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Es hätte sich alles zum Guten wenden können. Im Jahr 1990/91 wurde das parteilose und autokratische Panchayat-System durch eine Mehrparteiendemokratie und konstitutionelle Monarchie ersetzt. 200 Jahre nach Staatsgründung hatten die nepalischen Staatsbürger nun das Recht, gesetzlich gleichgestellt, eine Regierung zu wählen und - noch viel wichtiger - wieder abzuwählen. Die Legitimation der Staatsregierung lag in den Händen des Volkes.
Doch schnell platzte der Traum von einer besseren Zukunft. Alte Gesellschaftsstrukturen konnten nur schwer aufgebrochen werden, die erhofften ökonomischen Fortschritte blieben aus und die Demokratisierung führte in erster Linie zu mehr Instabilität des politischen Systems. Bis heute nämlich ist der Großteil der Bevölkerung, v.a. ethnische Gruppen, zahlreiche Handwerkerkasten (auch "Unberührbare") und Frauen v.a. konservativer, hinduistischer Familien starken Diskriminierungen ausgesetzt. Darüber hinaus zählt Nepal zu einem der ärmsten Ländern der Erde (Rang 140 von 177 aufgeführten Ländern im Human Development Report 2004 des United Nations Development Programmes (UNDP)). Laut Nepal Human Development Report (NHDR) leben 42% oder 9,7 Mio. Menschen unterhalb der Armutsgrenze (NHDR 2001: 2). Das Parteiensystem ist dabei vorwiegend geprägt von Korruption, Vetternwirtschaft, innerparteilichen Machtkämpfen und einer generellen Fraktionierung. In etlichen Fünf-Jahres-Plänen wurden zwar die Probleme des Landes angesprochen, jedoch nie praktisch in Angriff genommen.
Zwei Ereignisse haben dabei die aktuelle Situation der Bevölkerung Nepals am nachhaltigsten negativ beeinflusst. Zum einen die Waffenergreifung der Communist Party of Nepal (Maoist) (CPN-M) am 13. Februar 1996. Zum anderen die radikale Beschneidung der Demokratie durch König Gyanendra nach seinem Amtsantritt.
Als die Maoisten bei den Wahlen 1991, damals als Communist Party of Nepal (Unity Centre) (UC), mit ihrem parlamentarischen Arm United People´s Front (UPF) lediglich neun von 205 Sitzen erhielten, wurden Stimmen in ihren Reihen lauter, dass das Parlament nicht das geeignete Instrument sei, um die notwendigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zu erreichen. Bereits 1991 formulierte der Flügel unter der Leitung von Pushpa Kamal Dahal (später bekannt als Prachanda) den "Marxism-Leninism-Maoism as the ideological guide of the Party and the path of protracted 'people´s war'; with the strategy of encircling the city from the countryside and in which guerilla war will have a strategic role as the only path of New Democratic revolution in the country" (Thapa 2002: 81). 1994 folgte dann die entgültige Abspaltung des von Prachanda geführten UC, als zusätzlich die Wahlkommission die UPF hinderte, an den Wahlen teilzunehmen.
Gleichzeitig war es bereits in den frühen 1990ern im mittleren Westen des Landes zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern verschiedener Parteien (vorwiegend Nepali Congress (NC) vs. UPF) gekommen. Die Lage spitzte sich weiter zu, als der Nepali Congress 1995 die Polizeiaktion "Romeo" (R für den Distrikt Rolpa) anordnete, um gegen UPF-Sympathisanten im mittleren Westen Nepals vorzugehen. Die nepalische Menschenrechtsorganisation Informal Sector Service Centre (INSEC) dokumentierte im Human Rights Yearbook von 1995:
"The government initiated [...] suppressive operations to a degree of state terror. Especially, the workers of United People´s Front were brutally suppressed. Under the direct leadership of ruling party workers of the locality, police searched, tortured and arrested, without arrest warrents, in 11 villages of the district. Nearly 6000 locals had left the villages due to the police operation. One hundred and thirty-two people were arrested [...]. All the detained were subjected to torture."
Nach "Romeo" und der Entscheidung der Wahlkommission beschloss die von Prachanda geleitete Fraktion, die anstehenden Wahlen zu boykottieren und ihren Kampf im Untergrund fortzusetzen. Einmal mehr wurde hier deutlich, wie sinnlos und contraproduktiv gewalttätige Präventiv-Maßnahmen wirklich sind.
Im März 1995 wurde die UC-Fraktion und die UPF in Communist Party of Nepal (Maoist) umbenannt. Mit einem Katalog von 40 Forderungen (mittlerweile nur noch 24) traten die Maoisten für eine Abschaffung der Monarchie, eine verfassungsgebende Versammlung, einen säkularen Staat, die Abschaffung von Diskriminierung, Dezentralisierung, Meinungsfreiheit, die Verbesserung staatlicher Serviceleistungen und ein Ende des "imperialistischen" (USA) und "expansionistischen" (Indien) Einflusses ein. Vier Tage vor Verstreichen des von ihnen der Regierung gesetzten Ultimatums ergriffen sie die Waffen.
Das zweite Ereignis war die Zentralisierung der Macht durch König Gyanendra. Nach dem Massaker im Königshaus ließ er sich am 4. Juni 2001 zum König krönen und versprach ein "aktiver Monarch" zu werden. Dies bedeutete für ihn, sich nicht wie sein Vorgänger König Birendra auf die Rolle eines konstitutionellen und damit vorwiegend repräsentativen Monarchen beschränken zu lassen. Statt dessen beschnitt er die Demokratie Nepals weitgehend.
Nach der Beendigung der ersten Friedensverhandlungen im November 2001 durch die Maoisten antwortete die Regierung mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes, was de facto einen ersten Machtzuwachs der Exekutive bedeutete. Allen voran konnte die damalige Deuba-Regierung und der König nun die Armee im Landesinneren einsetzen. Nepal befand sich offiziell im Bürgerkrieg. Als für eine Verlängerung des Ausnahmezustandes keine Mehrheit im Parlament erreichbar schien, löste Gyanendra dieses am 22. Mai 2002 auf und stellte Neuwahlen in Aussicht. Nachdem diese jedoch bis Oktober desselben Jahres immer noch nicht stattgefunden hatten, entließ Gyanendra auch noch Premierminister Sher Bahadur Deuba "wegen Unfähigkeit" und setzte Lokendra Bahadur Chand ohne jede demokratische Legitimation ein. Nach dessen Scheitern und Rücktritt am 30. Mai 2003 folgte die ebenso illegitime Ernennung Surya Bahadur Thapas bzw. im Juni 2004 die Wiederernennung Deubas. So gibt es seit Mai 2002 keine gewählten Vertreter auf nationaler Ebene mehr. Lokale Repräsentanten sind seit Juli 2002 abgesetzt. Seit Oktober 2002 gibt es keine demokratisch gewählte und einem Parlament gegenüber verantwortliche Regierung mehr. Die exekutive Macht und Souveränität liegt in den Händen des Königs. Mit dem Militär hinter sich gleicht die Herrschaft Gyanendras heute eher einer Diktatur als einer Demokratie.
Als schwerwiegendste Folgen des maoistischen Konflikts und der Entdemokratisierung Nepals sind die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen aller Konfliktparteien zu nennen, wie Entführungen, Vergewaltigungen und Mord, aber auch zwangsweise Abgaben, Arbeiten, Rekrutierung und Migration. Laut INSEC sind im Zusammenhang mit dem maoistischen "Volkskrieg" bisher über 10.000 Menschen gestorben, wobei etwa zwei Drittel von staatlichen Sicherheitskräften getötet wurden. Allein im Jahr 2003 wurden von den Maoisten über 1.200 Menschen entführt. Die Zahlen für 2004 dürften noch deutlich höher liegen, wurden allein bei einer Aktion der Maoisten im März 2.000 vorwiegend junge Menschen entführt (Süddeutsche Zeitung 10.04.2004: 8). Durch die Armee wurden zahlreiche Personen verhaftet, von denen 368 als "verschwunden" gelten. 2002 wurden weltweit aus Nepal die häufigsten Fälle von "Verschwindenlassen" gemeldet.
Unter Beobachtern sind sich heute weitgehend einig, dass eine militärische Lösung des Konflikts unmöglich ist und eine Befriedung ohne Rückkehr zur Demokratie nicht erfolgen kann. Nachdem der Anfang 2003 eingeleitete Friedensprozess allerdings im August desselben Jahres zusammenbrach und der Konflikt wieder eskalierte, scheint eine internationale Vermittlung immer dringlicher.
Obwohl die Verfassung von 1990 zwar zu zahlreichen Veränderungen des politischen Systems geführt hatte, konnte sie bereits damals nur als ein erster Schritt in Richtung Demokratisierung gesehen werden. Bis heute lastet der lange Schatten der im Muluki Ain von 1854 festgeschriebenen Gesellschaftsordnung auf Nepal. Dieses Gesetzbuch legitimierte den Herrschaftsanspruch der Shah-Dynastie durch den Hinduismus (der König als Wiedergeburt Vishnus) und sah vor, die nepalische Gesellschaft durch ein Kastensystem zu stratifizieren. In einer vom indischen Kastenwesen etwas abweichenden Form wurden dabei die zahlreichen ethnischen Gruppen in Nepal (nach der Klassifikation von Gurung (2001) beheimatet Nepal mindestens 35 ethnische Gruppen und 36 Kasten) je nach ihrer Anpassung an die hinduistische Lebensweise in das Kastenwesen integriert. Immer aber wurden die ethnischen Gruppen unter den hohen Hindu-Kasten der Bahun, Thakuri und Chetri angesiedelt. Trotz einer Überarbeitung im Jahr 1963 (das Kastenwesen wurde zwar nicht offiziell abgeschafft, fand aber keinerlei Erwähnung mehr) muss daher die rechtliche Verankerung dieser hinduistischen Gesellschaftsordnung als eine der Hauptursachen für die heutige Ungleichheit der unterschiedlichen nepalischen Bevölkerungsgruppen und ihre Repräsentation in Politik, Wirtschaft und Verwaltung, im Bildungswesen und in den Sicherheitskräften angesehen werden.
Schon in den 1980er Jahren traten verstärkt Organisationen für die kulturelle und ethnische Vielfalt in Nepal ein. Der Staat ließ dies solange zu, wie die Organisationen nicht politisch agierten. Erst durch das Bekenntnis in der Verfassung von 1990, dass Nepal ein multiethnischer und multilingualer Staat sei, kam es sprunghaft zu einer Fülle von Gründungen ethnisch motivierter Organisationen, die nun auch politisch für den Schutz ihrer Kultur, Sprache und Religion eintraten. Gemäßigte Forderungen zielten darauf, unter Ausnutzung der geltenden politischen und legalen Möglichkeiten die Förderung und den Erhalt der ethnischen Kulturen und Sprachen zu verbessern. Andere Vertreter sahen die Änderung der Verfassung, insbesondere die Abschaffung des Begriffs des Hindu-Staates in der Verfassung, als grundlegendes Problem. Radikalere Forderungen reichten von einer Umstrukturierung des Oberhauses (Rastriya Sabha) zu einem Repräsentationsorgan aller ethnischen Gruppen, über einen Föderalstaat bis hin zur territorialen Unabhängigkeit einzelner Landesteile (Krämer 1994: 4).
Seit die UPF 1992 begann, die ethnisch motivierten Forderungen zu unterstützen, und sie später die Forderung nach einem säkularen Staat in ihre 40 Forderungen (Nr. 18) aufnahm, wird die Debatte auch von anderen Parteien verstärkt geführt. Doch egal, ob es sich nun um die Abschaffung des Hindu-Staats, die Gleichberechtigung von Frauen, die Umgestaltung des Oberhauses in ein Organ, in dem alle Gesellschaftsgruppen des Landes vertreten sind und Mitspracherecht haben, oder um die Erlaubnis eines an eigenen Werten und Interessen orientierten politischen Engagements der im Hindu-Staat benachteiligten Gruppen handelt, nichts davon wurde wirklich in Angriff genommen.
Bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus (Pratini Sabha) von 1994 gingen beispielsweise 86 Sitze (42,0%) an Angehörige der Bahun, 29 (14,1%) an die Chhetri, 11 (5,4%) an die Thakuri und 13 (6,3%) an die Newar. Die Dominanz der hohen Kasten (und Newar) wird deutlich, wenn man die gemeinsam erreichten 68% aller Sitze mit dem Bevölkerungsanteil dieser Gruppen von 36% vergleicht. Dabei hatte sich der Anteil der Chhetri im Vergleich zu den Wahlen 1991 um einen Sitz und der der Bahun sogar um neun Sitze erhöht (Gurung 2001: Appendix O). Bis heute hat sich an diesem Missverhältnis nichts geändert. Die politischen Parteien haben es nicht geschafft, in ihren eigenen Reihen für die notwendige Demokratisierung und eine angemessene Repräsentation der verschiedenen Volksgruppen zu sorgen. Ob Nepali Congress, Communist Party of Nepal (United Marxist-Leninist) (CPN-UML) oder Maoisten, alle Parteien bleiben in erster Linie ein Klub männlicher Angehöriger der hohen Hindukasten.
Dies hat zur Folge, dass die notwendige Demokratisierung und die Beteiligung der breiten Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess bis heute ausblieb, so dass von den immer größeren Summen an Entwicklungsgeldern, die nach 1990 nach Nepal flossen, nur wenig die diskriminierten Bevölkerungsgruppen erreichte (Krämer 2004b: 2). Eine wirkliche Identifikation mit dem Staat Nepal existiert aus diesen Gründen lediglich unter den Eliten des Landes, nicht aber unter der Masse der Bevölkerung.
Neben der politischen Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen gibt es in Nepal ebenfalls eine Benachteiligung im ökonomischen Sinne. Obwohl der Staat trotz des Konfliktes Fortschritte im Ausbau der Infrastruktur machte, um die drastische Armut zu reduzieren, muss auf die sozioökonomischen Disparitäten innerhalb Nepals hingewiesen werden, die in den vergangenen Jahren weiter zugenommen haben. Der positive Trend auf nationaler Ebene verschleiert lediglich, dass der Großteil der Bevölkerung von den jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen unberührt blieb.
Zwischen 1991 und 2000 flossen im Schnitt 27% der staatlichen Gesamtausgaben in soziale Dienste. Mit einem durchschnittlichen Wachstum der Sozialausgaben von 7,8% über diesen Zeitraum hinweg konnte ein zwar langsamer, aber positiver Trend beobachtet werden (NHDR 2001: Annex 3.4/3.5). Flossen beispielsweise in den 1980er Jahren noch etwa 10% des Staatshaushalts in den Bildungsbereich, waren es im Jahr 2001 bereits 13,5%. Gab der Staat also 1991 noch 232 Nepalische Rupien (NR) pro Kopf pro Jahr für Bildung aus, waren es im Jahr 2000 bereits 411 NR (real). Ebenfalls verbessert wurde die Situation durch Investitionen in das Straßen- und Wegenetz und den Bau neuer Schulgebäude. 1995 war für 90% aller Haushalte der Weg in die nächste Grundschule nicht länger als 30 Minuten zu Fuß.
Im Gesundheitswesen zeigt sich ein ähnliches Bild. Lagen die staatlichen Pro-Kopf-Ausgaben im Jahr 1991 noch bei 74 NR, waren es 2000 immerhin 152 NR (real) (NHDR 2001: Annex 3.1). Besonders der physische Zugang hat sich in den letzten zehn Jahren durch die Errichtung von Gesundheitsstationen in jedem Dorf dramatisch verbessert. Bereits 1996 lagen 69% aller Haushalte innerhalb eines Radius von von einer Stunde Fußmarsch bis zur nächsten medizinischen Einrichtung (NHDR 2001: 41).
Dennoch gilt dieser positive Trend nicht in gleichem Maße für alle sozialen Gruppen und geographischen Regionen des Landes: "Within the country itself, certain regions - particularly the mid- and far western hills and mountains - and disadvantaged castes and ethnic groups benefit much less from public services than the more advantaged groups and communities" (NHDR 2001: 47). Bis heute ist die Mehrzahl aller Distrikte nicht an das nationale Straßennetz angeschlossen. Innerhalb der Distrikte dominieren Wege und Pfade. Darüber hinaus beschränken sich auch die staatlichen Service-Dienstleistungen in den Distrikten auf die Stadtgemeinden, während das Hinterland (besonders die Bergregionen) von den staatlichen Mitteln weitgehend abgeschnitten bleibt. Die Gesundheitsstationen und Schulen sind schlecht ausgestattet, die Fachkräfte schlecht ausgebildet. Nach einer Studie des United Nations Children´s Fund (UNICEF) aus dem Jahr 1998 erhielten beispielsweise lediglich 8% der Befragten eine ausreichende medizinische Versorgung (NHDR 2001: 42). Weiterführende Schulen (neben Grundschulen) sind daneben lediglich in wenigen zentralen Örtlichkeiten vorhanden. Der Großteil der Dorfverwaltungen (Village Development Commitees: VDCs) ist mittlerweile von den Maoisten zerstört. Ob Wegenetz, Trinkwasserversorgung oder Bewässerungskanäle, alle physische Infrastruktur wird auf VDC-Ebene in Eigenregie durch die Dorfbewohner in Stand gehalten und aus- bzw. wieder aufgebaut. Teilweise werden sogar die Lehrer direkt von den Dorfbewohnern bezahlt, weil staatliche Mittel fehlen.
Zusätzlich stellt sich die Sicherung des Lebensunterhalts als täglicher Kampf ums Überleben dar. Noch heute betreiben rund 80% der Gesamtbevölkerung Nepals Landwirtschaft und Kleinviehzucht für den Eigenbedarf. Da die Landressourcen knapp sind und klimatische Faktoren wie Hagelstürme und Bodenerosion zu Einbußen in der Ernte führen, bedarf es zusätzlicher Einnahmequellen, die durch das Transportieren von Lebensmitteln, das Arbeiten auf den Feldern von Großgrundbesitzern oder die Arbeitsmigration in Länder das nahen Ostens und Südostasiens erwirtschaftet werden. Der Militärdienst in der indischen oder der britischen Armee (Gorkha Regiment) gilt dabei als besonders lukrativ.
Trotz der Bemühungen seitens der Regierung, die Lebensverhältnisse auf dem Land zu verbessern, blieben diese weit hinter den Erwartungen zurück. Im Zuge des Agriculture Perspective Plans von 1995, der zu einer gesteigerten Produktivität des landwirtschaftlichen Sektors führen sollte, wurden die öffentlichen Ausgaben für die Landwirtschaft sogar reduziert. Der Abbau von Subventionen für Düngemittel und kleine Bewässerungssysteme traf darüber hinaus ebenfalls besonders die arme Bevölkerung.
Diese politische und ökonomische Benachteiligung der Bergregionen und ländlichen Randgebiete Nepals, die trotz massiver Entwicklungshilfezahlungen nicht behoben werden konnte, hat den Bewohnern den Eindruck vermittelt, dass die Regierung nicht wirklich an ihnen interessiert ist. Dies kann daher als Grund für die abnehmende Legitimation der Regierung, die vermehrte Unzufriedenheit und - nicht zuletzt - den verstärkten Zulauf zu radikalen Bewegungen wie den Maoisten gesehen werden.
Gerade durch die Angriffe der Maoisten und die gewaltsamen Gegenmaßnahmen des Militärs wird die Zivilgesellschaft zwischen beiden Seiten zerrieben. Keine Konfliktpartei schafft es, die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Vielmehr ist die von ihnen ausgehende Gewalt Quelle massiver Unsicherheit.
Wie oben erwähnt hat es schon vor dem Ausrufen des "Volkskrieges" der Maoisten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen politischen Parteien gegeben. Durch den Krieg erhöhte sich lediglich deren Intensität. Seit dem Beginn des "Volkskrieges" im mittleren Westen Nepals (Rolpa, Rukum, Salyan und Jajarkot) konnten die Maoisten ihre Einflusssphäre über das ganze Land, nach den Lehren Mao Tse-tungs von der Peripherie in Richtung Zentrum und von den Bergregionen in Richtung Terai ausbreiten. Im Oktober 2001 hatten die Maoisten in 25 Distrikten "Volksregierungen" etabliert. Konfliktstudien der Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit (GTZ) erklären sogar: "There is a Maoist presence invirtually all of the 75 districts" (Kievelitz 2002: 29). Neben der bloßen Existenz von Maoisten in nahezu allen Distrikten und den umkämpften Gebieten (zu der wohl immer noch der größte Teil des ländlichen Nepal gezählt werden muss), kann festgehalten werden, dass die Maoisten heute mindestens ein Drittel des Landes (manche Autoren sprechen sogar von 60%) fest unter ihrer Kontrolle haben. In den noch umkämpften Gebieten sind dabei die höchsten Gewaltraten und - damit verbunden - die größten negativen Folgen für die ortsansässige Bevölkerung zu verzeichnen. Die Bauern werden von den Maoisten zu Abgaben in Form von Geld, Unterkunft, Kleidung oder Essen und zu körperlicher Arbeit bis hin zum Waffendienst gezwungen. Aber auch die Regierungstruppen bieten keine Sicherheit, sondern verschlimmern die Lage für die ländliche Bevölkerung. Auf der Suche nach Maoisten und Sympathisanten kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen und Folter gegen einfache Bauern. Zusätzlich wird auch noch die Nahrungssicherheit der Bevölkerung bedroht, da der Zugang zu den ohnehin wenigen Einnahmemöglichkeiten noch weiter reduziert wird (zur Verdeutlichung s. Box 1). So muss festgehalten werden, dass die größten Opfer des Krieges in erster Linie eben gerade unter der ländlichen Bevölkerung zu finden sind, die es eigentlich zu befreien galt. Der "Volkskrieg" ist also v.a. ein Krieg gegen das Volk.
Im Gegensatz zu den noch umkämpften Gebieten, herrscht in den von Maoisten kontrollierten Gebieten der absolute Verlust des staatlichen Gewaltmonopols. Betrachtet man die heute auf etwa 25-30.000 Kämpfer geschätzte Zahl der Maoisten, die der Royal Nepalese Army mit 40-50.000 Mann gegenüberstehen, wird deutlich, dass die Rebellen eine ernste Gefahr für Militär und Staat darstellen. Im Zuge dessen wurden die staatlichen Ausgaben für Polizei und Verteidigung in den 1990ern stark erhöht. Das Militär-Budget wuchs seit 1996 um 300 Prozent und macht heute 7,5 Mrd. NR (oder 12% des Gesamthaushaltes) aus (Krämer 2004a: 16). UNDP konstatierte bereits 2001:
"This manifests a crowding out of the resources from economic services in favour of security at the cost of economic growth and poverty reduction. More significantly, current police and defense spending combined has outstripped spending on health and drinking water together, as well as three fourths of the education budget." (NHDR 2001: 57)
Die Berichte über die Blockade Kathmandus im August 2004 zeigen, dass die Macht der Maoisten ungebrochen und ein militärischer Sieg durch das Militär in weiter Ferne liegt. Auch wenn die Blockade nur politisches Kalkül war, um die internationale Staatengemeinschaft auf die aktuelle Lage in Nepal aufmerksam zu machen, bleibt hervorzuheben, dass sich an der Tatsache, dass das Gewaltmonopol in etwa einem Drittel des Staatsgebietes de facto aufgehoben ist, auch in absehbarer Zukunft nichts ändern wird. Deshalb kann bereits heute von einem partiellen Staatszerfall gesprochen werden.
Wenn die politische Elite des Landes, egal ob Maoisten, der König oder die Parteien, in Zukunft nicht nur noch über Trümmerfelder regieren wollen, müssen sich endlich alle Seiten auf Verhandlungen einlassen, die fair geführt werden und einen Weg aufzeigen, wie die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes gleichermaßen in Angriff genommen werden können.
Die politischen Parteien, die an der jetzigen Regierung beteiligt sind, beweisen einmal mehr, dass sie prioritär an politischer Macht und nicht am allgemeinen Staatswohl bzw. an den Menschen in Nepal interessiert sind. Damit schwächen sie die anderen auf der Straße demonstrierenden Parteien, stärken die exekutive Macht des Königs und behindern eine friedliche Lösung des Konflikts.
Am 7. Mai 2004 trat Surya Bahadur Thapa von seinem Amt zurück. Es war ihm ähnlich wie seinem Vorgänger Lokendra Bahadur Chand weder gelungen, andere Parteien für seine Regierung zu gewinnen, noch die Re-Demokratisierung des Landes einzuleiten. Die Friedensverhandlungen mit den Maoisten waren darüber hinaus bereits im August 2003 gescheitert. Besonders die täglichen Demonstrationen der Parteien (NC, CPN-UML, People´s Front Nepal, Nepal Workers´ and Peasants´ Party und Nepal Sadbhavana Party), die immer häufigere Kritik aus den Reihen der Zivilgesellschaft und die im Nepal Development Forum organisierte internationale Gebergemeinschaft hatten die Thapa-Regierung erheblich unter Druck gesetzt. In den folgenden drei Wochen hatte König Gyanendra versucht die auf den Straßen demonstrierenden Parteien bei der Auswahl des neuen Premierministers zu beteiligen, doch waren diese, wie bereits zuvor, auf Grund interner Streitigkeiten nicht in der Lage, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Es folgte die illegitime (Wieder)Ernennung Sher Bahadur Deubas vom Nepali Congress.
Dabei hatte gerade Deuba in seiner Vergangenheit als Premierminister den Friedensprozess immer wieder blockiert. Er war im Januar 1996 der Premierminister, der den 40-Punkte-Forderungskatalog der Maoisten völlig ignoriert hatte, was diese zur Ausrufung des "Volkskriegs" gegen des Staat veranlasste. Er war 2001 erneut Premierminister, als der erste Dialog mit den Maoisten scheiterte, weil die Regierung nicht wirklich gesprächsbereit war. Auf seine Veranlassung verhängte König Gyanendra im November 2001 den Ausnahmezustand und mobilisierte die Armee gegen die Maoisten. Er war der Premierminister, der den berüchtigten Terrorist and Destructive Activities (Control and Punishment) Act (TADA) einführte, welcher bis heute die rechtliche Grundlage für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte darstellt. Er war derjenige, der den König Ende Mai 2002 bat, das Parlament aufzulösen, weil er die Fortdauer seiner Macht gefährdet sah. Un im Juli 2002 löste er schließlich die gewählten lokalen Gremien auf und ersetzte sie durch Regierungsbeamte, anstatt ihre Amtszeit wegen der Nichtdurchführbarkeit von Wahlen zu verlängern (Krämer 2004b: 6).
Bereits seit Mitte 2003 demonstrieren die oben genannten Parteien für die Wiedereinführung der Demokratie unter anderem durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung (wie oben erwähnt die wichtigste Forderung der Maoisten für eine friedliche Lösung des Konflikts). Nach der Ernennung Sher Bahadur Deubas, der vor seinem erneuten Amtsantritt selbst mit auf der Straße für diese Ziele demonstriert hatte, zerbrach das Bündnis der fünf Parteien. Deuba wollte nichts mehr von seinen alten Forderungen wissen und auch die CPN-UML gab zu erkennen, dass sie eher an einer Regierungsbeteiligung als an der Erfüllung ihrer Forderungen interessiert war. Damit zeigten die politischen Parteien, dass sie die wirkliche Situation Nepals nicht verstanden hatten. Die drei Parteien, die sich mittlerweile neben dem Nepali Congress an der Regierung beteiligen (CPN-UML, Rastriya Prajatantra Party und Nepal Sadbhavana Party), gaben sich dabei gerade nicht damit zufrieden, einen Minimal-Ministerrat mit sechs oder sieben Mitgliedern zu etablieren, der die notwendigen Staatsgeschäfte erledigen hätte können. Statt dessen wurde die Anzahl der Minister auf 31 hochgeschraubt, nur um allen Ansprüchen gerecht zu werden. Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen die jetzige Regierung steht, muss auch das im Juli verabschiedete Minimum Programme for Common Consensus enttäuschen. Das Papier ist in einem Stil verfasst, der auf eine jahrelange Arbeit einer legitimierten Regierung ausgerichtet ist. Die wirklich wesentlichen Aufgaben der jetzigen Regierung, ein ernsthafter Dialog mit den Maoisten und die Einleitung umfangreicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen, werden nicht oder nur sehr vage angesprochen, wie dies auch schon bei der sogenannten Regierungsagenda während der zweiten Verhandlungsrunde mit den Maoisten Mitte 2003 der Fall gewesen war.
Der notwendige Wandel ist ohne grundlegende konstitutionelle und gesetzliche Veränderungen überhaupt nicht zu erreichen, doch wird die Forderung der Maoisten nach einer durch eine gewählte verfassunggebende Versammlung geschaffene neue Verfassung bereits jetzt abgelehnt (Krämer 2004b: 5f.). Da wundert es wenig, dass der Vorsitzende der CPN (Maoist), Prachanda, die neue Regierung von Anfang an als nicht verhandlungsfähig abtat.
König Gyandendra kann das alles nur Recht sein. Die Machtbesessenheit der Parteien und ihrer führenden Politiker zementiert nur seine Stellung an der Spitze des Staates. Auch die neue Regierung bleibt eine Regierung von Königs Gnaden. Die Haltung des Königs wird dabei untermauert durch das Vorgehen und die Selbsteinschätzung seines stärksten Werkzeuges, der Armee. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands und der Verabschiedung des TADA während der vorigen Deuba-Regierung 2001/2 haben sich die Sicherheitskräfte durch eine besonders grobe Missachtung grundlegender Menschenrechte ausgezeichnet. Ihr Vorgehen ist oft noch schlimmer als das der zu "Terroristen" erklärten maoistischen Aufständischen, wie bereits oben erwähnt. Forderungen des Obersten Gerichtshofes nach Stellungnahmen der Armee zu solchen Fällen wies diese wiederholt zurück, da sie als Armee des Königs, der ja ihr Oberbefehlshaber und damit politisch für alle ihre Vergehen verantwortlich ist, außerhalb von Recht und Gesetz stünde (Krämer 2004a: 15f). Somit bleibt eines ganz deutlich. Nepal bleibt vorerst in der eisernen Hand König Gyanendras.
Welches Resumée läßt sich aus dem oben Dargestellten ziehen? Die Einführung der Demokratie 1990/91 war lediglich ein erster Schritt auf dem Weg zur Beendigung der kulturellen und sozialen Unterdrückung und der ökonomisch schwachen Entwicklung. Weil wirkliche Reformen nicht in Angriff genommen wurden, formierte sich der bewaffnete Widerstand, der allerdings die Situation für das Volk, das es eigentlich zu befreien galt, noch verschlechterte. Die Machtübernahme König Gyanendras spitzte die Lage des Landes insofern zu, dass er die junge Demokratie bereits wieder ins Abseits beförderte, bevor diese überhaupt zu existieren begonnen hatte. Die politischen Parteien drehten und drehen sich unterdessen wie Fähnchen im Wind, um ihre Machtpositionen zu erhalten, und können das Volk somit auch nur enttäuschen.
Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Nepal heute steht, und der geringen Chancen auf eine baldige Änderung der Situation, halte ich den Begriff des partiellen Staatszerfalls für anwendbar. Zugegebenermaßen unterscheidet sich Nepal in seiner Funktionsfähigkeit heute immer noch deutlich von "typischen" gescheiterten Staaten wie Afghanistan oder Somalia. Sind letztere von einer polyzentrischen Gewaltordnung geprägt und beschränkt sich die geographische Reichweite staatlicher Macht mehr oder weniger auf die Hauptstädte, herrscht in Nepal die bipolare Ordnung eines "klassischen" Bürgerkriegslandes. Auch reicht die staatliche Macht noch über die Grenzen des Kathmandu-Tals hinaus. Betrachtet man jedoch umfassend das aktuelle Ausmaß an Demokratiedefiziten, mangelnder nationenbildender Identität, infrastruktureller und ökonomischer Schwäche bis hin zum Verlust des Gewaltmonopols in etwa einem Drittel des Landes, trifft der Begriff genau ins Schwarze. Darüber hinaus sollte er aber auch oder gerade ein Alarmsignal sein für die politischen Eliten und die Hauptverantwortlichen der miserablen Lage, allen voran König Gyanendra, die Maoisten und die politischen Parteien.
Eine Lösung bzw. Regulierung des Konfliktes wäre durch eine neutrale Vermittlung der UNO möglich, die diese bereits wiederholt angeboten haben. Die Maoisten haben auch angedeutet, eine solche Vermittlerrolle zu akzeptieren. Innerhalb des Lagers der politischen Parteien ist eine Vermittlung der UNO jedoch umstritten. Von Regierung und Palastkreisen wird sie abgelehnt. Hintergrund dieser Haltung dürfte die Furcht vor einer Gefährdung der Stellung des Königs sein. Vermutlich würden auch die USA nicht mitspielen, da sie die nepalischen Maoisten als internationale "Terroristen" eingestuft haben und die Regierung, den König und sein Militär finanziell und beratend unterstützen.
Wünschenswert wäre daher eine verstärkte Einmischung der Europäischen Union. Großbritannien und Frankreich könnten innerhalb des Sicherheitsrates gemeinsam den Druck auf die USA erhöhen. Im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik könnten sich die europäischen Staaten als Vermittler anbieten und damit beweisen, dass sie nicht länger ein Debattierklub sind, sondern sich aktiv für Frieden und Entwicklung einsetzen.
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Zwischen Krieg und Frieden .
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