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Insbesondere die von Manchester University Press betreute Reihe 'Studies in Imperialism' demonstrierte, dass eine Beschäftigung mit imperialer Geschichte auch zur Gewinnung origineller kulturgeschichtlicher Erkenntnisse taugen kann. Beinahe zeitgleich reflektierten Pionierarbeiten amerikanischer Historiker wie Bernard Cohn 1 und Frederick Cooper den wachsenden Einfluss der 'postcolonial studies' auf die Historiografie des britischen Empire. Sie entfachten Debatten, die vom Mainstream der Großbritannienhistoriker ebenso wahrgenommen wurden wie von Vertretern historisch ausgerichteter 'area studies'. Eine intensive Auseinandersetzung mit Englands imperialer Vergangenheit ist - diese Erkenntnis setzt sich mittlerweile immer stärker durch - nicht nur von Bedeutung, um die historische Entwicklung und aktuelle Befindlichkeit der ehemaligen Kolonien zu verstehen, sondern auch diejenigen des britischen Mutterlandes selbst. 2
Das von Bernard Cohn sowie Frederick Cooper und Ann Stoler bereits Mitte der 1990er erhobene Postulat, europäische Zentren und koloniale Peripherien in einem gemeinsamen epistemologischen Feld zu analysieren,
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fand selten eine so konsequente Umsetzung wie in dem hier besprochenen Beitrag von John Marriott zu den 'Studies in Imperialism'. In The other Empire untersucht der an der University of East London lehrende Historiker in insgesamt sieben, meist kontrapunktisch angelegten Kapiteln die Entwicklung und wechselseitige Beeinflussung britischer Elitendiskurse über die urbanen Unterschichten Londons einerseits und die kolonisierte Bevölkerung Indiens andererseits. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei das gesamte 'lange' 19. Jahrhundert. Das umfänglich ausgewertete Quellenmaterial konzentriert sich hauptsächlich auf "published popular accounts that reached a wider audience", [p. 7] namentlich Reiseliteratur, Reportagen und Publikationen christlicher Missionare; aber auch Belletristik und Verwaltungsakten werden in gewissem Maße berücksichtigt. Der gleichfalls überaus reiche Korpus der benutzten Sekundärliteratur umfasst neueste Publikationen zur indischen Kolonialgeschichte ebenso wie eine Fülle von Beiträgen zur britischen Geistes-, Kultur- und Sozialgeschichte. Allein die Zusammenschau dieser ansonsten zumeist in Isolation voneinander betrachteten Forschungsliteratur stellt eine bemerkenswerte Leistung dar.
Marriott zufolge war das gemeinsame Wissensfeld, das sich zur Durchdringung und Erklärung geografisch so unterschiedlicher Räume wie Britisch-Indien und des Londoner East End (und ihrer jeweiligen Bevölkerung) konstituierte, maßgeblich durch ein zentrales Prinzip strukturiert, dasjenige des Fortschritts. Der Fokus seiner Darstellung liegt auf der Analyse der Wahrnehmung von Gruppen, die man in 'Zentrum' und 'Peripherie' als Bedrohung für die Entfaltung von progress und improvement ansah: den 'unzivilisierten' natives in Britisch-Indien und den 'unzivilisierten' Bewohnern der Elendsviertel in der englischen Metropole.
Die Spannungen zwischen dem Fortbestehen urbaner Armut in England und der moralisch fragwürdigen Praxis der Sklaverei einerseits sowie dem neuen liberalen Fortschrittsideal von Denkern wie Adam Smith andererseits, steht im Mittelpunkt des treffend ‚Antinomies of Progress’ überschriebenen ersten Kapitels. Marriott ruft hier detail- und kenntnisreich insbesondere die Rolle evangelikaler Gruppen und Vordenker (wie etwa der Clapham-Sekte) in so unterschiedlichen Projekten wie der Abolition des Sklavenhandels, der Missionierung der neuen Kolonialterritorien und der moralischen 'Hebung' der eigenen Unterschichten in Erinnerung [S. 29-35].
Das zweite Kapitel stellt die beiden Schauplätze zum ersten Mal direkt gegenüber und kontrastiert frühe Reisebeschreibungen aus Indien mit dem aufkeimenden Genre der 'Town-Trickster-Literatur', welche Londons so genannte 'Unterwelt' erstmalig zum Gegenstand literarischer 'Fremdenführung' machte. Trotz gelegentlich auftauchender Metaphern, in denen die Armenviertel der Themsemetropole mit den 'desarts [sic!] of Africa and Arabia' [S. 50] gleichgesetzt werden, kommt Marriott zu dem Schluss, es habe bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keinen wirklichen Dialog zwischen beiden Genres gegeben. Gemeinsam sei ihnen lediglich eine deutliche epistemologische Verunsicherung, das beschriebene Terrain tatsächlich erfassen und durchdringen zu können [S. 63]. Ein effizientes gemeinsames 'Wissensfeld' musste also erst noch geschaffen werden.
Erste quasi-wissenschaftliche Versuche, die unbekannten Territorien intellektuell zu kartografieren, fanden erst um die Wende zum 19. Jahrhundert statt und sind Gegenstand des dritten Kapitels. Marriott zeigt, dass insbesondere Patrick Colquhouns mit empirischen Daten gesättigte und breit rezipierte Abhandlungen Treatise on the Police of the Metropolis (1795) und Treatise on Indigence (1806) entscheidend zur Wahrnehmung der Londoner Unterschichten als "threat to commercial and imperial interests" beitrugen [S. 75]. Ähnliche Verschiebungen lassen sich in der Repräsentation der Bevölkerung Indiens beobachten, wo die Übernahme territorialer Herrschaft und die allmähliche Herausbildung kolonialstaatlicher Strukturen seit den 1770er Jahren einen Bedarf nach verwertbarem Wissen über die neuen Untertanen generierten. Eine wichtige Rolle spielten auch hier wiederum Bestrebungen der 'Evangelicals', das Christentum in Indien zu verbreiten. Es waren nicht zufällig die Beschreibungen von religiösem Sendungsbewusstsein durchdrungener Angestellter der East India Company wie Charles Grant oder Claudius Buchanan, die das (meist negative) Bild der 'Asiatic Subjects of Great Britain' im Mutterland prägten [S. 84-94]. Wie Colquhouns 'treatises' basierten sie teilweise auf empirischen Erhebungen oder zumindest Erfahrungen und wie im Falle der 'verrohten' heimischen Unterschichten leitete man aus der Negativdiagnose eine Zivilisierungsmission gegenüber den Schutzbefohlenen ab.
Auf welche Art und Weise dieser Prozess des 'otherings' von als fortschrittshemmend identifizierter Gruppen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts systematisiert wurde, wird im darauffolgenden Kapitel ausführlich am Beispiel der Bevölkerung des Londoner East End aufgezeigt. Einen entscheidenden Beitrag hierzu leisteten einmal mehr christliche Pamphlete, die die vermeintliche moralische Verkommenheit und das 'Heidentum' in den Slums von Whitechapel und Bethnal Green als "more revolting than that in Calcutta and Benares" [S. 108] anprangerten. Mindestens ebenso bedeutend war jedoch das neue, eng mit dem Aufstieg des investigativen Journalismus verknüpfte Genre der Sozialreportage. Es war das 'urban slum travel writing' eines Charles Mayhew (London Labour and the London Poor, 1861-2) oder John Garwood (The Million Peopled City, 1853), das in den 1850er und 1860er Jahren eine deutlich von den zeitgenössischen Rassentheorien geprägte Rhetorik zur Beschreibung der 'metropolitan poor' einführte und immer häufiger koloniale Referenzpunkte wählte. Trunksucht, Faulheit, kriminelle Neigung und Triebhaftigkeit wurden in beiden Fällen ebenso Konstituenten der 'Veranderung' wie eine unkontrollierte Mobilität: Bettler und Stadtstreicher, die "wandering tribes of the city" gerieten beispielsweise in Mayhews Texten zur drastischsten Verkörperung eines zivilisationsfernen 'inneren Orient'. [S. 114-9].
Neue Genres der Beschreibung und neue Methoden der Datenerhebung prägten derweil auch die fortschreitende epistemologische Durchdringung Britisch-Indiens. Bereits in den 1820er Jahren wurden von der Kolonialregierung erste geografische 'Surveys' und ethnografische Studien in Auftrag gegeben. Wenn sie auch de facto reichlich erratisch ausfielen, so erhoben sie doch zumindest den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Besondere Aufmerksamkeit schenkten die 'scholar-administrators' dabei von Anfang an den nomadisierenden Gruppen der indischen Gesellschaft. Wie der Autor unter anderem am Beispiel der als Straßenräuber berüchtigten 'Thugs' exemplifiziert [S. 150-3], wurde ein nichtsesshafter Lebensstil als bedrohlich für die geplante Modernisierung und Zivilisierung der Kolonie empfunden.
Das sechste und fraglos gelungenste Kapitel wendet sich wieder der Metropole (Darkest England) zu und untersucht mit beeindruckender Akribie und einem feinen Gespür für sprachliche Nuancen journalistischer und literarischer Texte die weitere diskursive Ethnisierung (racialisation) der Klassenunterschiede in Großbritannien. Eine Übernahme der manichäischen Schwarz-Weiß-Allegorie, die auch dem Kolonialismus zueigen war, wurde in der Metropole unter anderem durch den Differenzmarker Schmutz erleichtert. Die Beziehung der englischen Eliten zu den 'great unwashed' war jedoch höchst komplex. Ähnlich wie diejenige zu den kolonialen Untertanen blieb sie von einer Ambivalenz zwischen Abstoßung und (häufig auch erotischer) Anziehung geprägt. Davon legt nicht zuletzt die viktorianische Faszination mit dem Sozialcharakter der Prostituierten beredtes Zeugnis ab [S. 170 f.]. Der Einzug der in den Kolonien erprobten Rassenrhetorik in die Debatte um die urbane Armut zeitigte indes auch extreme Folgen. So forderten einzelne Autoren wie etwa Arnold White (The Problems of a Great City, 1886) auf der Grundlage sozialdarwinistischer Argumente eugenische Maßnahmen, um eine Schwächung der englischen 'Rasse' durch ein weiteres Anwachsen der 'degenerierten' Unterschichten zu stoppen [S. 176 f.].
Weniger überzeugend als die Analsye des 'Darkest England'-Mythos fällt Marriotts Diskussion der weiteren 'Ethnisierung' der indischen Bevölkerung durch koloniale Diskurse und Praktiken im abschließenden siebten Kapitel aus. Insbesondere die komplexe Debatte über den Zusammenhang zwischen 'Rasse' und Kaste wird äußerst holzschnittartig wiedergegeben. Einflussreiche Verfechter von Rassentheorien wie der hohe Verwaltungsbeamte und Ethnologe H. H. Risley beispielsweise werden in wenigen Zeilen abgehandelt, und ein Teil der neueren Forschungsliteratur bleibt unberücksichtigt [S. 213 f.]. Angesichts des immensen Korpus an Quellen und Literatur und der Größe der Aufgabe die er sich selbst gestellt hat, verzeiht man dem Autor solche kleinen Versäumnisse jedoch gerne.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Marriott mit The other Empire ein faszinierendes und anregendes Buch gelungen ist - wenn sich durchaus auch einige Kritikpunkte finden lassen. So ist es mitunter etwas ermüdend, seiner jargongeladenen Prosa zu folgen. Ein schwerwiegenderes konzeptuelles Grundproblem von Marriotts Untersuchung lässt sich gleichfalls nicht leugnen: Ostlondon mit Ostindien zu vergleichen, bleibt angesichts der offensichtlichen Asymmetrien der beschriebenen Räume problematisch. Die 'urban poor' in der britischen Hauptstadt stellen fraglos eine weit geschlossenere Gruppe dar als die 'colonial subjects' auf dem geografisch, ethnisch, sozial und kulturell äußerst heterogenen indischen Subkontinent. Es überrascht daher kaum, dass die Kapitel und Abschnitte, in denen es um die Metropole geht, durchweg überzeugender ausfallen als diejenigen, die sich mit der indischen Seite befassen. Nichtsdestoweniger gelingt es Marriott immer wieder auf verblüffende Art, direkte Wirkungskanäle und diskursive Analogien offen zu legen, die beide Schauplätze miteinander verbinden. Man ist nach der Lektüre geneigt, sich seiner Grundthese anzuschließen: Der jahrzehntelange kontinuierlich Austausch von Akteuren und Waren aber auch von Wissenssystemen, Theorien und Begrifflichkeiten lässt es in der Tat sinnvoll erscheinen, Großbritannien und seine Kolonien in einem gemeinsamen Feld zu denken und zu analysieren. Es bleibt also zu hoffen, dass Marriott nicht nur viele Leser sondern auch viele Nachahmer in der historischen Zunft findet. Diese dürfen dann getrost auch überschaubarere Felder beackern.
John MARRIOTT, The other Empire: Metropolis, India and Progress in the colonial imagination, Manchester-New York: Manchester University Press 2003, xii + 241 S., $ 74,95.
Literaturbelege:
[ 1 ] COHN, B. S., Colonialism and its Forms of Knowledge. The British in India, Delhi 1997.
[ 2 ] Eine solche Argumentation ist besonders explizit bei THOMPSON, Andrew, The Empire Srtikes Back? The Impact of Imperialism on Britain from the Mid-Nineteenth Century, Harlow 2005, WILSON, Kathleen (ed.), A New Imperial History. Culture, identity and modernity in Britain and the Empire, 1660-1840, Cambridge 2004, BURTON, Antoinette, (ed.), After the Imperial Turn. Thinking with and through the Nation, Durham-London 2003, SEN, Sudipta, Distant Sovereignty. National Imperialism and the Origins of British India, New York-London 2002 und HALL, Catherine, Civilising Subjects: Metropole and Colony in the English Imagination, Oxford 2002.
[ 3 ] COHN, Colonialism and its Forms of Knowledge, COOPER,Frederick/STOLER, Ann Laura, Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley-London 1997.
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