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21. November 2004. Rezensionen: Politik & Recht - Indien Indien in zehn Kapiteln

"India in Slow Motion" von Mark Tully und Gillian Wright

In der Abhandlung "India in Slow Motion", erschienen bei Penguin India, gehen Mark Tully und seine Koautorin Gillian Wright aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Frage nach einer besseren Regierungsausübung (engl.: good governance) nach. Der enorme inhaltliche und thematische Betrachtungsbogen in den zehn Kapiteln erfordert vom Leser zweifellos ein ausgesprochenes Interesse und Vorwissen zu Indien.

Innerhalb des ersten Kapitels The Reinvention of Rama kehren die beiden Autoren zehn Jahre nach der Zerstörung der Babri-Moschee, die 1992 landesweit eine Welle der Gewalt auslöste, zurück an den Ort der Ereignisse. In einer Mischung aus Reisebericht und Sachbuch erörtern Tully und Wright in Ayodhya mit Geistlichen verschiedener hinduistischer Strömungen die unterschiedlichen Interpretationen des Gott-Königs Rama. Dabei wird nachvollziehbar, dass nur eine religiöse Minderheit zu Ehren Ramas den Tempelbau an der Stelle der ehemaligen Moschee anstrebt.

India in Slow Motion
Buchfront von India in Slow Motion. Foto: Christoph S. Sprung

Das Folgekapitel Misplaced Charity behandelt die unterschiedlichen Aspekte der Kinderarbeit in der Teppichindustrie im Raum um Mirzapur - einer Stadt im nördlichen Unionsstaat Uttar Pradesh. Die Autoren, dinieren zwar einerseits mit Großunternehmern, versuchen der Thematik aber auch aus der Graswurzelperspektive zu begegnen. So bieten sie einen weitaus differenzierteren Blick auf scheinbare Errungenschaften und angebliche Veränderungen, wie das "Gütesiegel" Rugmark. Besonders die Widersprüchlichkeit im Bezug auf Ethikvorschriften westlicher Märkte, und damit auch deutscher Konsumenten, dürfte hierzulande von erheblichem Interesse sein.

Der fundamentalen und allgegenwärtigen Korruption in Indien widmet sich das Kapitel Corruption from Top to Tail. Anhand zweier Paradebeispiele werden Vertreter eines unerschrockenen Aufbegehrens gegen die Veruntreuung von Geldern und Korruption vorgestellt. Das ist zum einen die Menschenrechtsaktivistin Aruna Roy und ihr Mazdoor Kisan Shakti Sangathan, einer Organisation für die Durchsetzung des Rechts auf Informationen im ländlichen Rajasthan. Zum anderen wird der Journalisten Mathew Samuel aus der Online-Redaktion von Tehelka vorgestellt. Er trug zum Sturz des BJP-Vorsitzenden Laxman bei, den er mit versteckter Kamera bei der Annahme von Schmiergeldern filmte.

Das Kapitel Altered Altars beschreibt den Einfluss und Wandel der Kirche in Goa. Die Recherche in der ehemaligen portugiesischen Kolonie behandelt darüber hinaus aber auch Fragen nach der Vermischung von Religion und Politik zu Gunsten politischer Macht. Der vage Überblick über die politische und religiöse Geschichte - vor allem der christlichen Kirche - in dem Küstenstaat weckt ein größeres Interesse an diesem Hauptreiseziel westlicher Touristen.

Der Beitrag Creating Cyberabad stellt Probleme und Lösungsansätze eines effizienteren Staates und seiner Organisation im südlichen Unionsstaat Andhra Pradesh vor. Dabei geht das Autorenteam der Frage nach der Widersprüchlichkeit der Politik des ehemaligen Ministerpräsidenten Naidu nach, der nebst Oppositionspolitikern und Vertretern der Zivilgesellschaft von den Reportern "verhört" wird.

In dem Kapitel The Sufis and a Plain Faith widmen sich Tully und Wright einigen unterschiedlichen indo-islamischen Interpretationen. Dabei stellen sie - ohne den freilich weitaus größeren subkontinentalen Diskurs in seiner Gänze zu erfassen - zwei teilweise gegensätzliche islamische Konzepte in unmittelbarer Nachbarschaft im Stadtteil Nizamuddin von Delhi dar. Das ist einerseits der Heilligenschrein von Hazrat Nizamuddin Aulia als Sinnbild des mystischen Islams, der über religiöse Grenzen hinweg wirkt, und andererseits das konzeptionelle Antonym der relativ jungen Erneuerungsbewegung Tablighi Jamaat, die ihrerseits politisch-geographische Grenzen überschreitet.

Die ökonomisch als verzweifelt dargestellte Situation indischer Bauern, die im Gemenge politischen Desinteresses, ausländischer Preisdiktate (durch IMF und Weltbank) und internen Widersprüchen stehen, macht die weitere Reisereportage Farmer´s Reward deutlich. Der offensichtliche Schulden-Teufelskreislauf der Bauern ("The Indian Farmer is born in dept, lives in dept and dies in dept. Is reborn in dept too"!) treibt besonders in Südindien eine wachsende Zahl in den Selbstmord. Beweggründen und Erklärungsansätzen kommt dieser Beitrag aus Karnataka in einer ausgeglichenen Darstellung aus einer Graswurzelperspektive nach.

Im Kapitel A Tale of Two Brothers widmen sich die beiden Autoren über einen längeren Zeitraum dem Schicksal zweier Politiker-Brüder, das - durch die Augen seines älteren Bruders - ein interessantes Licht auf den ehemaligen Premierminister V.P. Singh wirft, der Rajiv Gandhi 1990 als Regierungschef ablöste.

In dem Reise- bzw. Reportagekapitel The Water Harvesters ergründen Tully und Wright die Ursachen der chronischen Wasserknappheit auf der Halbinsel Saurashtra im westlichen Unionsstaates Gujarat. Sie zeigen Lösungsansätze und entdecken eindrucksvolle Alternativen des traditionellen Wassersammelns, die es der immer wieder von Dürre heimgesuchten Region erlauben könnte, sich von dem Narmada-Staudammprojekt unabhängig zu machen. Sie zeigen aber auch die strukturellen Hürden, die dieser Erfolg versprechenden Lösung im Wege stehen.

Das letzte Kapitel Paradise Lost über Kashmir und das Tal von Srinagar, verdeutlicht anhand einer chronologischen Zusammenfassung der politischen Ereignisse und der neueren Entwicklungen, dass der aktuelle Konflikt um die Region mit Pakistan zu großen Teilen auf internen Ursachen beruht. Gerade in diesem Kapitel wird noch einmal deutlich, dass die Autoren mit ihren Momentaufnahmen ein Panorama der Korruption und des politischen Missbrauchs religiöser Gefühle präsentieren.

Im Fazit betonen sie die indische Überbürokratisierung und den immer noch kolonialen Verwaltungsapparat als Bedingung für die gegenwärtige Situation: Politiker (netas) und Bürokraten (als babus verspottet) haben das Land unter ihre "neta-babu-raj" (raj für Herrschaft) genommen. Korruption und Ineffizienz sind die Nebenprodukte einer immer noch erschreckend autoritären Form von Unterdrückung. Doch wie die Autoren aufzuzeigen versuchen, begehren immer mehr Menschen gegen dieses System auf.

"India in Slow Motion" eignet sich durch das fundierte Hintergrundwissen von Tully und seiner Kollegin Wright hervorragend als Einstieg in die einzelnen Themen. Es gelingt den Autoren einen vielseitigen und lehrreichen Einblick in die facettenreiche indische Gesellschaft zu geben.

Quelle: Mark Tully & Gillian Wright (2003): India in Slow Motion, New Delhi: Penguin Books, 302 Seiten; ISBN: 0-14303-047-7, 325 Rupien.

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