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31. Mai 2003. Nachrichten: Politik & Recht - Südasien Weitere Fortschritte in der Annäherung zwischen Indien und Pakistan

US-Vizeaußenminister Armitage vermittelt zwischen Delhi und Islamabad und spricht in Kabul über die Sicherheitslage

Angesichts des aktuellen Tauwetters zwischen Indien und Pakistan wurden viele Hoffnungen auf die Reise von US-Vizeaußenminister Richard Armitage in die Region gesetzt, die ihn nach Islamabad, Kabul und Neu-Delhi führte. Während sich die USA in den offiziellen Verlautbarungen eher bedeckt hielten, konnte man zwischen den Zeilen lesen, auf welche politischen Akteure die USA setzen. Ein Großteil der Einflussnahme Washingtons spielt sich im Hintergrund ab.

Im Vorfeld der dreieinhalbtägigen Südasienreise Richard Armitages vom 7. Mai bis zum 10. Mai 2003 hatte es erste, vorsichtige Annäherungen auf höchster Ebene zwischen Indien und Pakistan gegeben. Auch wenn die indische Seite ausdrücklich betonte, dass sie die Initiative unabhängig von den USA gestartet habe, spricht doch etliches dafür, dass die Telefonate des US-Außenministers Colin Powell erheblichen Anteil an der jüngsten Entwicklung hatten. Eine aktive Rolle als Vermittler in der dominierenden Streitfrage, dem seit der Trennung der beiden Staaten vor 55 Jahren bestehenden Kashmir-Konflikt, bestreiten die USA jedoch offiziell. Dies resultiert nicht zuletzt aus der vom indischen Premierminister Atal Behari Vajpayee ausdrücklich bekundeten Haltung Indiens, keine vermittelnde "dritte Partei" zu akzeptieren.

Der Besuch des US-Vizeaußenministers zeigt Washingtons Interesse an einer Annnäherung der beiden südasiatischen Nuklearmächte, die zugleich wichtige Partner der USA in Asien sind. Hierbei scheinen die USA besonders darauf bedacht, keinen ihrer beiden Alliierten offen vor den Kopf zu stoßen. Dementsprechend sehen sie es als ihre Aufgabe, Indien und Pakistan in ihrer vorsichtigen Annäherung zu unterstützen und sanften Druck auszuüben. Auch wenn die Möglichkeiten der US-amerikanischen Einflussnahme auf Indien erheblich geringer sind als im Fall Pakistans, haben sich die indisch-amerikanischen Beziehungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA kontinuierlich vertieft. Zum jetzigen Zeitpunkt sind sich beide Staaten so nah wie noch nie seit Indiens Unabhängigkeit.

Fortschritte im indisch-pakistanischen Verhältnis

Im Zuge der allmählichen Wiederannäherung zwischen Delhi und Islamabad kam es im Vorfeld und während der Armitage-Reise zu kleinen, aber wichtigen Fortschritten: Das pakistanische Angebot einer beiderseitigen Verschrottung aller Atomwaffen hatte Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee zwar mit dem Verweis, dass "Indiens Nuklearprogramm nicht Pakistan-spezifisch sei", abgelehnt. Aber zeitgleich beschloss Delhi die Wiedereröffnung der bisher geschlossenen Luftverkehrs-, Schienen- und Straßenverbindungen. Daraufhin kündigte Islamabad die Wiederaufnahme der bilateralen Reise- und Sportveranstaltungen an. Außerdem sollen inhaftierte indische Fischer freigelassen und Handelsrestriktionen gelockert werden. Allerdings kritisierte ein indischer Regierungsvertreter, dass auch weiterhin 146 Produkte aus Indien auf einer pakistanischen "Negativliste" ständen. Am 9. Mai erhielt Indiens neuer Botschafter, Shiv Shankar Menon, ein erfahrener und altgedienter Diplomat, seine Ernennungsurkunde durch die pakistanische Regierung. Zeitgleich überschritten im Rahmen einer privaten Friedensinitiative zwölf pakistanische Parlamentarier die Grenze am Grenzübergang Wagah im Punjab.

Infolge des Annäherungskurses könnte es noch in diesem Jahr zu einem Treffen beider Regierungschefs kommen. Dies würde einen weiteren wichtigen Fortschritt darstellen, vorausgesetzt, dass der beiderseitige Wille zur Suche nach Lösungen weiterhin anhält und das Gipfeltreffen besser vorbereitet wird als die beiden letzten Zusammenkünfte. Zuletzt hatte man sich bei der Busdiplomatie von Lahore im Jahr 1999 und im Juli 2001 in Agra getroffen und anschließend wieder zerstritten. Vielleicht könnten diesmal tatsächlich nachhaltige Fortschritte in Richtung einer Entspannung im indisch-pakistanischen Status Quo erzielt werden.

Erste Station Islamabad

Zu Beginn seiner Südasien-Tour traf Richard Armitage am 7. und 8. Mai in Islamabad getrennt mit Staatspräsident General Pervez Musharraf, Premierminister Mir Zafarullah Khan Jamali und Außenminister Khurshid Mahmood Kasuri zusammen.

In den komplizierten US-pakistanischen Beziehungen sind beide Länder aufeinander angewiesen: Um sich an der Macht zu halten, braucht Musharraf die Unterstützung der USA. So stellt der amerikanische Verbündete beispielsweise großzügige Finanzspritzen in Aussicht, von denen Pakistans Entwicklung und innere Sicherheit vital abhängen. Für die USA wiederum ist Islamabad ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, insbesondere gegen das Al-Qaida-Netzwerk Osama Bin Ladens.

Indisches Raketenfeuerwerk zur Begrüßung und zum Abschied

Wenige Stunden vor Armitages Ankunft in Delhi und kurz nach dessen Abreise führten die indischen Streitkräfte Tests mit Kurzstreckenraketen vom Typ Astra mit einer Reichweite von bis zu 40 Kilometern durch. Die Luft-zu-Luft-Geschosse wurden von dem im ostindischem Bundesstaat Orissa gelegenen Raketentestgelände Chandipur aus gestartet. Die Astra soll insbesondere den MiGs der indischen Luftwaffe einen Vorteil gegen die pakistanischen Jets verschaffen, welche im Falle eines konventionellen - oder auch im schlimmsten Falle nuklearen - Krieges innerhalb kürzester Zeit in den indischen Luftraum eindringen könnten.

Zwischenstopp Kabul

Während seines Aufenthaltes in der afghanischen Hauptstadt Kabul sprach Armitage mit Präsident Hamid Karsai, Außenminister Abdullah Abdullah und Verteidigungsminister Mohammed Fahim. In den Ruinen des Nationalmuseums überreichte er einen mit 100.000 US-Dollar dotierten Scheck für den Wiederaufbau des Gebäudes und betonte, dass ihn Präsident Bush nach Afghanistan geschickt habe, um der afghanischen Bevölkerung zu versichern, dass die USA auch nach dem Sieg über den Irak nicht ihre Verantwortung für Afghanistan vergessen würden. Zuvor hatte er in einem pakistanischen Fernsehinterview angekündigt, dass er in Kabul in einer "dramatischen Demonstration zeigen werde, dass die USA zeitgleich zwei Sachen durchführen können – Irak und Afghanistan". US-Vertreter hatten im Vorfeld auch ein 100 Mio. US-Dollar umfassendes Hilfspaket für die Verbesserung des Gesundheitssystems angekündigt, welches speziell Frauen und Kindern zugute kommen soll. Noch immer erreichen nur vier von fünf Kindern das sechste Lebensjahr.

Während des Armitage-Besuchs kam es jedoch in Nähe der US-Botschaft zu einer schweren Explosion, die dem US-Gesandten die anhaltend bedrohliche Lage selbst in der afghanischen Hauptstadt vor Augen führte.

Nach seiner Ankunft in der indischen Hauptstadt am 10. Mai wurde der US-Vizeaußenminister von Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee empfangen. Zum Auftakt rezitierte der US-Diplomat das von Vajpayee verfasstes Gedicht "Jang nahiim hone denge" ("Wir werden keinen Krieg zulassen"). Anschließend lobte er öffentlich das im April erfolgte Dialogangebot Vajpayees an die Regierung in Islamabad April. Davor war Armitage mit der Congress(I)-Oppositionsführerin Sonia Gandhi, Außenminister Yashwant Sinha, Finanzminister Jaswant Singh und anderen offiziellen Vertretern zusammengetroffen.

Nach den Gesprächen betonte der US-Vizeaußenminister den Wunsch seines Landes, dass die Beziehungen der beiden südasiatische Staaten zukünftig von Frieden und Harmonie geprägt sein mögen.

Vertrauliche Gespräche im Vorfeld

Vor seiner Abreise aus Washington traf Armitage dort mit Generalleutnant Ehsanullah Khan, Leiter des pakistanischen Geheimdienstes ISI, und bei seinem Zwischenstopp in London mit Brajesh Mitra, dem Nationalen Sicherheitsberater des indischen Premierministers Vajpayee, zusammen. Der Inhalt dieser informellen Zusammenkünfte wurde vertraulich behandelt. Beobachter vermuten, dass man in diesem Rahmen weitaus mehr Fortschritte erzielt habe, als bei den darauffolgenden offiziellen Terminen in der Region. Ein weiteres Indiz für angestrengte Verhandlungen hinter den Kulissen lieferten die Unterredungen von Mishra am 9. Mai in Washington, während sich Armitage zeitgleich in Afghanistan auf seinen Weiterflug nach Neu-Delhi vorbereitete. Der Nationale Sicherheitsberater Vajpayees wurde dort von seiner US-amerikanischen Amtskollegin Condoleeza Rice und US-Außenminister Powell zu Gesprächen empfangen. Auch US-Präsident George W. Bush soll zeitweise zugegen gewesen sein. Laut einer Presseerklärung des State Departments ging es "um die breitgefassten Beziehungen zwischen Indien und den USA, aber auch um die indisch-pakistanischen Beziehungen".

Kashmir-Konflikt als zentraler Streitpunkt

Mit der alljährlich im Mai einsetzenden Schneeschmelze in Kashmirs Hochgebirge beginnt erwartungsgemäß die heiße Phase der Infiltration des indischen Teils durch moslemische Kämpfer aus den Camps im angrenzenden Pakistan. Würde es der Regierung in Islamabad diesmal gelingen, diesen - in den Augen Indiens und der USA - grenzüberschreitenden Terrorismus größtenteils zu unterbinden, hätte die jüngste Annäherungspolitik der beiden verfeindeten Brüder erheblich bessere Chancen, zu einer greifbaren und nachhaltigen Entspannung in der Region zu führen. Das erstmalig durchgesetzte Einreiseverbot pakistanischer Behörden für Masood Azhar, Führer der Jaish-e Mohammad, in den pakistanische verwalteten Teil Kashmirs (Azad Kashmir) Mitte Mai sorgte dabei für Aufmerksamkeit und scheint ein weiteres Indiz für die dezente US-amerikanische Einflussnahme zu sein. Dessen ungeachtet setzt sich die Gewalt in Kashmir fort: allein während der dreieinhalbtägigen Südasienreise Armitages wurden 28 Menschen bei Anschlägen, Feuer- und Artilleriegefechten im indischen Teil Kashmirs getötet.

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