Inhalt

16. März 2007. Analysen: Indien - Geschichte & Religion Der Adigranth

Der Adigranth ("Buch des Uranfänglichen") gilt in der Religion des Sikhismus als Gurbani ("Ausspruch der Meister") und als das "heilige Buch" schlechthin. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Anthologie, die im Kern auf die vom Gründer der Sikh-Religion Guru Nanak (1469-1539) liturgisch verwendeten Hymnen zurückgeht.

Mul-Mantar
Mul-Mantar in einer illuminierten Handschrift des 18. Jahrhunderts (Pothikhana des SGPC, Amritsar) Foto: Heinz Werner Wessler

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass der heute geläufige Text der überlieferten Hymnen vom Beginn des 18. Jahrhunderts auf eine komplexe Redaktionsgeschichte zurückgeht, die sich bis in die Lebenszeit Guru Nanaks zurückverfolgen lässt. Die Verfasser des Adigranth sind zum einen Guru Nanak und die übrigen neuen Gurus der Sikh-Religion, zum anderen aber auch zahlreiche so genannte Bhagats (Dichter-Heiligen verschiedener Traditionen und Epochen), deren Dichtungen im 16. Jahrhundert in ganz Nordindien und mit unterschiedlichen theologischen Ausrichtungen gesungen und vorgetragen wurden. Der Adigranth ist somit ein bedeutendes Dokument interreligiöser Spiritualität.

Die Dichtungen sind sprachlich unterschiedlichen Charakters. Überwiegend sind sie in einer dem Braj-Dialekt des Hindi nahe stehenden Version der gängigen Ausdrucksform herumziehender Wanderasketen verfasst - eine Mischsprache, die in weiten Regionen Nord- und Zentralindiens halbwegs verständlich war. Die gängigen gedruckten Ausgaben, vor allem die zum liturgischen Gebrauch, sind in einer Gurumukhi ("aus dem Mund des Guru") genannten Schrift geschrieben, deren 35 Buchstaben gemäß der Tradition von Guru Angad (1504-1552) entwickelt wurden. Diese einfach zu erlernende Schrift, aus einer älteren Form des Devanagari-Alphabets hervorgegangen, hat sich über den Bereich der religiösen Sikh-Literatur hinaus weit verbreitet und gilt seit 1966 als Standardschrift des indischen Punjabi. Die Punjabi-sprachige Bevölkerungsmehrheit im heutigen Pakistan verwendet dagegen hauptsächlich Urdu als Schriftsprache. Sofern Pandschabi geschrieben wird, verwendet man einer alten Tradition folgend eine angepasste persisch-arabische Schrift. Vor der Unabhängigkeit (1947) waren auch Adigranth-Ausgaben in persisch-arabischer Schrift verbreitet. Abgesehen von den Gurumukhi-Ausgaben gibt es in Indien auch Textausgaben religiöser Sikh-Literatur in Devanagari-Schrift. Der Einfluss des Punjabi auf die Sprache des "heiligen Buchs" der Sikhs ist eher als gering einzustufen, wenn er auch etwa bei den Guru Nanak zugeschriebenen Texten durchaus spürbar ist. Erst in den auf die Kompilation des Adigranth folgenden Jahrhunderten und vollends erst im späten 19. Jahrhundert identifiziert sich der Sikhismus mit dem Punjabi als "seiner" Sprache.

Harmandir
Der Harmandir ist das zentrale Heiligtum der Sikh-Religion. Foto: Heinz Werner Wessler

Handschriftliche Ausgaben werden nach wie vor hoch geschätzt und in den Sikh Gurdvaras ("Tor des Gurus", religiöse Andachtsstätten) bevorzugt. Die seit dem frühen 20. Jahrhundert übliche gedruckte Standardausgabe des „Adi Sri Guru Granth Sahibji" - sinngemäß: "Der verehrungswürdige Meister, das originale Buch", so die gängige quasi offizielle Bezeichnung - zählt 1430 Seiten. Sie beginnt mit dem berühmten Mul mantar, einer aus zwölf Worten bestehenden Zusammenfassung des sikhistischen Glaubens: "Ein Gott, der Name Wahrheit, der Schöpfer, furchtlos, ohne Hass, der sich als der Zeitlose manifestiert, nicht inkarnierend, in sich selbst existent, durch des Gurus Gnade [vermittelt]". Autoren ohne direkten Sikh-Hintergrund, deren Dichtungen im Adigranth überliefert sind, werden pauschal Bhagat genannt und haben damit quasi kanonische Geltung. Fast der gesamte Adigranth stellt den buchstabengenauen Textbestand dar, wie er von Guru Arjan (1563-1606) zusammengestellt und 1604 im Goldenen Tempel in Amritsar (Punjab) eingesetzt wurde.

Abgesehen von den Dichtungen aus der eigentlichen Sikh-Tradition, davon 2216 Guru Arjan sowie 974 Guru Nanak zugeschrieben, enthält der Adigranth Dichtungen von 15 solcher Bhagats. Der älteste unter diesen Dichtern ist Shaikh Farid, genannt Baba Farid ("Vater Farid"), von Pak Pattan (13. Jahrhundert), der Gründer einer eigenen sufistischen Schultradition. Prominent vertreten ist Beni, ein dem Hatha Yoga offenbar nahe stehender Zeitgenosse Kabirs (ebenfalls im Adigranth vertreten) und wie jener Vertreter einer Theologie der Gestaltlosigkeit Gottes, die krischnaitische Ekstatikerin Mirabai und der wohl berühmteste volkssprachliche Dichter der krishnaitischen Tradition, Surdas.

Bibliothek-SGPC
Balwinder Singh, Leiter der Forschungsabteilung des SGPC (Amritsar) zusammen mit dem Autor in der Bibliothek. Foto: Heinz Werner Wessler

Die im Adigranth enthaltenen 5894 Dichtungen sind nicht nach inhaltlichen Kriterien oder nach Autoren, sondern nach Rags geordnet, den Melodiemustern für den musikalischen Vortrag der Hymnen. Es handelt sich um insgesamt 31 solcher Melodiemuster, denen entsprechende Abschnitte zugeordnet sind und die jeweils mit dem Mul mantar beginnen und mit den Gesängen der Bhagats enden. Die liturgische Rezitation (kirtan) ist antiphonal: Die Dichtung beginnt mit dem Refrain, den die Gemeinde in der Regel nach jedem Vers des Vorsängers wiederholt. Der Schlussabschnitt (Seiten 1353-1430) besteht aus verschiedenen Kompositionen und einer Liste der verwendeten Melodiemuster.

Die heute übliche als "Damdami Bir" bezeichnete Rezension des Adigranth stammt vom zehnten und letzten Guru der Sikh-Tradition, Gobind Singh (1666-1708). Sie wurde 1706 erstellt und enthält zusätzlich zum Bestand von 1604 59 Hymnen und 56 Kurzverse des neunten Gurus Tegh Bahadur (1621-1675). Diese Standardversion des Adigranth mit Dichtungen von insgesamt 36 namentlich genannten Autoren diktierte Gobind Singh der Tradition gemäß aus dem Gedächtnis, nachdem ihm seine ihm feindlich gesonnenen Verwandten den Zugang zum Kartarpur-Manuskript verweigert hatten. Nachdem seine Söhne früh ums Leben gekommen waren, inthronisierte der zehnte Guru Gobind Singh diese Version des Adigranth feierlich anstelle eines menschlichen Nachfolgers. Seit dem Tod Guru Gobind Singhs 1708 wird das Buch daher gleichsam wie der lebende Guru in den Gebetsstätten der Sikhs liturgisch verehrt, auf ein Kissen gebettet, mit Tüchern bedeckt, mit einem Ehrenschirm versehen, abends gebettet und morgens feierlich aufgeweckt, beim Transport stets auf dem Kopf getragen.

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.

Hinweis: Für Kommentare sind die Autoren verantwortlich.

Der Adigranth

Posted by: Lothar Handrich am 09. Dezember 2007:

Lieber Herr Wessler, gibt es vom 6.7.8.und 10. Guru wirklich Texte im Guru Granth Sahib?. Nach meinen Forschungen in Amritsar hatte ich bislang andere Infos. Beste Grüße L. Handrich