber ist, dass von dieser auf Reinheit, Minimalismus und Zurückgezogenheit zielenden Kulturidee des Kochens und Essens kaum Anstöße für die Entwicklung von Prunkgeschirr, Sitz- oder Essmobiliar oder einer innovativen und sozial offenen Kulinarik und Gastronomie ausgehen können. Auch ist die Verarbeitung von Speiseresten, etwa das Kochen von Suppen, kaum möglich.

Anstöße zu einer solchen Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung materieller und sozialer Kultur gingen vorrangig vom Islam, insbesondere dem Moghulimperium und der von ihm geprägten Hofkultur aus. Religiöse, ethische und soziale Ideale – Erlösung durch Nichthandeln; soziale Besserstellung durch Nicht-Töten; Reinheit durch Kontaktlosigkeit – wirken damit auf die fundamentalen Akte der Nahrungsgewinnung und des Essens ein. Sie begründen einen Habitus und ein Gesellschaftsideal, die dem sozial kontrollierbaren vor dem unkontrollierbaren, dem sozialen Binnenraum vor dem sozialen Außenraum, dem Dorf vor der Stadt, schließlich der (Familien- und Kasten-) Gemeinschaft vor der Gesellschaft Vorrang einräumen. Jedoch, Indien hat frühzeitig eine Zivilisation der Städte, des Fernhandels, der Regional- und Hegemonialreiche hervorgebracht. In den unterschiedlichsten Bereichen mussten deshalb Anpassungen, also Re-Interpretationen, Abwehrmechanismen und rückwirkende Reinheitsrituale entstehen. Sie sollten die im Kern archaischen Verunreinigungsängste mit den Bestandsnotwendigkeiten einer städtischen oder kosmopolitischen Gesellschaft in Einklang bringen. Diese rituellen und praktischen Anpassungsleistungen haben die Komplexität des Hinduismus gesteigert, sie haben die den Bedrohungsängsten zugrunde liegende Weltsicht allerdings nie zerstört. Auf eine dieser Anpassungsleistungen soll im folgenden eingegangen werden. Sie ist deshalb wichtig, weil sie die Grundangst vor der Befleckung, die davon ausgeht, dass Fremde gemeinsam essen, aufheben kann. An die Stelle der Befleckung tritt dann die Aufwertung und Heiligung und in Konsequenz dieser Umkehrung wird Kommensalität zwischen Fremden und Ungleichen zu bestimmten Anlässen möglich und legitim.

Die Respekt- und Selbstverunreinigung

Der Speiserest, Vicishta, des anderen, des Fremden, darf nicht gegessen werden. Er gilt als in höchstem Maße verunreinigt, da diesem Rest der Speichel, Juthia, des anderen anhaftet. Speichel ist aber, wie fast alle Körperausscheidungen eine in höchstem Maße befleckende Substanz. Seit altersher gilt aber in dieser von Hierarchie und Verunreinigungsangst geprägten Gesellschaft eine Umkehrung dieses Prinzips: die aus Respektgründen unternommene freiwillige Selbstverunreinigung. Der soziale Radius dieser Selbstverunreinigung ist allerdings begrenzt. Selbstverunreinigung wird nur unternommen in jenen Situationen, wo das Berührungsverbot verletzt werden kann, ohne dass die grundlegende rituelle, religiöse und soziale Logik des Kastensystems infrage gestellt wird. Mit anderen Worten, Selbstverunreinigung verspricht dann Ehre und demonstriert dann Respekt, wenn Speisereste und Speichel von einer Person kommen, die so vollkommen rein und übermächtig ist, dass diese Reste und dieser Speichel heiligen, also ihrerseits reinigen. So kann oder muss die Frau die Speisereste ihres Mannes oder von seinem Teller essen – sie erweist ihm dadurch Respekt.

Die Selbstverunreinigung aus Respektgründen erweist sich damit im familiären Alltag als ein generelles Prinzip, aufgrund dessen der jeweils Untergeordnete von einem Höhergestellten Speise, allerdings keine Reste, entgegennehmen kann: der Jüngere vom Älteren, die Frau vom Mann, der Rangniedere vom Ranghöheren. Ihren entscheidenden und religiös exaltierten Ausdruck findet die Selbstverunreinigung aber gegenüber den Göttern, im Tempelkult und dabei insbesondere gegenüber den vishnuitischen Gottheiten. Die vishnuitischen Gottheiten werden fast ausschließlich als Figurengottheiten und als diesseitige Herrscher gedacht, dargestellt, verehrt und bewirtet.

Die Tempelküche, die Speisezubereitung und die Bewirtung der Gottheit nehmen einen entscheidenden Stellenwert im Grundriss, Tagesablauf und Ritual des Tempels ein. Sie orientieren sich damit an brahmanischen Reinheitsvorschriften, setzen diese als Maßstab und legitimieren ein weiteres Mal diese exklusiven brahmanischen Praktiken. Nachdem der Gott aber gegessen hat, normalerweise alleine, im dazu abgeschlossenen Sanktum und nachdem er durch "Ansehen" die Speise zu Speiseresten und Speichel transformiert hat, wird diese an die Gläubigen verteilt und von ihnen gemeinsam, zumeist im Tempel gegessen. Speiserest und Speichel gelten jetzt als "Gnade", Prasad, und der Gläubige kann ohne Angst vor Verunreinigung diese Speise im Tempelbezirk auch mit anderen, mit Fremden, essen. Eine vergleichbare Umkehrung gilt auch für das Fußwasser, "Paduka", das Abwasser, das nach der Körper- und Fußwaschung des Gottes zurückbleibt und das dem Gläubigen zum Trinken gegeben wird.

Da allerdings am Reinheitsstatus orientierte Verbote den Unberührbaren, den Fischern und den Stammesangehörigen den Tempelbesuch verwehren und da die einzelnen Pilgergruppen oft gesondert Platz nehmen, verliert diese kollektive "Respektverunreinigung" in konventionellen Vishnu-Tempeln und Wallfahrtsstädten ihr nachhaltiges Verunreinigungspotential: Speiserest als Prasad heiligt, also "ehr-verunreinigt" den Gläubigen, dieser setzt sich aber nur in geringem Maße einer weiteren, einer "horizontalen" Verunreinigung seitens fremder Pilger und Tempelbesucher aus. (E. Harper 1964) Die konventionelle, im Tempelkult etablierte Selbstverunreinigung bricht damit nicht grundlegend mit den für die Kastengesellschaft und das soziale Neben- und Gegeneinander so fundamentalen Reinheitsnormen und Kommensalitätsverboten. Von dieser Tradition, Respektverunreinigung gegenüber einem Gott mit der Abwehr von ritueller Verunreinigung seitens der anderen in Einklang zu bringen, weicht lediglich ein Tempelkult, derjenige des Jagannath im nordindischen Orissa ab. Es ist deshalb wert, diesen Speisekult, dessen Breitenwirkung und den daraus resultierenden Aufstieg dieser Tempelstadt zu analysieren.

 

Fortsetzung: Indische Speiserituale und die Speise des Herrn der Welt (II)

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .

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