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06. Dezember 2004. Rezensionen: Reise & Freizeit - Indien Uttaranchal

"Dem Himmel ein Stück näher"

Von den drei neuen Unionsstaaten, die Indiens Verwaltungskarte seit 2000 bereichern, gehört Uttaranchal zu den Gebieten im Zentralhimalaya, denen bereits von alters her besondere Bedeutung zukommt. Neben den naturräumlichen Gegebenheiten sind es vor allem die religiösen und kulturhistorischen Besonderheiten, die diesem Gebiet das Gepräge geben, als "Land der Götter" betrachtet zu werden.

Für Hindus sind die hier gelegenen vier großen Pilgerziele in Gangotri, Yamunotri, Kedarnath und Badrinath etwa vergleichbar mit den zahlreichen biblischen Stätten im "Gelobten Land", die von Millionen Pilgern und Touristen in jedem Jahr aufgesucht werden. Eine gelungene Einführung in die faszinierende Region mit ihren schneebedeckten Gipfeln stellt das Tagebuch von Hiltrud Rüstau dar, mit dem nicht nur die historischen und geographischen, sondern auch religiösen und sozialen Hintergründe aufzeigt werden, um das Legenden umwobene Land näher kennen zu lernen.

Rüstau ist eine vielgereiste, kompetente Fachfrau und erfahrene Kennerin der Region, nicht nur bei der Auswahl ihrer Reiserouten, sondern vor allem hinsichtlich des Hinduismus und der Kultur. Bereits auf den ersten Seiten weist sie darauf hin, dass die Geschichte Uttaranchals einen wichtigen Abschnitt der Umweltbewegung umfasst, und die Wurzeln der Chipko-Bewegung als Kampfmethode auf das Vorbild der Bishnois, einer vishnuitischen Gemeinschaft aus dem 15. Jahrhundert in Rajasthan, zurückgehen. Als sich 1731 der Maharaja von Jodpur einen neuen Palast bauen wollte, mussten Hunderte von Frauen, Kinder und Männern ihren Widerstand gegen das Fällen von Bäumen mit dem Leben bezahlen. Im Gegensatz zu der großen Mehrheit der Hindus, verbrennen die Bishnois ihre Toten nicht, sondern bevorzugen die Erdbestattung, um die Bäume zu schonen.

Der Aufbau ihres Tagebuches, das in vier Kapiteln gegliedert ist, folgt einer klaren und übersichtlichen Struktur. Nach einer allgemeinen Einführung erfährt der Leser im ersten Kapitel viel Wissenswertes über Land und Leute und den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen in der jüngeren Geschichte, die schließlich zur Entstehung des 27. Staates der Indischen Union geführt haben. Sehr anschaulich beschreibt sie die ständigen Konflikte im Hinblick auf die Nutzung des Waldes, der für die Bergbevölkerung in den Shiwaliks, der ersten Gebirgskette im Himalaya, die Lebensgrundlage bildet. Die engen Beziehungen der Bergbewohner zum Wald beruhen seit alters her auf religiösen Vorstellungen, die zum Teil schon in den großen Epen Ramayana und Mahabharata ausführlich beschrieben werden. Die Chipko-Bewegung entstand jedoch nicht aus religiösen Überlegungen, sondern infolge von Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten, bei denen die traditionellen Waldrechte der Bergbevölkerung nach Überschwemmungen und Erdrutschen in den 1970er Jahren durch bestechliche Beamte im fernen Lucknow zugunsten der Holzbarone ausgehebelt werden sollten. Sunderlal Bahuguna, Gandhi-Anhänger und geistiger Führer der Chipko-Bewegung, betrachtet den Wald als Allgemeingut, das von allen genutzt, aber auch geschützt werden muss, denn wer die Existenz des Waldes bedrohe, der gefährde das Leben auf der Erde insgesamt. Ökologie bedeute nachhaltige Wirtschaftlichkeit, bei der Mensch und Wald in Eintracht miteinander leben. Mit der profitorientierten Waldverwertung hingegen würden nur die Interessen Einzelner berücksichtigt, wodurch der Mensch selbst zum "Zerstörer" unseres Planeten werde.

Angesichts der dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Bergbewohner hatten die Protestbewegungen bereits während des II. Weltkrieges an Schärfe erheblich zugenommen und 1949 die Abdankung des damaligen Herrschers bewirkt. Auch in der Folgezeit verbesserte sich die Lage der Bewohner nicht, denn der Holzbedarf im unabhängigen Indien stieg gewaltig, und die Ausplünderung der Wälder wurde im großen Stil fortgesetzt. Deshalb häuften sich die Forderungen, über die Nutzung des Waldes selbst bestimmen zu können. Gleichzeitig blieb das verstärkte Abholzen des Waldes nicht ohne Folgen für die Umwelt. Grundlegende Fehler der Regierung von Uttar Pradesh, wie die Fortsetzung des Tehri-Staudamm-Projektes, ungenügende Hilfe nach dem Erdbeben von 1991, der Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei u.a.m. führten zu Unruhen und massiven Auseinandersetzungen, bei denen sich aus der Umweltbewegung mehr und mehr eine Protestbewegung mit der Forderung nach einem eigenen Staat entwickelte. Erstmals stimmte im August 1996 die Kongress-Regierung unter Narasimha Rao der Bildung eines eigenen Staates zu und im Sommer 2000 stimmte auch die von der Bharatiya Janata Party geführte Koalition im Parlament dem Beschluss über die Abtrennung von Uttar Pradesh zu.

Das zweite Kapitel behandelt die Region von Garhwal, die in der jüngeren Vergangenheit noch das Fürstentum Tehri-Garhwal bildete. Sehr einfühlsam beschreibt Rüstau die Region von Garhwal als das Land der Asketen. Hier erfolgt ihr Rückzug zu den schier unzähligen Tempeln entlang des Ganges und seiner Quellflüsse, um sich allein oder in Asketen-Orden ganz der Meditation hinzugeben. Die vielen und zum Teil sehr alten Tempel für die Götter des hinduistischen Pantheons erweisen sich dabei als steinerne Zeugen des Geschehens, das im Ramayana ausführlich dargestellt wurde. Unter solchen Bedingungen gehören Wanderungen durch die äußerst reizvolle Landschaft zu den Erlebnissen der besonderen Art, bei denen die Göttergestalten unmittelbar aus dem Dunst der Geschichte hervortreten und zu stummen Begleitern der Interessierten oder der Gläubigen an der Wegstrecke werden.

Tatsächlich handelt es sich hier um ein Gebiet, das trotz seiner Unzugänglichkeit seit vorgeschichtlicher Zeit von Menschen bewohnt wurde. Die günstige Lage zwischen Tibet, dem Salzland, und dem Gebiet des heutigen Punjab als Kornkammer, sowie das Vorkommen verschiedener Bodenschätze lassen eine rege Handelstätigkeit vermuten. Die vielen Skulpturen aus Stein und Metall, aber auch die verschiedenen Formen in der Tempelarchitektur zeugen von der hoch entwickelten Kunstfertigkeit, mit der die Mythen in den Wallfahrtsorten ihren Niederschlag gefunden haben. Später erfährt der Leser viele interessante Einzelheiten über die mythologischen Überlieferungen von Deoprayag und Rudraprayag, den Orten des Zusammenflusses der Bhagirathi in die Alaknanda sowie der Mandakini in die Alaknanda, die zugleich wichtige Pilgerorte sind, an denen Totenkult betrieben wird. Kurzweilig ist auch die Geschichte von Triyuginarayan, dem Ort, an dem in grauer Vorzeit Shiva und Parvati die Ehe geschlossen haben sollen, bei der Vishnu als Zeremonienmeister und Brahma als Priester teilnahm. Zur Erinnerung an Vishnu sind Mohras (Metallmasken) in den Tempeln angebracht, bei denen von der Unterseite her das Bild eingerieben wird, so dass ein Relief entsteht. Diese maskenhaften Götterbilder sind häufig in den Tempeln anzutreffen und können als typisch für Uttaranchal angesehen werden

Das dritte Kapitel beschreibt Kumaon, das "Land der Götter", dessen Gipfel bis auf 7.816 m reichen und mit seinen sanften Tälern und Höhen durch einige quer laufende Gebirgszüge von Garhwal getrennt ist. Gandhi war 1929 von der Schönheit der Landschaft so überwältigt, dass er seitdem diese Region als die "Schweiz Indiens" betrachtete. Eindrucksvoll gelingt es der Autorin, am Beispiel der 1982 verstorbenen Gandhi-Anhängerin Sarala Devi einen Einblick in das Leben der Bergbevölkerung zu geben. Nachdem sie sich in den 1940er Jahren um die Familien der verhafteten Freiheitskämpfer kümmerte, gründete sie nach Erlangung der Unabhängigkeit einen Ashram für den Unterricht von Mädchen. Später half Sarala den Frauen im Kampf gegen den Alkoholmissbrauch ihrer Männer, wandte sich entschieden gegen die kommerzielle Abholzung der Wälder und setzte sich nachhaltig für den Aufbau der dörflichen Kleinindustrie ein.

Zu den Sehenswürdigkeiten in dieser Region gehört besonders der Tempelkomplex von Baijnath, der zwischen dem 8. und 14. Jh. errichtet wurde und inzwischen zu den streng bewachten Schreinen des Archaeological Survey gehört. Das kunsthistorische Kleinod bildet hier eine wunderschöne Parvati-Statue, die aus einer einzigen schwarzen Steinplatte gearbeitet wurde und aus dem 9. Jh. stammen soll. Die Skulptur ist von einem in Stein gehauenen Rahmen eingefasst, in dem zahlreiche mythologische Darstellungen erkennbar sind. Parvati, die gänzlich mit Figuren aus der Götter- und Mythenwelt dekoriert ist, hält damit gewissermaßen das All in ihren Händen. Zu interessanten Entdeckungen führt auch der Besuch in Almora, der Hauptstadt des Kumaon, mit der Gedenkstätte zu Ehren von Swami Vivekananda, der 1897 die Ramakrishna-Mission als eine Vereinigung von Laien und Asketen für die Förderung des eigenen Erlösungsstrebens gegründet hat.

Im vierten Kapitel mit dem Untertitel "Abschied" wird der Leser schließlich nach Nainital geführt, das ab 1840 für die Engländer ein beliebter Erholungsort war und auch heute noch als einer der schönsten Ferienorte im Himalaya gilt. Weiter führt der Weg nach Pangot, einem kleinen Dorf in der Nähe von Nainital, um hier die Bekanntschaft mit einer Asketin (Sannyasini) zu machen, die der Autorin von ihren Vortragstouren in Europa bereits seit Jahren bekannt ist. Es ist Pravrajika Vivekaprana vom Sarada Math, eine hochgebildete Frau, die in den letzten Jahren an diesem abgelegenen Ort ohne Strom- und Wasserversorgung freiwillig ihre Arbeit verrichtet, um den Aufbau eines Ashrams zu organisieren. Neben einen Meditationsraum und Gästezimmern wird es keinen Altarschrein geben, da es ein Ashram werden soll, der der Konzentration auf das absolute Eine und die Identität alles Seienden mit diesem Einen gewidmet ist. Spätestens hier stoßen wir auf religiöse Einstellungen, die sich für den aufgeklärten und rational denkenden Europäer nur schwer erschließen lassen.

Nach eingehender Lektüre des Buches bleibt der Eindruck, dass die Autorin alle wichtigen reisepraktischen Informationen vermittelt hat, um diese abwechslungsreiche und faszinierende Region individuell zu entdecken. Es liest sich wie ein Handbuch mit kleinen Geschichten am Rande, die einen guten Überblick über Vergangenheit und Gegenwart, vor allem aber über Religion und Kultur vermitteln, durch den Individualreisende in ihrer Erlebnisfülle außerordentlich bereichert werden. Die einzelnen Kapitel sind gut verständlich und zugleich sehr persönlich geschrieben. Eine vorzüglich gelungene Mischung, die mit Fotos angereichert, das Buch zu einem hoch interessanten und informativen, zuweilen aber auch nachdenklichen Lesebuch macht, das sehr empfehlenswert ist.

Quelle: Hiltrud Rüstau (2004): Uttaranchal. Dem Himmel ein Stück näher. Tagebuch einer Reise in das Land der Götter, Berlin: Trafo Verlag, 307 Seiten, ISBN 3-89626-483-4, 29.80 Euro

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