Inhalt

11. November 2006. Analysen: Geschichte & Religion - Indien Lektionen in freiem Denken

Ein Porträt des progressiven muslimischen Denkers Asghar Ali Engineer

Lektion 1: Die Geschichte lehrt und lehrt und lehrt und…

Gespräch unter indischen Freiheitskämpfern:"Möchtest du nicht zu Deinesgleichen nach Afghanistan gehen, wo du sicherer bist?" Zutiefst gekränkt über die Aufforderung seines hinduistischen Freundes und Weggefährten Bismil, antwortet Ashfaqullah Khan: "Ich bin Deinesgleichen, das ist unser Land." Sie umarmen sich. 56 Jahre später "Gespräch" unter Indern: "Geh doch nach Hause du dreckiger Pakistani", schreit ein Hindu einem Muslim entgegen. Dieser Satz verhindert nicht, dass beide demselben Schicksal erliegen.

Was in dem Hindi-Film Rang de Basanti (dt. Die Farbe Safran, 2006)[1] in dieser kurzen aber bedeutsamen Szene auf den Punkt gebracht wird, ist der zentrale Vorwurf, mit dem sich die muslimischen Inder konfrontiert sehen: Sie seien Schuld an der Teilung Indiens. In diesem Filmausschnitt wird der stets latente Konflikt zwischen extremistischen Kräften, die es verstehen, die jeweils eigenen Gemeinschaften zu radikalisieren, zum Ausdruck gebracht. Communal Riots heißen diese meist blutigen Auseinandersetzungen, die die indische Gesellschaft seit der Teilung verstärkt heimsuchen.

Als im nordindischen Ayodhya[2] im Dezember 1992 die Babri Moschee durch radikale Hindus zerstört wurde, folgten die schwersten Ausschreitungen seit 1947, die sich über das ganze Land ausbreiteten. In Mumbai starben in tagelangen blutigen Schlachten Muslime und Hindus (eindrucksvoll in dem Film "Bombay" des tamilischen Regisseurs Mani Ratnam visualisiert)[3].

Knapp zehn Jahre später kommt es wieder zu gewalttätigen Unruhen im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat mit bis zu 2000 Toten.[4]

Lektion 2: Interreligiöser Dialog und innerreligiöse Kritik

Es sind Ereignisse wie diese, die den Weg des muslimischen Denkers Asghar Ali Engineer markieren, der zwanzig Jahre bei der Stadtverwaltung Mumbais als Ingenieur arbeitete. Bereits während seines Studiums in Indore im Bundesstaat Madyha Pradesh wurde er Zeuge von Gewaltexzessen zwischen Hindus und Muslimen. Er beschloss, etwas dagegen zu tun.

Asghar Ali Engineer gehört mit zahlreichen Publikationen zu den eindruckvollsten Vertretern moderner muslimischer Denker der Gegenwart. Es ist nicht einfach, die Arbeit des 66-Jährigen auf einen Begriff zu bringen. Engineer schreibt philosophisch, politisch, theologisch. Sein Stil ist einfach, klar, verständlich und er schreibt zudem in Englisch. Theologischen Fragen begegnet er mit demselben Engagement wie seinen Aufgaben als Sozialaktivist. Das Neu-Denken und Loslösen von orthodoxen Strukturen und vor allem exklusivistischen Deutungen der Religion sind für Engineer Voraussetzung für die Etablierung des kommunalen Friedens.

Früh wurde der in der Nähe von Udaipur im Bundesstaat Rajasthan geborene Engineer für den interreligiösen Dialog sensibilisiert. Er wuchs in einer Bohra-Gemeinde auf, die der shiitischen Ismailiyya zuzuordnen ist. Zu den Besuchern im Hause seiner Eltern gehörten Angehörige und Priester des Hinduismus. Die religiöse Ausbildung in den klassischen Bereichen der islamischen Theologie erhielt er von seinem Vater, dem Geistlichen Qurban Hussain.

Bereits in jungen Jahren beobachtete er, wie der "Klerus" die einfachen Gläubigen durch ein vielschichtiges Abgabesystem in ein Abhängigkeitsverhältnis brachte. 1972 kam es zum Eklat: als Engineer öffentlich Kritik an der absoluten Autorität des religiösen Führers der Gemeinde, Sayedna Burhanuddin sowie an den vorherrschenden hierarchischen Strukturen übte, wurde er zur persona non grata erklärt. Gemeinsam mit anderen Kritikern gründete er die Reformbewegung "Progressive Dawoodi Bohras". Seit dem wurden auf Engineer fünf Anschläge durch Anhänger des Sayedna verübt, zuletzt im Februar 2000.

Lektion 3: Muslimsein in Indien

In Indien lebt weltweit die drittgrößte muslimische "Gemeinschaft" (etwa 12% der Bevölkerung, ca. 120 Millionen). Sowohl in der islamischen Welt als auch in der Fachwelt werden Entwicklungen des indischen Islam kaum wahrgenommen. Dabei gäbe es wichtige Impulse für die Erneuerung des islamischen Denkens gerade hier zu finden.[5]

In der Wissenschaft wird zur Zeit, bedingt durch die weltpolitischen Entwicklungen, der Schwerpunkt auf die Extremismusforschung gelegt. Zwar liegen Arbeiten zu liberalen Denkern und Reformbewegungen vor, aber diese konzentrieren sich vornehmlich auf die arabisch-islamische Welt. Der südasiatische Raum wird weitgehend vernachlässigt.

Indien durchläuft nicht nur Globalisierungsprozesse, sondern steht auch vor den Herausforderungen, die eine multireligiöse Gesellschaft mit sich bringt.

Fragen der innerreligiösen Kritik und des interreligiösen Dialogs stellen sich den Muslimen in Indien anders als in den arabischen Ländern: Sie sind eine Minderheit und leben in einer säkularen Demokratie mit starken sozialen Disparitäten. Die größte Herausforderung ist die Etablierung eines interkommunalen Dialogs und die Schaffung sozialer Gerechtigkeit. Diese Bedingungen beeinflussen auch die Theologie, Philosophie und vor allem den Umgang mit dem Koran.

Lektion 4: "What I believe"

Im Gegensatz zu progressiven Denkern in der arabisch-islamischen Welt identifiziert sich Engineer mit dem demokratischen Staat in seinem Heimatland. Säkularismus versteht er als Grundvoraussetzung, wenn die muslimische Minorität überleben will und Frieden in der Gesellschaft herrschen soll. So fällt seine Beurteilung des Säkularismus anders aus als in der arabischen Welt oder weiten Teilen der islamischen Welt.

"Ich glaube intensiv an Pluralismus und Diversität. (…) Eine wahrhaft demokratische Gesellschaft kann nur und nur dann etabliert werden, wenn es Diversität die Möglichkeit hat sich zu entfalten. Daher glaube ich an die drei Ds, Demokratie, Diversität und Dialog."[6]

Engineer möchte einen Beitrag zur Weiterentwicklung des philosophischen religiösen Denkens leisten, zur Öffnung, zur Reflektionsfähigkeit, zur Schaffung einer sachlichen Diskussion und er möchte den bedingungslosen Willen zum Frieden etablieren, wie ihn einst Mahatma Gandhi propagierte.

Der Koran steht im Zentrum seines Denkens, wie bei so vielen muslimischen Reformdenkern. Im Unterschied zu seinen "Kollegen", vor allem aus dem arabischsprachigen Raum, verfolgt Engineer eine "praktische Koranexegese". Er verknüpft philosophisches Denken und praktische Arbeit. Sein Ziel ist, dass das progressive Denken auch von Laien verstanden wird und über den erlesenen Zirkel von Intellektuellen hinaus auch die "Basis" erreicht.

"Ein lebendiger Glaube ist nicht möglich ohne freien Willen. Deshalb begann ich, den Islam zu interpretieren, um ihn für das zeitgenössische Leben und für Laien bedeutender zu machen. Ich habe kontinuierlich über den Islam und moderne Herausforderungen geschrieben, um den Islam zu einem lebendigen und bedeutenden Glauben zu machen. Auch hilft er mir sehr im Kampf gegen kommunale Mächte und Sekten. Meine beiden Kämpfe stärken sich gegenseitig."[7]

Lektion 5: Religion neu denken

Das Reformdenken wird durch einen Missstand geboren, wenn Religion zur Phrase gerät, die heiligen Texte zu bloßen Worten, zu Stichwortgebern reduziert werden, religiöses Denken und soziale Realität auseinander klaffen. So auch im Falle von Engineer, die Gegebenheiten erzwingen ein neues Denken. Das neue Denken soll einen neuen verbesserten Kontext schaffen. So hängt progressives Denken zwangsläufig mit Sozialaktivismus zusammen. Der philosophische Ansatz wird in Handlung gegossen.[8]

So erstaunt es nicht, dass sich Engineer besonders für die Verbesserung der Position (nicht nur) muslimischer Frauen einsetzt. Dabei kritisiert er marginalisierende Strukturen auf gesellschaftspolitischer Ebene sowie auch die islamischen Rechtsgelehrten. Sie seien patriarchalen Werten verbunden und nicht dem Prinzip der Gerechtigkeit. Auch die Vorgehensweise der so genannten Panchayats (Dorfräte, bestehend aus juristischen Laien) in Fällen von sexuellen Übergriffen auf Frauen prangert er an (zuletzt im Fall der Pakistanerin Mukhtaran Mai, die infolge eines "Urteilsspruch" mehrfach vergewaltigt wurde. Der Fall erregte weltweit Aufsehen).[9] Engineer lehnt es ab, diese menschenverachtende Praxis als "islamisch" zu betrachten.

Die Behauptung, die Scharia sei göttlich und damit unveränderbar, stehe auf wackligen Füßen. "Das Gesetz der Scharia ist das Ergebnis menschlicher Interpretation".[10] Nur in einer modernen, pluralistischen Demokratie könne das Monopol der orthodoxen Ulama (Religions- und Rechtsgelehrte) gebrochen werden.

Engineers thematische Schwerpunkte sind:

  1. Säkularismus, Tradition-Moderne (Konflikt, Beziehungen von Demokratie und Islam), islamisches Recht (Scharia), Muslime im säkularen Rechtsstaat
  2. Communal Riots, Dialog der Religionen, Dialog in der Gesellschaft, Pluralität und Pluralismus
  3. Frauen (Geschlechtergerechtigkeit, Emanzipation, Marginalisierung durch Staat, Gesellschaft und religiöse Autoritäten)
  4. Koran neu lesen, Islam neu denken

Lektion 6: Den Koran neu lesen

Bei allen Themen steht der Koran im Zentrum von Engineers Denken, bei rechtspraktischen Fragen zieht er ihn zu Rate und arbeitet exegetisch direkt am "Objekt" (z.B. Apostasie, Dialog). Eine Rechtsfrage interessiert ihn nur sofern ein konkretes Problem auftritt. Daher beginnt er seine Analyse eines Koranverses erst in einem konkreten Kontext oder aufgrund einer konkreten (auch philosophischen) Herausforderung. Ohne einen solchen Kontext nimmt er jedoch keine Exegese vor.

An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch ein Trend der vergangenen Jahre in der Koranexegese. Heutzutage werden kaum noch traditionell mehrbändige Tafsir-Werke verfasst. Daher stelle ich die Hypothese auf, dass diese Gattung des klassischen Korankommentars heute nicht mehr relevant ist. Nunmehr betreiben Intellektuelle, Reformdenker, Reformtheologen und orthodoxe Gelehrte nur noch anhand von konkreten Fragestellungen Exegese. Etabliert hat sich damit etwas, was ich als eine "praktische Koranexegese" bezeichne. Diese fordert eine soziale Praxis bzw. eine Umsetzung der Exegese oder des exegetischen Geistes. Es werden sowohl ethische Werte und Prinzipien als auch praktische Fragen verhandelt. Dies tut Exegese zwangsläufig.

Während die orthodoxen Exegeten allerdings auf bereits vorhandene klassische Interpretationen zurückgreifen und keinen Raum für andere Möglichkeiten lassen, sind für Engineer in der Exegese die Prinzipien der Gerechtigkeit und des Mitgefühls vorrangig, er interpretiert vernunftorientiert und kommt auch zu neuen Ergebnissen in seiner Exegese. Vergangene Exegesen interessieren ihn nur, sofern sie seinen eigenen Ansatz stützen (beispielsweise im Falle der Polygamie oder im Falle von "Apostasie" oder dem Umgang mit dem Hinduismus, der in der klassischen Theologie meist zum "Polytheismus" gezählt wird).

Dabei folgt er seiner Überzeugung, dass der Koran sich an jeden und nicht nur an die Religions- und Rechtsgelehrten (Ulama) richtet.

Lektion 7: The Power of Pluralism

Auf dem indischen Subkontinent existiert bekanntlich die größte Demokratie der Welt. Ein progressiver muslimischer Denker wie Engineer kann hier frei arbeiten und publizieren. In anderen Ländern bleibt für viele muslimische Intellektuelle nur das Exil. Folglich ist für Engineer der Säkularismus ein Garant für den kommunalen Frieden in einer multireligiösen Gesellschaft. Daraus leitet sich ein indisches Nationalbewusstsein ab, welches im Gegensatz zu ethnisch oder religiös exklusivistisch argumentierenden Konzepten steht. Das schafft auch Raum für die Überwindung des Traumas der Teilung von 1947. Engineer leistet einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung dieser Vergangenheit und der Fokussierung der Minderheiten und ihrer Rolle für die indische Gesellschaft. Seine Kritik richtet sich sowohl gegen gesellschaftspolitische Strukturen und Kräfte, die den Zugang zu Bildung und zur communal harmony behindern, als auch gegen religiöse Orthodoxie.

2004 erhielt er für sein Engagement gemeinsam mit dem hinduistischen Sozialreformer Swami Agnivesh den Alternativen Friedens-Nobelpreis.

Dr. Asghar Ali Engineer lebt und arbeitet in Mumbai. Er leitet die Institute Center for the Study of Secularism and Society http://www.csss-isla.com/, Indian Institute for Islamic Studies: http://www.csss-isla.com/IIS/aboutus.php und ist Herausgeber des Indian Journal for Secularism. Auf diesen Seiten findet sich auch eine Liste seiner Publikationen. Zuletzt erschienen: Engineer, Asghar Ali (Ed.): They too fought for Freedom. The Role of Minorities. Hope India: Haryana, 2006.

Anmerkungen

[1] Rakesh Omprakash Mehra: Rang de Basanti. Indien 2006. Erscheint im Herbst in deutscher Sprache auf DVD. Filmbeschreibung: http://www.molodezhnaja.ch/rangdebasanti.htm .

[2] Ayhodhya liegt im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh und gehört zu den sieben heiligen Orten des Hinduismus. Ein führendes Mitglied der radikalen Volkspartei BJP forderte die Errichtung eines Hindutempels an der Stelle der Babri Moschee, da sie auf den Ruinen eines durch den Begründer der Moghulherrschaft Babul zerstörten hinduistischen Tempels errichtet worden sei. Im Marsch auf Ayodhya zerstörten am 6.12.1992 radikalisierte Hindus die Moschee. Heute stehen die Ruinen unter Polizeischutz.

[3] Ratnam, Mani: Bombay. Indien 1995. Filmbeschreibung: http://www.molodezhnaja.ch/india_b.htm#bombay.

[4] Die Ursache für diese Eskalation wird bis heute heftig diskutiert. Nach einigen Aussagen ist der Auslöser der Angriff durch Muslime auf einen Zugabteil mit hinduistischen Frauen und Kindern, die sich auf der Rückreise von einem Hindu-Fest aus Ayodhya befanden. Bis zu 60 Menschen, darunter Kinder, starben bei diesem Anschlag. An dieser Stelle kann das gesamte Ausmaß des Konflikts bzw. die Gujarat Riots nicht angemessen dargestellt werden. Mehr dazu z.B. hier: http://in.rediff.com/news/godhra.html.

[5] Das Erwähnen von Asghar Ali Engineer löst jedes Mal nahezu identische Reaktionen aus. Ein progressiver muslimischer Denker? Aus Indien? Indien? Ja, Indien (Ich bin das gewöhnt. Wenn ich Kollegen oder Laien mein Promotionsthema "Praktische Koranexegese. Text, Kontext und politisches Engagement. Das Werk und Wirken des progressiven muslimischen Denkers Asghar Ali Engineer" erläutere, sind diese meist irritiert oder erstaunt).

[6] Engineer, Asghar Ali: What I believe. In: www.dawoodi-bohras.com/aboutus/blieve.htm. Zugriff 17.03.06.

[7] Aus der Dankesrede zur Verleihung des Alternativen Friedens-Nobelpreises 2004.

[8] Das von Engineer geleitete Centre for the Study of Secularism and Society organisiert Friedensworkshops und Straßentheater zur Etablierung des kommunalen Friedens.

[9] Mehr zu dem Fall hier: http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/windexde/KA2005058.

[10] Engineer: Shari’ah, Women and Traditional Society. August 2005. In: www.najlah.blogspot.com/2005/11/asghar-engineer-shariah-women-and.html, Zugriff 08.03.06.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Islam in Südasien .

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.