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Es ist gegenwärtig Mode, das wachsende Interesse an Indien, das sich wirtschaftlich unter anderem in einer Verdoppelung der ausländischen Direktinvestitionen auf 14,6 Milliarden US-Dollar in den ersten fünf Monaten des Finanzjahrs 2008/09 niederschlug, auf dem Buchmarkt wohl aus Verkaufsgründen mit den Superlativen "Großmacht", "Weltmacht" etc. noch zusätzlich anzukurbeln. Der Kanadier Daniel Lak trägt mit seinem Buch, das interessante Kapitel über die politische ("Democracy, dynasty and devolution: Transferring power in India") soziale ("Educating India then and now: A journey from light to darkness") und alltägliche Wirklichkeit sowie die IT-Industrie ("Silicon and slums: New Economy, old problems") in Indien enthält, indirekt ebenfalls dazu bei, dass recht oberflächliche politische Etikettierungen ein adäquates Erfassen des indischen Herrschaftssystems und seiner vielfältigen internen Widersprüche verhindern.
Lak operiert mit der nicht wirklich ausgeführten These, dass Indien eine "liberale Demokratie" (S. 275) sei. Dies steht unter anderem sehr im Gegensatz zu einer jüngsten Einschätzung des renommierten Fernseh- und Zeitungsjournalisten Rajdeep Sardesai, der von einem "feudalen und nicht-transparenten politischen System" spricht. (1) Ebenfalls dürften Laks Behauptungen, dass "eine öffentliche Debatte auf jeder Ebene der indischen Gesellschaft" (S. 266) und ein "konstanter Diskurs" (S. 293) stattfänden, wohl kaum der Wirklichkeit entsprechen. Ganz im Gegenteil, die öffentliche Debatte in dieser hochgradig stratifizierten Gesellschaft mit extremen und wachsenden Einkommensscheren ist von den Prämissen des herrschaftsfreien Dialogs und Diskurses eines Jürgen Habermas Lichtjahre entfernt. Umso fragwürdiger erscheint es, wenn Lak im Schlusskapitel Indien in Zukunft als "liberale Supermacht" und "Asiens Amerika" (S. 261-278) sieht.
Gar wirklichkeitsfremd und zynisch klingt der Satz "Bring on the Strawberries. Let Thailand and America Grow the Rice" (S. 288) angesichts des Hungers und der Unterernährung von Hunderten von Millionen indischer Bürgerinnen und Bürger. Zwar demonstriert Lak die komparativen Wettbewerbsvorteile einer Erdbeerfarm im Punjab, die an eine Marmeladenfabrik liefert, glaubhaft, meint aber unzulässigerweise diese "für die Zukunft der indischen Landwirtschaft" verallgemeinern zu können.
Auch muss bei näherem Hinsehen bezweifelt werden, dass die Nichtregierungsorganisationen die Träger eines "neuen indischen Freiheitskampfes" (Kapitel 7, S. 147-179) sind. Dieser von Auslands- und Inlands-Geldern in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar gespeiste Sektor hat im Laufe der Jahrzehnte im Namen des Kampfes gegen Unterentwicklung, Armut und Kinderarbeit nicht wenige Potemkinsche Dörfer produziert, abgesehen davon, dass die NRO-Führungspositionen überwiegend von Angehörigen der sowieso schon privilegierten Oberkasten dominiert werden.
Leider enthält das Buch auch veraltete Statistiken zum Handel zwischen Indien und der Volksrepublik China, die nach der EU Indiens größter Handelspartner ist (S. 276). Hier hätte ebenso wie bei den veralteten Angaben zur Armut (S. 284), die weit unter den Zahlen von Weltbank, Asiatischer Entwicklungsbank etc. liegen, ein aufmerksameres Lektorat des sonst allgemein vorbildlichen Verlags diese unnötigen Schwächen ausbügeln können. Gleiches gilt, wenn Lak von nur zwanzig Millionen Arbeitslosen – eine ganz und gar nicht korrekte Zahl – spricht (S. 289), gleichzeitig aber fairerweise auf die hohe "Unterbeschäftigung" in Indien verweist.
Manoj Joshi, Redakteur der Mail Today, verwies in seiner Rezension des Buches darauf, dass Daniel Lak, "ein unerschrockener Indien-Liebhaber", speziell für ein internationales Publikum geschrieben habe. So bringe das Buch trotz einiger lesenswerter Reportagen für ein indisches Publikum nur wenig Neues und wiederhole "Klischees". Lak habe sich nicht allzu sehr mit den Schattenseiten der politischen und sozialen Prozesse befasst. Joshi: "Der Niedergang der wichtigsten Parteien und der Aufstieg regionaler und ethnischer Gruppen stellt eine riesige Herausforderung für die Funktionsfähigkeit der indischen Republik dar." Trotzdem urteilt Joshi: "Alle Porträts der armen und kämpfenden Menschen in Laks Buch sind sympathisch und deswegen haucht er den Charakteren Leben ein." (2) Einer Einschätzung, der beizupflichten ist, kommt diese Stärke des Buches doch bereits in der Einleitung zum Ausdruck, wenn der Wäschebügler Ram in einem Vorort von Chennai vorgestellt wird, der von seinen Kunden Vorschüsse erbat und diese nach dem durch Bildung erreichten beruflichen Aufstieg seiner beiden Söhne inklusive der Zinsen zurückzahlen konnte.
Im deutschsprachigen Raum dürfte allerdings das 2006 erschienene Buch von Bernhard Imhasly "Abschied von Gandhi? Eine Reise durch das neue Indien" lesenswerter und demjenigen von Daniel Lak vorzuziehen sein. (3) Zudem ist Imhaslys Buch in englischer Übersetzung mit dem Titel "Goodbye to Gandhi? Travels in the New India" bereits im Dezember 2007 ebenfalls bei Penguin erschienen und erfreut sich guter Resonanz.
Daniel Lak (2008): India Express. The Future of a New Superpower. New Delhi: Penguin/Viking. ISBN: 9780670082346 (For Sale in India only, jedoch internationale Ausgaben), 499 Rs.
(1) Rajdeep Sardesai: Face the Nation, in: Hindustan Times, 3.10.2008, S. 10.
(2) Manoj Joshi: Indian story made simple, in: Mail Today, 28.9.2008, S. 27.
(3) vgl. die Rezension des Buches von Nadja-Christina Schneider, erschienen im April 2007 online: http://www.suedasien.info/rezensionen/1878.
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