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Call for Papers: Liebe Leserinnen und Leser, in loser Folge möchten wir Spezialisten vorstellen, die langjährig in der und über die Region gearbeitet haben - sowohl im akademischen als auch im nicht-akademischen Bereich - und daher fundierte Einblicke eröffnen können. Ziel ist es dabei entgegen den Trends einer oft schnelllebigen Mediengesellschaft das zumeist Jahre und Jahrzehnte umfassende Schaffen von Wissenschaftlern und Fachleuten in möglichst umfassender Bandbreite sichtbar zu machen, d.h. ein Werk durchaus mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, Brüchen oder theoretischen Ansätzen vorzustellen. Die Redaktion freut sich wie immer auf Ihre Vorschläge, Ideen, Anregungen und Mitarbeit an dieser Reihe! ... [mehr ...]
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Es sind weniger die herausragenden Namen der englischsprachigen Literatur, die hierzulande bislang als Hauptrepräsentanten der indischen Literaturszene verlegt und wahrgenommen wurden. Vielmehr verweist allein schon die Auswahl der indischen Autorinnen und Autoren, die zahlreiche Auftritte in Leipzig, Berlin und Frankfurt bestreiten werden, auf die vielfältigen regionalsprachigen Literaturen Indiens, die in diesem Jahr im Vordergrund stehen sollen. Dass sich darunter auch viele namhafte Dichterinnen und Dichter befinden, verdeutlicht darüber hinaus, wie hoch der Stellenwert der Poesie in Indien ist, die in allen Altersgruppen ein begeistertes Publikum findet.
Mit großem Engagement bemüht sich der 2003 gegründete Draupadi-Verlag in Heidelberg darum, diese literarische Vielfalt in den unterschiedlichen Sprachen des Subkontinents durch neue Übersetzungen von Gedichtbänden, Romanen und Kurzgeschichten im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen. In der Reihe "Moderne indische Literatur" ist in diesem Jahr der Roman "Ausnahmezustand" von Nirmal Verma erschienen. Verma (1929-2005) ist als Autor zahlreicher Romane, Essays und Erzählungen bekannt geworden. Berühmtheit erlangte er jedoch als eine der zentralen Figuren der Nai Kahani-Bewegung (dt. Neue Erzählung), die sich in den 1950er Jahren formierte und die Existenzängste der wachsenden urbanen Mittelschicht in Indien als neues Thema aufgriff. Dass er heute in Indien als einer der wichtigsten Hindi-Autoren gilt, war nicht unbedingt abzusehen, denn anfangs gab es auch viele Stimmen, die ihn mitsamt seiner radikal modernen Erzählformen als "unindisch" brandmarkten.
Mehr als zehn Jahre, zwischen 1959-70, verbrachte Verma in Ost- und Westeuropa, zunächst in Prag, wo er an der Karls-Universität ein Projekt zur Übersetzung tschechischer Literatur ins Hindi leitete, später auch in London, wo er ebenfalls längere Zeit lebte. Dazwischen führten ihn ausgedehnte Reisen bis in den Norden Europas, worüber er zahlreiche Reisereportagen für indische Zeitungen verfasste. In deutscher Übersetzung liegen bisher die beiden Erzählbände "Der dritte Trauzeuge" (1979) und "Traumwelten" (1997) vor sowie ein Band mit ausgewählten Essays, der 2003 unter dem Titel "Unterwegs" erschienen ist.
Sein 1989 verfasster Roman "Ausnahmezustand" spielt in der Anfangszeit der "Emergency", der Zeit zwischen Juni 1975 und März 1977, als die damalige Ministerpräsidentin Indira Gandhi den Notstand über ihr Land verhängte und damit grundlegende Bürgerrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit außer Kraft setzte. Dass der Journalist Rishi, Hauptfigur dieses Romans, nicht nur von der rigiden Zensur, sondern möglicherweise von weiteren Repressionen bis hin zur Verhaftung durch den indischen Geheimdienst bedroht ist, erfährt er von einem Unbekannten, der ihn eines Tages in der Bibliothek aufsucht, um ihn zu warnen. Auch wenn diese Nachricht Rishi in einen panikartigen Zustand versetzt, scheint der äußere "Ausnahmezustand" eigentlich nur an die Oberfläche zu befördern, was sich seit geraumer Zeit in seinem Inneren abspielt. Erst jetzt erlangen die diffusen Ängste und dunklen Ahnungen, von denen Rishi getrieben ist, eine Kontur und im Verlauf seiner "inneren Reise", die sich über die beiden Monate der Romanhandlung, September - Oktober, fortsetzt, gelingt es ihm erstmals, sich mit ihnen auseinander zu setzen.
Als Journalist hat sich Rishi einen Namen gemacht, Reportagen und Interviews verfasst, die seinen Lesern lange im Gedächtnis blieben, doch im Privaten überwiegt das Unglück eines Mannes, den eine seltsame Isolation und Einsamkeit zu umgeben scheinen. Obwohl die Erzählung weitgehend der Perspektive eines handelnden Subjekts folgt, das seine individuelle Situation zu klären versucht, deutet Verma auch eine weitere Ebene von "vorher bestimmten" Faktoren an, die Rishi mitverantwortlich macht für sein Unglück. Beispielsweise ist von dunklen Vorzeichen in Rishis Geburtshoroskop und einer unheilvollen Familiengeschichte die Rede, die wie ein Fluch auf Rishi zu lasten scheinen. Wie die Komplexität der eigenen Geschichte letztlich zu interpretieren und zu erzählen ist, wie "die Fäden unserer inneren Dunkelheit auf die Spule zu wickeln sind, die sie mit der äußeren Welt verbindet", ist gleichermaßen die Leitfrage in Vermas Roman. In dessen Verlauf wird immer deutlicher, dass Rishi die Antwort darauf bereits an einem Ort erfahren hat, der zugleich einen "inneren Ort" zu verkörpern scheint und zu dem er gelangen musste, um sich selbst zu verstehen. Es handelt sich um das Gebiet der Adivasis in Bastar im heutigen Bundesstaat Chhattisgarh, wo er kurze Zeit zuvor zweieinhalb Monate lang für eine Reportage recherchiert hatte. Ein isländischer Journalist und Freund Rishis, Thorgier, bekräftigt die Bedeutung der "Ortssuche" anhand eines Beispiels aus der skandinavischen Mythologie:
"Jetzt begreife ich, warum die Leute ihr Zuhause verlassen und auf lange Reisen gehen?"
"Warum, Thorgier?"
"Um sich auf die Suche nach der eigenen Stimme zu machen. In unseren Sagen heißt es, jeder Mensch hat zwei Zuhause – das eine, wo er geboren wurde und das andere, unbekannte, das man suchen muss, wo die Seelen unserer Vorfahren leben....".
Inwieweit damit aber auch das Gebiet der Adivasi-Bevölkerung als Ort des "Urzustands" sowie einer "unberührten Wildnis" konstruiert wird, ist eine kritische Frage, die man an den Roman richten kann. Ebenso irritierend ist die Assoziation "weiblicher" Eigenschaften zum einen mit dem Bild, das Rishi von den Adivasis hat und zum anderen mit "animalischen" Verhaltensweisen. Besonders deutlich kommt dies in den Worten zum Ausdruck, mit denen Rishi seine Geliebte Bindu beschreibt: "Sie hatte eine Art, sich in der Stadt zu bewegen, die ihn an die Adivasi in den Wäldern des Kumaon erinnerte. Man wusste nie, ob sie vorausgeeilt war oder einen gerade von hinten beobachte. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass der Chefredakteur alle Manuskripte, die beim Verlag eingingen und etwas mit Vögeln, Tieren oder Wildnis zu tun hatten, sofort auf ihren Tisch legen ließ." In einem anderen Kapitel des Romans stellt sich Rishi vor, wie seine psychisch kranke Frau Uma "keuchend wie ein verwundetes, verwirrtes Tier das Zimmer von Ray Sahib im zweiten Stock des Büros betreten hatte, nachdem sie dunkle Treppen hinaufgestiegen war." Und auf der psychiatrischen Station der Klinik, in der Uma liegt, wird er schließlich einmal von einer Patientin regelrecht "angefallen", deren Fingernägel sich in seine Arme "krallen" und tief "eingraben".
Der Roman vermittelt ein eindringliches Bild von der Allgegenwart des Misstrauens und der Überwachung, die das private und berufliche Leben der Menschen in der Phase der "Emergency" beeinflussten. Wie Harald Fischer-Tiné im Nachwort schreibt, bedeutete diese Zeit des Notstands für Verma selbst eine traumatische Zäsur in seinem Leben, die sein Vertrauen in den indischen Staat tief erschütterte. "Ausnahmezustand" beschreibt aber auch den Prozess der Vereinzelung und Entwurzelung in indischen Großstädten, an dessen Ende die existenzielle Angst des Individuums steht. Überwinden kann sie nur, wer es versteht, sich im doppelten Sinne des Wortes neu zu verorten.
Quelle: Nirmal Verma, Ausnahmezustand (Originaltitel: Rat ka reporter, 1989), Roman. Übersetzt aus dem Hindi von Hannelore Bauhaus-Lötzke und Harald Fischer-Tiné. Erschienen im Draupadi-Verlag Heidelberg, 2006
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