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Am Abend vor diesem Interview stand die 19-jährige Zila Khan im indischen Lucknow zuerst für eine Striptease-Version des erotischen Mujra-Tanzes auf der Bühne, ehe sie dann gegen ein Gebot von 10.000 Rupien für den Rest der Nacht an einen der Zuschauer versteigert wurde.
Khan arbeitet sonst auf dem Straßenstrich der Linking Road im hippen Bandra-Viertel von Mumbai. Sie sagt, sie sei vergangenes Jahr auf HIV getestet worden und wie mutmaßlich 70 Prozent der indischen Sexarbeiterinnen besteht sie nicht auf Kondome: Weil beide Tests negativ waren, versteife sie sich nicht mehr auf das harmlose Stückchen Gummi, das ihr das Leben retten könnte.
Sexarbeit ist in Indien illegal, das führt zu einer hohen Dunkelziffer und verhindert Untersuchungen mit verlässlichen Zahlen. Glaubt man jedoch einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2003, dann sind möglicherweise bis zu 1,1 Prozent der erwachsenen indischen Frauen in der Sexindustrie tätig. Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage eigener Erhebungen schätzt die National AIDS Control Organization (NACO), dass 2003 fast 71.000 Menschen in der indischen Sexindustrie HIV-positiv oder an AIDS erkrankt waren - eine eher konservative Schätzung. Ständige Polizeirazzien sind der Grund für die Mehrheit der nicht in einem Bordell arbeitenden "fliegenden" Sexarbeiterinnen, sich lieber nicht zu offenbaren. Dies aber wäre Voraussetzung, um von den Sozialarbeitern, die vor Ort mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, gegen Geschlechtskrankheiten behandelt zu werden oder Kondome und Training in Verhandlungsstrategien mit Freiern zu erhalten. Sogar nach der Infektion mit HIV wird diese Haltung oft nicht aufgeben und selbst wer um die Erkrankung weiß, verschweigt sie aus Furcht vor dem Verlust der einzigen Einnahmequelle den Freiern und praktiziert weiterhin hochriskanten Sex.
Die Menschen, die in Indiens Sexindustrie arbeiten, sind also nur zahlenmäßig stark. Nicht einmal innerhalb der sozialen Gruppierungen die sich sowieso schon am Rande der Mainstream-Kultur angesiedelt haben, können sie sich sicher fühlen, egal ob sie weiblich, männlich oder Hijra (das ist das in Indien recht verbreitete sogenannte dritte Geschlecht) sind. Die "gefährlichen Kastenlosen", wie die Schriftstellerin Sumanta Banerjee sie treffend nennt, erregen kaum Mitleid, vielmehr werden Menschenhandel, Armut, schlechte Gesundheit, widerrechtliche Verhaftungen, körperliche Misshandlungen und gesellschaftliche Stigmatisierung als Risiken eines Jobs abgetan, die zu einem illegalen und tabuisierten Dienstleistungsgewerbe halt dazugehören. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in Mumbai, der anonym bleiben will, berichtet über die traumatische Erfahrung einer Sexarbeiterin, deren Partner herausfand, dass sie HIV-positiv war: sie wurde zusammengeschlagen, auf ein freies Feld in der Nähe ihrer Slum-Unterkunft gezerrt, mit Kerosin übergossen und angezündet. Mit Mühe und Not überlebte sie, als der Helfer jedoch im Slum für ihre Unterstützung werben wollte, wurde durch das ihm entgegenschlagende Schweigen eindeutig signalisiert, dass seine Geschichte weder neu noch irgendwie bedenkenswert war.
Im Rotlichtviertel Kamathipura, wo zur Abenddämmerung die schwarze Seite Mumbais hervorkommt, wo Sex, Armut, Gewalt und Kriminalität das Leben auf den Strassen ausbluten lassen, zieht die erst 21-jährige Hijra-Sexarbeiterin Neelam Bilanz: "Prostituierte haben absolut Nichts. Wir könnten auch tot sein." Neelams Mutter starb an AIDS, als die Tochter 14 war und auch wenn Neelam heutzutage Safer Sex praktiziert, so tat sie dies nicht in dem Jahrzehnt bevor sie Hijra wurde und jede Nacht in Kinosälen Männern zu Diensten war. Vier Tests auf HIV sind bei Neelam gemacht worden, nicht ein einziges Mal hat sie die Ergebnisse abgeholt: Für ihr zerbrechliches Leben sei es manchmal "besser, die Wahrheit nicht zu kennen."
Seitdem im Jahr 1992 mit der NACO eine erste staatliche Behörde zur Formulierung einer HIV/AIDS-Sensibilisierungsstrategie geschaffen wurde und sich internationale Organisationen wie die Bill & Melinda Gates-Foundation, die 2003 eine Zusage über 258 Millionen US-Dollar gemacht hat, in Indien engagieren, hat sich die Reaktion auf die Krankheit jedoch verändert. Heute wirken besonders Sexarbeiterinnen selber als positive Vorbilder in peer-to-peer-Aufklärungskampagnen mit: Die Menschen in der Sexindustrie werden nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Fremden behelligt, sondern von Mitgliedern ihrer eigenen sozialen Gemeinschaft angesprochen.
Zu den Organisationen, die erfolgreich dieses Konzept praktizieren, gehört Sampada Gramin Mahila Sanstha (SANGRAM), eine HIV/AIDS-Hilfsorganisation, die 2002 von der Human-Rights-Watch-Preisträgerin Meena Saraswathi Seshu gegründet wurde. So verteilen 100 Sexarbeiterinnen in sieben Distrikten von Maharashtra wöchentlich 300.000 Kondome an Kolleginnen - und machen dabei Aufklärungsarbeit. Sashikant Mane von SANGRAM erklärt: "Die meisten Menschen, die in der Sexindustrie arbeiten, sind Analphabeten und wissen nicht einmal, dass sie stigmatisiert sind oder ihnen grundlegende Rechte verwehrt werden. So kommt eine Sexarbeiterin oft nicht einmal auf die Idee, dass ein Goonda, ein Schläger, der für die Zuhälter arbeitet und in ihr Haus eindringt und sie vergewaltigt, dies bei anderen Leuten nicht tun würde. Doch bevor Du solche Fragen besprechen kannst, musst Du zuerst ihr Vertrauen gewinnen, Diskretion versprechen und handfeste Unterstützung anbieten. Niemand kann das besser, als ein Mensch, der auch in der Sexindustrie arbeitet."
60.000 Menschen, die in Kolkatas Sexindustrie arbeiten, sind beim Durbar Mahila Samanway Committee (DMSC) registriert - früher gehörte auch dessen Programmdirektorin Bharati Dey dazu. Das Sonagachi-Projekt des DMSC ist von UNAIDS als Best-Practice-Modell ausgezeichnet worden, und die Organisation hat schon 1992 erkannt, dass die Einbindung von Betroffenen wesentliche Voraussetzung ist für jede Hilfsarbeit größeren Umfangs. Sexarbeiterinnen, von denen viele ihrem Gewerbe auch noch nachgehen, nachdem sie aktive Mitglieder des Projekts wurden, schwärmen aus in die Bordelle des Rotlicht-Milieus von Sonagachi und verteilen je nach Häufigkeit des Verkehrs Kondome an etwa 10.000 Frauen: Wer etwa angibt, vier Freier die Woche zu haben, bekommt nicht mehr als fünf oder sechs Kondome, um Missbrauch zu vermeiden. Sapna Gayen vom DMSC fasst zusammen: "Das DMSC wollte immer uns Menschen in der Sexindustrie die Führung überlassen. Nur wenn wir die Kontrolle haben, können die Veränderungen notwendig und nicht nur symbolisch sein."
Die Kontrolle zu haben, ist für Sexarbeiterinnen ein seltenes Gut. Das erklärt die Anziehungskraft von Organisationen wie SANGRAM oder DMSC. Die Mehrheit hat ja nicht freiwillig in der Sexindustrie angefangen, obwohl sie nach Jahren in dem Gewerbe wahrscheinlich glauben, dass es sicherer sei, in diesem sozialen Umfeld zu bleiben. Und in Anbetracht ihres Werdegangs und weiterer Benachteiligungen wie Analphabetismus, glauben sie auch, es sei ihre einzige Alternative. Dieser Kontrollverlust beginnt früh, wenn die Mädchen aus den Bundesstaaten wie West Bengalen und Bihar, üblicherweise im Alter von acht bis 16 Jahren, in die Sexindustrien von Maharashtra, Andhra Pradesh, Tamil Nadu oder Karnataka verschleppt werden. Bei Stämmen wie den Bedia werden die Mädchen regelrecht für die Sexarbeit und zum Tanzen ausgebildet und ihre Jungfräulichkeit wird für bis zu 100.000 Rupien versteigert. Und wenn ältere Frauen freiwillig und oft mit einem "Agenten" das Gewerbe ergreifen, so ist das aus Armut oder weil ihre Ehemänner sie verlassen haben oder gestorben sind.
Ein Ermittler für die Rescue Foundation in Mumbai, der anonym bleiben will, erklärte mir, wie der Teufelskreis des Frauenhandels deren Versklavung perpetuiert: "In den ersten Wochen nach ihrer Ankunft wird das Mädchen geschlagen, missbraucht und verspottet, dass sie nie wird entkommen können. Mit der der Zeit resigniert sie, ist glücklich mit dem verdienten Geld und vergisst den Wunsch nach Heimkehr. Und wenn sie alt genug ist, gibt es nur noch eine Arbeit, die sie machen kann: Sie kehrt in ihr Heimatdorf zurück und verführt die jungen Mädchen mit Erzählungen über Mumbais Reichtum dazu, von zu Hause auszureißen. So werden sie in das Bordell verschleppt, das sie für sich selber aufgemacht hat."
Zwangsprostituierte Frauen sind von HIV noch stärker bedroht als freiwillige Sexarbeiterinnen. Der Nachschub von tausenden von Frauen jedes Jahr in die Bordelle erfolgt durch ein mächtiges kriminelles Netzwerk, das darauf achtet, dass die verschleppten Mädchen kaum mit der Außenwelt in Kontakt treten können. Logischerweise wird dadurch auch der Zugang zu Kondomen, Gesundheitschecks oder nur Informationen über alltägliche Gesundheitsrisiken unterbunden, was letztendlich Lebensgefahr für sie und andere Menschen bedeutet. Ein Mädchen, das HIV-positiv ist, aber gesund erscheint, verrichtet weiterhin sexuelle Dienstleistungen. Nachdem sie ja für mehr als 25.000 Rupien gekauft worden ist, muss sie erst einmal ihre Schulden bezahlen. Bevor dies erledigt ist - und das kann je nach Laune des Bordellbesitzers bis zu 15 Jahre dauern - wird sie nicht freikommen.
Als ich Sashikant Mane fragte, ob SANGRAM von HIV-positiven oder an AIDS erkrankten Sexarbeiterinnen verlangt, mit ihrer Arbeit aufzuhören, erklärt er, dies würde eine Verletzung ihres Rechts auf freie Selbstbestimmung bedeuten, aber "wir bitten sie, ein Kondom zu benutzen". Natürlich infizieren diejenigen, die weiterhin ohne Kondom Sexarbeit praktizieren, auch einige ihrer Freier, die wiederum ihre eigenen Partner anstecken. So gehören ironischerweise verheiratete Frauen in Indien zu den Hochrisikogruppen für HIV.
Sexarbeiterinnen Vorwürfe zu machen, weil sie ohne Kondom arbeiten, wäre jedoch, als ob man den verschleppten Zwangsprostituierten vorwirft, dass sie in der Sexindustrie arbeiten und würde unterstellen, die Mädchen hätten eine Wahl. Die 24-jährige Lucky, die ihre Dienste in einem Park in Mumbais Vorort Vashi anbietet, wurde von einem wütenden Freier mit einem Stein geschlagen, nachdem sie gewagt hatte, ihn zu bitten, ein Kondom zu benutzen. Obwohl sie stark blutete, zwang er sie dann zu ungeschütztem Verkehr und ließ sie hilflos zurück. Die Wunde musste mit zwölf Stichen genäht werden, einen HIV-Test hat sie bis heute nicht gemacht. Dennoch ist es die Polizei, die sie als größte Bedrohung empfindet: Gruppen von zwei oder mehr Polizisten zerren Sexarbeiterinnen in ihren Streifenwagen oder in ein Gebüsch und vergewaltigen sie die ganze Nacht lang. "Hame bina condom ka sex chahiye!" ("Wir wollen Sex ohne Kondom!"), verlangen sie, berichtet Lucky. Wenn ein Mädchen sich weigert, wird sie verprügelt und vergewaltigt - ohne Kondom. Die andere Gefahr sind "Tapori Log", die Goonda-Schläger. Bis zu 15 dieser jungen Männer greifen die Sexarbeiterinnen mit Knüppeln oder Stichwaffen an und vergewaltigen sie mit vorgehaltenem Messer. Als ich sie frage: "Wie oft hast Du Sex ohne Kondom?", starrt sie mich an. "Wenn ich die Wahl habe: nie. Wenn mir aber jemand ein Messer an die Kehle hält: immer."
In Mumbai arbeitet Prabha Desai, Vorsitzender des Sanmitra Trust, als Beistand für eine nicht einmal 25-jährige Sexarbeiterin aus Benagalen, die HIV-positiv ist und deshalb von ihrem einzigen Verwandten, ihrem Bruder, verlassen wurde. Desai begleitet sie zum städtischen Jyoti-AIDS-Hospiz, wo sie bleiben und eine antiretrovirale Behandlung bekommen soll. Desai erinnert sich, dass noch vor einigen Jahren HIV/AIDS-positive Sexarbeiterinnen ihren Zustand leugneten, bis sie völlig hinfällig waren und manchmal nur einen Tag nach ihrer Rettung dann starben. "Die Sexarbeiterinnen sind die schwächste soziale Gruppe", gesteht Desai, "denn auch wenn ein gesteigertes Problembewusstsein die gesamtgesellschaftliche Lage verbessert hat, so hilft das einer Sexarbeiterin nicht, die keinen Verhandlungsspielraum hat, wenn es darum geht, einen Freier abzuweisen, der kein Kondom benutzen will. Sexarbeit ist mit einem Stigma behaftet und HIV/AIDS hat die Lage noch brenzliger gemacht. Sexarbeit soll nicht legalisiert werden, aber auch nicht illegalisiert. Es ist ein legitimes Gewerbe, aber so lange das Stigma da ist und bei Polizeirazzien die Sexarbeiterinnen schikaniert werden, so lange werden sie nicht verwurzelt sein, verletzlich und unterprivilegiert, ihrer Gesundheit schaden und nicht einmal in der Schlange am staatlichen Krankenhaus auftauchen."
Sogar unter den Marginalisierten und Misshandelten gibt es Menschen, die noch schlechter dastehen als andere. So ist es mit den Sexarbeiterinnen in Indien. Erscheint uns ihr Leben schon als ein schrecklicher Alptraum, so ist ihre Machtlosigkeit, sich beim Bestreiten ihres Lebensunterhalts vor HIV zu schützen, noch viel mehr das Leben und Sterben dieses Alptraums.
Die Namen der Sexarbeiterinnen wurden geändert.
(Übersetzung: Markus Müller-van Heek)
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