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28. Februar 2007. Rezensionen: Indien - Politik & Recht Weltmacht Indien

Seit drei Jahrzehnten bereist der Sozialwissenschaftler und langjährige Spiegel-Korrespondent Olaf Ihlau den indischen Subkontinent.

Das Erscheinungsjahr von Ihlaus populärwissenschaftlicher Veröffentlichung fällt mit dem Jahr zusammen, indem sich Indien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2006 präsentierte: Ihlau konnte dort sein Werk - über Indien aus deutscher Perspektive - neben den zahlreichen Veröffentlichungen aus und über Indien vorstellen. Dazu sagte er selbst: "Vor Jahren hätte sich niemand träumen lassen, dass japanische Autos in Europa Fuß fassen. Und bald werden es Wagen aus Indien sein, die hier den Durchbruch schaffen." Solche plakativen Prognosen und das wachsende öffentliche Interesse an Indien kommen Ihlaus Buch zugute. Beispielsweise weckte der vielversprechende Titel der Publikation Interesse beim Manager-Magazin welches Auszüge des Buches im August 2006 veröffentlichte.

Das Buch vermittelt ein facettenreiches Bild von Indien: In übersichtlicher und umfassender Weise beschäftigt sich Ihlau mit der neuen Großmacht in Asien und ihren Paradoxien und Kontrasten. Paradox erscheint beispielsweise, dass Tradition und Moderne nebeneinander existieren; oder sich urbane Zentren ausbreiten, während ländliche, ärmere Regionen den Großteil des Subkontinents einnehmen. Entsprechend greift Ihlau bereits in den vierzehn Kapitelüberschriften jene Kontraste Indiens auf, welche die gängigen Stereotypen des "Land der Extreme" bedienen.

In "Vom Spinnrad zur Hightech-Spitze" wird beschrieben, inwieweit technischer Fortschritt, Industrialisierung und Globalisierung in Indien Einzug gehalten haben. Gleichzeitig zeigt Ihlau durch zahlreiche Bezüge auf, dass Kultur, Politik und Religion auf diese Moderne einwirken.

Der Realität der urbanen Zentren, Computerfachleute und Offshoring-Industrie stellt er in "Shiva und die tausend Götter" jene Realität gegenüber, die durch religionsbedingte Auseinandersetzungen, Pantheismus oder die Inkarnationlehre charakterisiert werden kann. Teilaspekte dieses Kapitels werden "Im Korsett der Kasten" detailliert erörtert. Einerseits findet ein Wandel des Kastensystems statt, andererseits sind vor allem in ländlichen Regionen noch weitgehend intakte Kastenhierarchien vorzufinden. Das unabhängige Indien schaffte dieses System offiziell ab, jedoch zeigen Quotenregelungen und ihre Folgen, inwieweit die Kasten in der Politik und Gesellschaft auch heute noch Bestand haben. Diese traditionell und kulturell aufgeladenen Bestandteile Indiens treffen auf etwas Neuartiges und Modernes: "Der urbane Rausch". Ambivalent erscheint hier die von Ihlau beschriebene Gegensätzlichkeit zwischen dem jungen, erwerbstätigen, sowie konsumstarken Bevölkerungsanteil und den verarmten Slumbewohnern im urbanen Raum.

"Die Dornen von Chota Naraina" hingegen beziehen sich auf den Alltag des ländlichen Indiens: Alltägliche Themen wie Dürre, Missernte, Kreditabhängigkeit von privaten Geldverleihern, Kastenhierarchie, ungleiches Geschlechterverhältnis oder fehlende Grundversorgung peinigen die ländliche Bevölkerung in einem immer wiederkehrenden und ineinander verwobenen Zyklus. Ihlau resümiert am Ende dieses Kapitels mit den resignativen Gedanken eines indischen Sozialarbeiters: "Egal was man verändert, es bleibt doch alles beim Alten".

Die "Bedrohte Einheit, gefährliche Vielfalt" Indiens zeigt, dass Veränderungen in anderen Bereichen ebenfalls von bestimmten Bevölkerungsteilen angestrebt werden. Beispielsweise verdeutlichen Sikhs im Punjab, Muslime in Kaschmir, Aufständische im Assam, Konvertiten oder die Stammesbevölkerung die sozialrevolutionären Kräfte innerhalb des säkularen Indien. Folglich plagt die Regierung die Urangst des Separatismus und der Balkanisierung.

Anschließend betrachtet Ihlau die Atommächte Pakistan und Indien, zwei "Verfeindete Brüder", näher. Seine Darstellung der drei indo-pakistanischen Kriege, Aussöhnungsversuche und terroristische Anschläge zeigen das historisch verwurzelte, jedoch ebenso gegenwärtige und brisante Verhältnis der beiden Nachbarstaaten auf.

Eine weitere außenpolitische Facette wird in "Auf dem Weg zur Weltmacht" detailliert beschrieben. Unter historischen Rückgriffen - beginnend mit der Maurya-Dynastie - wird vorgestellt, wie das einst russophile Indien zum bilateralen Durchbruch einer strategischen Partnerschaft mit den USA gelangt ist. Ihlau leitet Indiens Aufschwung fundiert her, indem er beispielsweise den Aufstieg Bangalores - und damit die rasanten technischen Entwicklungen - vorstellt. Es wird dabei verdeutlicht, dass Indien global an Bedeutung gewinnt.

Im "Wettlauf der asiatischen Giganten" wird auf die Beziehung zwischen Indien und China eingegangen. Dieses Kapitel verdeutlicht, dass die Demonstration von Macht und Überlegenheit die blutigen Auseinandersetzungen der beiden Staaten bestimmten. In Zukunft werden Grad und Art der Industrialisierung sowie die Staatsform entscheidend darüber sein, ob diverse Prognosen eintreffen, dass Indien - und nicht China - die neue Weltmacht sein wird.

An diese informativen und historisch hergeleiteten Kapitel zu einzelnen Politikverflechtungen wird im Anschluss daran ein weiterer Gegensatz gesetzt. Zunächst wird das Angebot "Im spirituellen Supermarkt" vorgestellt. Gurus, Yogis oder Sadhus lehren, geben spirituellen Rat und sind nicht nur ein Exportschlager, sondern besitzen zum Teil auch Macht über einflussreiche Politiker Indiens. Es folgt die Darstellung des weniger abgehoben Murlidhar Devidas Amte, "Ein Humanist und Rebell". Der Sozialarbeiter errichtete den Siedlungskomplex "Anandwan" für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Die von Ihlau geführten Gespräche mit Amte bereichern insofern, als dass sie einerseits Empathie und praktische, nachhaltige Hilfe aufzeigen. Andererseits wird ein gesellschaftliches, kastenbezogenes Tabu gebrochen: Die Gesellschaft wendet sich wieder jenen zu, die sie einst ausgestoßen hat. So werde laut Amtes Schilderungen aus einem geächteten Leprösen beispielweise ein Händler, von dem man auf dem Markt Güter kauft.

Diesem Überschreiten der traditionellen Schranken stellt Ihlau jedoch erneut etwas gegenüber: "Vergiftete Seelen, düstere Rituale" verweisen auf ein Indien mit rituellen Morden, Kannibalismus, Kinderarbeit und -hochzeiten, Mitgiftmorden und Witwenverbrennungen. Der Bruch sämtlicher sozialer Tabus wird vorgestellt, um darauf hinzuweisen, dass sich Gräuel und Barbarei bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben. Ihlau sieht es als notwendig an, in seinem Buch über Indien solche "archaischen Relikte" zu erörtern. Gleichzeitig hebt er hervor, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen sich klar gegen solche Missverhältnisse aussprechen und die Regierung die menschenverachtenden Bräuche verbietet.

Ein weiterer Themenkomplex zeigt ebenso den Fortgang der Geschichte und Tradition. "Das letzte Grollen des Tigers": Die verbotene, aber noch immer anhaltende Wilderei wird von Gangs und der Mafia weiter angetrieben und lässt Tierschützern keine Chance zur Rettung des nationalen Symbols.

Schließlich bietet "Europas Chance oder Niedergang" einen Rückblick auf Deutschlands Verhältnis zu Indien: Das romantisierte, literarische Bild wurde von der deutschen Politik der letzten Jahrzehnte weitgehend aus den Augen verloren. Erst in jüngster Zeit richten Politik und Wirtschaft ihr Augenmerk auf Indien und erkennen die Vorteile von Outsourcing, Niedriglohnstandorten, oder auch der demokratischen Rechtssicherheit. Solch einen Blickwinkel, in Verbindung mit einem Europa, das eine „wirkliche Einheit um einen harten, handlungsfähigen Kern" darstellt, hätte nach Ihlau eine Chance mit der zukünftigen Weltmacht Indien mithalten zu können - eine neue Herausforderung des Westens!

Mit dieser Detailansicht hat Olaf Ihlau ein anregendes, journalistisch geprägtes Buch verfasst, welches die Vielschichtigkeit Indiens erörtert. Es eignet sich für die breite Öffentlichkeit, die mehr über Indien erfahren möchte sowie verstehen will, wie "das indische Jahrhundert" sein könnte. Jedoch muss der Einwand erhoben - und sich somit der Kritik des Südasienhistorikers Dietmar Rothermund angeschlossen werden - dass lediglich zwei Kapitel dem im Titel angekündigten Thema gerecht werden.

Quelle: Ihlau, Olaf (2006): Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens. München: Siedler Verlag, 224 S., 19,95 €

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