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In Abgrenzung zur Mehrzahl der bisherigen Literatur zum Thema Kommunalismus und Hindu-Nationalismus stellt die Autorin Ornit Shani Kaste und die Politik der positiven Diskriminierung in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Shani versteht ihr Buch als einen Beitrag zu den neueren Forschungsansätzen, die die Ursachen des Kommunalismus nicht als einen Konflikt zwischen den Religionsgemeinschaften begreifen, sondern diese These hinterfragen und - aus politikwissenschaftlicher Perspektive - nach anderen Ursachen suchen. Damit nimmt sie eine Abgrenzung vor zu jenen Autoren, die - in einem kulturalistischen Ansatz - den jeweiligen Gruppen bestimmte Eigenschaften zuordnen. Diesen Ansätzen zufolge gibt es endemische Gewalt, die von kulturellen Charakterzügen ableitbar ist und dementsprechend aktive Handlung (agency) bestimmter sozialer Gruppen implizit bejahen oder verneinen 1 . Ebenso wenig seien Ansätze hilfreich, die den Staat als Akteur per se ausklammern 2 . Diese bisherigen Analysen können kaum den gesamten Prozess erfassen, in dem sich kommunalistische Identitäten verändern lassen, so Shani.
Die Autorin geht in ihrer kleinteiligen Studie vielmehr davon aus, dass die Intervention des Staates, die auf mehr Gleichberechtigung für bestimmte Hindus zielte, zwar zu einer Verunsicherung der höheren Kasten führte, die ihre Privilegien schwinden sahen. Dieser Diskurs konnte von einigen Segmenten der höheren Kasten so umgeleitet werden, dass es schien, als ob die Muslime begünstigt werden sollten. Für den Erfolg dieser Strategie mussten allerdings auch die notwendigen Vorraussetzungen bestanden haben. Und eben diese Vorraussetzungen, eine umfassende Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in Ahmedabad in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, hat die Autorin zusammengestellt. Die detaillierte Untersuchung der sieben Monate andauernden Gewalt im Jahre 1985 verdeutlicht den Prozess, wie der Protest Angehöriger höherer Kasten gegen eine Regierungsentscheidung zur massiven Gewalt gegen Muslime wurde, obwohl diese bezüglich dieser Regierungsentscheidung keine Rolle gespielt hatten.
Das Buch beginnt mit einem Überblick über die Kräfteverhältnisse sozialer Gruppen in Gujarat seit dem frühen 20. Jahrhundert. Hierbei geht es um misslungene Reformen, Gewinner und Verlierer, Machverhältnisse innerhalb der Congress Partei und um Bestrebungen verschiedener Gruppen nach sozioökonomischem Aufstieg. Weiter geht es mit der erfolgreichen Textilindustrie in Ahmedabad, dem umfangreichen Zuzug von Arbeitern, der Segregation der Bevölkerung, einer Verknappung von Wohnraum für die Arbeiter und der Entstehung von Slums. Eine verfehlte Politik, die eigentlich die Ärmeren begünstigen sollte, führte zu einer eklatanten Vervielfachung der Preise für Wohnraum und Bauland. Ursächlich hierfür war eine Gesetzeslücke, was folgte waren langwierige Rechtstreitigkeiten, gespeist durch träge Behörden, kriminelle Bauunternehmer und Korruption. Illegale Ansiedelungen waren die zwangsläufige Folge und Slum-Lords verbündeten sich mit Lokalpolitikern. Im Gegenzug zu Duldung und einfachster Ausstattung wurde die Wiederwahl der Politiker sichergestellt. Bewohner bisher legaler Slums mussten sich dem Patronagesystem unterwerfen. Diese und ähnliche Entwicklungen waren im Wesentlichen die Folge mangelhafter Gesetzgebung. Mit dem Niedergang der Textilindustrie hatten 1985 50.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Betroffen waren Angehörige aller Religionsgemeinschaften und Kasten. Fabrikbesitzer konnten die Situation unter Missachtung der Vorschriften zur Ausbeutung nutzen und die Arbeiter sich aufgrund von Strukturen und Akteuren der Gewerkschaft nicht vereinen. Weitere Verflechtungen allerlei machtvoller Akteure, die zur Erlangung persönlicher Profite weite Teile der Bevölkerung ausbooteten, werden im Verlauf dieses Buches offenbar.
Dies war der Hintergrund in Ahmedabad, vor dem ab Mitte der 1970er Jahre indienweit die Debatte um Reservierungen für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen, die Other Backward Classes, verstärkt vorangetrieben wurde. Die langwierige Diskussion um "Rückständigkeit" konzentrierte sich um Begünstigung von Klasse oder Kaste. Früh hatte es Warnungen gegeben, dass Kaste als Kriterium der distributiven Gerechtigkeit das Kastensystem verfestigen würde, stattdessen wurde für die Anwendung wirtschaftlicher Kriterien, also Klasse, plädiert. In der endlosen Debatte vermengten Kommissionen, Richterschaft und Politiker die wirtschaftliche Begünstigung von unteren Kasten mit Rechten für die muslimische Gemeinschaft und die sozialen Gruppen wurden dem politischen Wettbewerb untergeordnet. Shani sieht vor allem die Kongress-Partei am Werk, die nach ihrer Spaltung 1969 das Wählerpotential der unteren Kasten zu entdecken begann. Die Debatte führte zur Verunsicherung höherer Kasten, die von der Begünstigung ausgeschlossen waren. Auch dominante Kasten begannen, "Rückständigen"-Status einzufordern. Die Grenzen von Kaste wurden verhandelbar und in Form elektoraler Allianzen wurde Kaste essentialisiert. 1980 kam es in Gujarat, nachdem die Kongress Partei außerdem mit ihrer KHAM Strategie (Kshatriya, Harijan, Adivasi, Muslim) die Wahlen gewonnen hatte, zu Gewalt vor allem gegen Dalits. Im Januar 1985 entschied die Kongress-Regierung in Gujarat, dass die Kaste das entscheidende Kriterium sein sollte. Im Februar 1985 brachen in Ahmedabad die Unruhen aus.
Innerhalb eines Monats wandelte sich der Disput, der seinen Ursprung innerhalb des Kastensystems hatte, zu kommunalistischer Gewalt zwischen Hindus und Muslimen. Shani hat im zweiten Teil ihres Buchs den Bericht der Untersuchungskommission ausgewertet und in einem zweiten Schritt die Bewohner zu den Ereignissen 1985 befragt. Die zentralen Fragen lauten: Warum entwickelten sich die Unruhen zu einem Konflikt zwischen Hindus und Muslimen? Und warum bekam der Staat die Situation nicht unter Kontrolle?
Der Kommissionsbericht liefert zahlreiche Detailinformationen auch zu den kriminellen Verwicklungen politischer und staatlicher Akteure. Man liest, wie die Polizei ihre Beteiligung an der Gewalt verschleiern konnte, sowie einiges über die Rolle der illegalen Alkoholhändler und deren korrupte Verwicklungen mit Polizei und Politik. Bereits durch den offiziellen Bericht lässt sich feststellen, dass wesentliche Belange der Bevölkerung dem Profit der Politiker und anderer Akteure unterworfen waren. Der Bericht lässt dennoch die sozialen und ökonomischen Nöte der Bevölkerung außer Acht und unterstellt, dass die Gewalt ausbrach, weil es die Spaltungen zwischen den religiösen Gemeinschaften a priori gab. Demnach war es überflüssig, nach sozialen Ursachen für die Gewalt zu suchen, so die Autorin. Die sozialen Ursachen und weitere Details der Machenschaften zeichnet sie durch die Befragungen der Einwohner nach. Man liest von Hindus, die sich als Agitatoren sahen, aber keine konkreten Spannungen mit ihren muslimischen Nachbarn hatten. Allerdings sahen sie diese durch die Regierung bevorzugt. In Pamphleten gegen die Reservierung wurde auch gegen Muslime mobil gemacht, dies auch aufgrund der KHAM-Strategie. Vor dem Hintergrund der gravierenden wirtschaftlichen Probleme boten hindunationalistische Organisationen und Politiker Unterstützung und die Bevölkerung war auf Hilfe angewiesen. Wir lesen über die Anerkennung von Dalits, die 1985 erstmals am Rath-Yatra-Ritus vollständig teilnehmen durften. Und die scheinbar kommunalistische Eskalation während der Rath Yatra war Anwohnern zufolge auf einen Konflikt zwischen Angehörigen höherer Kasten und Latif, einem einflussreichen Kriminellen oder Wohltäter, der dem Hindu-Landtagsabgeordneten zuvor seine Unterstützung versagt hatte, zurückzuführen. Zudem konnte im Zuge der exzessiven Gewalt im Wert gestiegenes Bauland unauffälliger geräumt werden. Die Politiker konnten die Slums, deren legaler Status umstritten war, zuvor nicht räumen lassen, da dies Wählerstimmen gekostet hätte. Der kommunalistische Anstrich wurde von Polizei und hindunationalistischen Organisationen beigesteuert.
Einige Folgen der Gewalt von 1985 waren, dass die Reservierung nicht umgesetzt wurde und bislang nach Klasse strukturierte Wohngebiete separierten sich entlang religiöser Linien. Ein Gesetz, das die Ghettoisierung verhindern sollte, war abermals schlecht konzipiert und trug im Wesentlichen zur Korruption bei. Es fand eine Verschiebung von der Kongress-Partei hin zur BJP (Bharatiya Janata Party) statt.
Im dritten und letzten Teil ihres Buchs, den beiden Analysekapiteln, zeichnet Ornit Shani die zunehmende Akzeptanz des Hindu-Nationalismus durch den Prozess der Politik der Umverteilung zu einer Politik der Anerkennung nach. Die Autorin plädiert dafür, Kommunalismus und Kaste als Praxis ethnischer Politik zu untersuchen: "[…] on close scrutiny, these religious and cultural identities are found to be contingent upon political rivalries, economic pressure and social contexts. At times these group identities gain political relevance and at other times they are played down. Far from constituting a foundational or ontological unit of action and analysis, social, and especially ethnic, identities should be regarded as malleable and transient." (Shani 2007:136) Und eben weil die Identitäten an ihren Rändern formbar sind, sind sie in ihrer Funktion besonders zweckmäßig im Ringen um die Ressourcen eines Staates. Hier formiert sich Hindu-Identität in Relation zu Kaste, staatlicher Reservierungspolitik und dem zugehörigen Diskurs. Die Kaste als soziale Einheit beruhe demnach mehr auf der Definition, die sie durch die Politik erfuhr, als auf ihrer inhärenten Substanz, so Shani. Dass die Politik der positiven Diskriminierung den Hindunationalisten in die Hände gespielt hat, ist zwar nicht neu, der Autorin gelingt es aber, diesen Prozess am Beispiel von Gujarat überzeugend zu veranschaulichen. So entstand im Ergebnis die Hindu-Einheit aus dem politischen Versuch, Dalits und Muslime zu vereinen. Und größere Gewaltausbrüche in ethnischer Politik lassen Grenzen verhärten, dies sowohl zwischen den Gruppen als auch zwischen bestimmten Gruppen und dem Staat, was für die weitere Entwicklung Gujarats von Bedeutung ist.
So spannt Shani am Ende ihres Buchs den Bogen von 1969 bis 2002. Die gewaltsamen Unruhen zwischen Hindus und Muslimen, die insbesondere Gujarat in den letzten vier Dekaden erschütterten, weisen frappante Parallelen zu Ahmedabad 1985 auf: 1969, 1980, 1990-92 und 2002 gab es jeweils eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit den jeweiligen Regierungen über ausbleibende Reformen und zumeist drohten herbe Verluste bei den kommenden Wahlen. Und es gab wirtschaftliche Ängste in der Bevölkerung. Die Reservierung war ein geeignetes Instrument, Wählerstimmen zu erhalten, welches aber gleichzeitig den höheren Kasten ihre wirtschaftlichen Nöte und Statusverlust vor Augen führte. Diesen Ängsten nahm sich die BJP an. Und die BJP wurde zunehmend erfolgreich, vor allem seitdem sie Anfang der 80er Jahre beschlossen hatte, Dalits aufgrund von Wählerpotential zumindest formal zu integrieren. Demnach konnten hindunationalistische Organisationen nachlassende Spannungen zwischen Hindus und Muslime nicht brauchen: "Once the Hindu-Muslim divide that rested upon intangible hostilities became less acute the underlying tensions among Hindus surfaced." (Shani 2007: 173) Die Gewalt diente demnach dazu, andere Missstände, wie die Hindu-Nationalisten sie sehen, wie beispielsweise die Spannungen unter den Hindus, zu verwischen. Auch im Februar 2002 hatte die BJP zwei Nachwahlen in Gujarat verloren. Etwa zur gleichen Zeit konnte die Bahujan Samaj Party, die die Spannungen unter den Hindus anerkennt, Erfolge in Uttar Pradesh verzeichnen. Bevor Narendra Modi 2001 den Vorsitz der BJP in Gujarat übernommen hatte, war die Regierung unter seinem Vorgänger vor allem durch Untätigkeit aufgefallen. Zu Beginn des Pogroms war die Lage günstig, die globale islamische Bedrohung auch bezüglich Godhra zu konstruieren. Godhra ist eine Stadt in Gujarat, in der Ende Februar 2002 Teile eines Zuges ausbrannten, wobei 58 hinduistische Pilger und Aktivisten des VHP (Welt Hindu Rat) ums Leben kamen. Für die Regierung Gujarats stand schnell fest, dass es sich um eine muslimische Verschwörung handelte. Godhra gilt als der Auslöser des nachfolgenden Pogroms, das sich über viele Wochen auf weite Teile Gujarats erstreckte und bei dem nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen etwa 2500 Menschen ums Leben kamen, die großen Mehrzahl von ihnen Muslime. Nahezu unmerklich wurde hierdurch der Diskurs um die Gefahren von Liberalisierung und Globalisierung ersetzt, von denen Gujarat seit den 90er Jahren besonders stark betroffen war. In dem Buch wird nachvollziehbar beschrieben, wie sich die Gewalt von 2002 aus den Auswirkungen von 1969, 1985 und den frühen 90er Jahren gespeist hat. 2002 handelte es sich nicht um einen Zusammenbruch von Recht und Ordnung, sondern um selektiven Machtmissbrauch staatlicher Organe, der sich bereits 1969 und 1985 abzeichnete. Staatliche Organe waren Teil der Rechtlosigkeit, die sich nach und nach in das tägliche Leben eingewurzelt hatte. Die Menschen nahmen zunehmend das Recht in ihre eigenen Hände, da sie aus Erfahrung wussten, dass es unwahrscheinlich ist, dass Politik, Polizei oder Gerichte für Gerechtigkeit sorgten. Mit der gleichen Wahrnehmung von kollektiver Gerechtigkeit nehmen auch jene Hindus, die sich als Opfer "muslimischer Eindringlinge" sehen, das Recht, wie sie es sehen, in die eigene Hand. Die Wahrnehmungen von "islamischem Terrorismus" und "dem Zusammenprall der Kulturen" stellen ein zweckdienliches Mittel bereit, um beispielsweise das Pogrom in Gujarat zu legitimieren. Solche Wahrnehmungen, die insbesondere von der Politik gern als gegeben aufgefasst werden, können das Verständnis für die Entstehung des Kommunalismus in Indien allenfalls verschleiern, so die Autorin.
Ornit Shani hat ein wissenschaftliches Fachbuch geschrieben. Selbst mit der Materie grundsätzlich vertrauten Lesern wird in der kleinteiligen Studie einiges abverlangt. So werden im Extremfall beispielsweise Artikel der indischen Verfassung diskutiert, ohne dass die Autorin deren Inhalt benennt. Zudem handelt es sich insgesamt um eine sehr isolierte Betrachtung, die gleichzeitige Entwicklungen in ganz Indien weitgehend ausgeklammert, wie zum Beispiel den Aufstieg der BJP oder die Strategien hindunationalistischer Organisationen. Aber Shani geht es nicht um die Entstehung des Hindu-Nationalismus, sondern um die Bedingungen, die einen breiten Zuspruch erst ermöglicht haben - das Fehlverhalten von Staat und Politik. Und genau hier liegt auch die große Stärke dieses Buchs. Es verdeutlicht, dass ein scheinbar religiöser Konflikt nichts anderes ist, als das Streben von Individuen und Gruppen um Macht und Ressourcen, und dies insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Nöte. Zudem ist es ein überzeugendes Plädoyer für die Anerkennung, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung aller gesellschaftlichen Gruppen in einer Demokratie. Es ist ein Buch gegen scheinbar einfache Lösungen, für dessen Verständnis man sich ein wenig Mühe geben muss. Es lohnt sich.
Ornit Shani: "Communalism, Caste and Hindu Nationalism. The Violence in Gujarat." Cambridge 2007, Cambridge University Press, 215 Seiten, paperback, 21,99 €
[ 1 ] Shani nennt bspw. Ashis Nandy: The Politics of Secularism and the Recovery of Religious Tolerance; Sudhir Kakar: Some Unconscious Aspects of Ethnic Violence in India oder Paul Brass: Theft of an Idol.
[ 2 ] wie bspw. Ashutosh Varshney: Ethnic Conflict and Civic Life.
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