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07. Dezember 2005. Nachrichten: Wirtschaft & Soziales - Pakistan Das Schweigen brechen

Weil ihr Fall internationale Aufmerksamkeit erregte, entging Mukhtar Mai der Ächtung, die vergewaltigte Frauen in Pakistan trifft.

Was macht Mukhtar Mai wohl mit ihrer Geschenktüte? Das US-Magazin Glamour wählte die pakistanische Frau aus dem Dorf Meerwala in der Provinz Punjab im November zu einer von zwölf "Frauen des Jahres", zu den anderen zählen die Tennis-Legende Venus Williams, die CNN-Korrespondentin Christiane Amanpour und die Schauspielerin Catherine Zeta-Jones. Alle durften eine "Goodie Bag" im Wert von 1 450 Dollar und Preisgeld mit nach Hause nehmen. Was aber fängt Mai, deren Leben tagtäglich bedroht ist und die über Holzfeuer kocht, mit puderigen Seidenstrümpfen oder einem Lippenstift der Marke "Bobbi Brown" im Farbton "Sandelholz" an?

Mukhtar Mai, anfangs auch Bibi Mukhtaran genannt, wurde im Juni 2002 von vier Männern öffentlich vergewaltigt. Sie vollstreckten ein "Urteil", das der Dorfrat in Meerwala erlassen hatte. Ihr damals zwölf Jahre alter Bruder war mit einem Mädchen des einflussreicheren Clans der Mastoi gesehen worden. Der Clan sann auf Rache, um die "Ehre" wieder herzustellen. Nach der Vergewaltigung wurde Mai unbekleidet Hunderten von Zuschauern vorgeführt. Ihr Vater verhüllte sie schließlich mit einem Schal und brachte sie nach Hause.

"Es gibt eine "Vergewaltigungskultur" in Pakistan, die auf diffusen Konzepten von Ehre und Scham basiert", sagt Carole Shaw, Doktorandin der Soziologie an der Universität Neu Südwales in Sydney. "Die Frauen werden nach der Vergewaltigung geächtet und begehen in vielen Fällen eher Selbstmord, als mit der Erniedrigung zu leben. Das System der Geschlechter-Apartheid begünstigt die Unterdrückung von Frauen. Mai durchbricht den Teufelskreis. Sie stellt ihre Ehre wieder her, indem sie das Geschehen öffentlich thematisiert."

Auch Amna Buttar, die Vorsitzende des Asiatisch-Amerikanischen Netzwerkes gegen den Missbrauch von Frauen mit Sitz in Middleton, USA, spricht von einer "Kultur des Schweigens" in ihrem Herkunftsland Pakistan. Aber nicht nur dort. "Selbst in meiner Gruppe hier in den USA gibt es immer wieder Stimmen, die uns ermahnen, nicht über diese Dinge zu reden. Und um ehrlich zu sein: Wir bekommen auch eine Menge Zuschriften von amerikanischen Frauen, die dem gleichen Mechanismus von Scham und Angst unterliegen und denen Mukhtar Mai ein großes Vorbild ist."

Für manche Pakistanerinnen ist sie keine Heldin. Faiza Kamar vom Muslimischen Frauenkomitee in New York City meint: "Sie sollte nicht darüber reden. Es ist peinlich genug, dass sie vergewaltigt wurde. Die ganze Welt muss nicht darüber Bescheid wissen."

Ansichten wie diese beruhen auf einer Ideologie, die sich weder auf die Gesetze Pakistans noch den Islam berufen kann. Der Islam ist in der Verfassung als Staatsreligion festgeschrieben, die Staat und Regierung den Auftrag gibt, den Muslimen eine islamische Lebensführung zu ermöglichen. Dieser Auftrag wurde jedoch von den verschiedenen Regierungen unterschiedlich interpretiert.

Eine besonders strenge Auslegung setzte General Zia-ul Haq durch, der von 1977 bis 1988 regierte und dessen Gesetzgebung bis heute nachwirkt. Die so genannten Hudud-Verordnungen sehen Körperstrafen und die Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Zeugen vor. Bei einer Vergewaltigung bedeutet das beispielsweise, dass das Opfer vier männliche Zeugen für die Tat beibringen muss. Das ist in den meisten Fällen unmöglich. Dann wird die Frau selbst des außerehelichen Geschlechtsverkehrs beschuldigt und mit Gefängnis bestraft.

Mukhtar Mai hatte Glück im Unglück. Der Imam des Dorfes erzählte einem Journalisten in einer nahe gelegenen Stadt von der Vergewaltigung, über ihren Fall wurde in der pakistanischen und später in der internationalen Presse berichtet. Die öffentliche Aufmerksamkeit bewahrte Mai vor dem gemeinhin akzeptierten Schicksal, das einer vergewaltigten Frau in Pakistan bevorsteht: erst Isolation, später Selbstmord.

Vierzehn Männer wurden verhaftet, sechs von ihnen zum Tode verurteilt, acht wieder freigelassen. Im März dieses Jahres wurden fünf der zum Tode Verurteilten überraschend freigesprochen, und die Todesstrafe des sechsten Mannes wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Der Fall wird mittlerweile vor dem Obersten Verfassungsgericht des Landes verhandelt.

Im November trat die 33jährige Mai die erste Auslandsreise ihres Lebens an. Nachdem Präsident Pervez Musharraf ihr die Reise zunächst untersagt hatte, weil er um den Ruf Pakistans fürchtete, wurde ihr schließlich doch das benötigte Visum ausgestellt. Überall empfingen sie die Menschen stehend und der Applaus brandete minutenlang. Mai meisterte die Washingtoner Bühne von Glamour, berichtete vor dem Kongress über die Missachtung von Frauen- und Menschenrechten in Pakistan und stand am letzten Tag in der Cooper Union Hall in New York City Kritikern Rede und Antwort. Hier hatte das Asiatisch-Amerikanische Netzwerk gegen den Missbrauch von Frauen zu einer Veranstaltung geladen, um über Mukhtars Fall und die Lage der Frauen in Pakistan aufzuklären.

Ganz unumstritten ist Mai nicht. Manche meinen, sie wolle sich bereichern, andere sagen, sie hätte Pakistan, das gerade von einem verheerenden Beben heimgesucht worden war, nicht verlassen sollen. Doch ein Viertel des Preisgeldes von 20 000 Dollar, das Glamour ihr zahlte, hat Mai für die Erdbebenopfer gespendet. Der Rest wird in zwei Mädchenschulen investiert, die sie mit den ihr von der pakistanischen Regierung gezahlten 8 000 Dollar gegründet hat, sowie in andere Projekte: eine Krankenstation in ihrem Dorf und ein mobiles Team von Ärzten und Anwälten, mit dem sie von Dorf zu Dorf fahren kann, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzutreten. Mukhtar Mai besucht gerade die dritte Klasse ihrer eigenen Schule.

In der Cooper Union Hall sitzt sie sehr gerade an einem Tisch auf einer Bühne, den Kopf und den Körper mit einem türkisfarbenen Schal umhüllt. Sie lächelt selten, ihre Antworten auf die gestellten Fragen sind kurz, bestimmt und klar. Die USA sollten "uns Geld schicken statt Waffen." Stört es sie, von einem nicht unbedingt als feministisch bekannten Magazin ausgezeichnet worden zu sein? "Ich bin sehr glücklich, diesen Preis gewonnen zu haben. Das ist eine große Ehre für jede arme Frau", sagt Mukhtar Mai, den Blick gesenkt. Frauen in westlichen Ländern könnten von pakistanischen Frauen lernen, "dass wir in der Lage sind, für unsere Rechte zu kämpfen und vieles zu erdulden." Sie selbst hat sich schnell entschlossen, nicht dem vorgegebenen Weg zu folgen. 15 Tage nachdem sie vergewaltigt wurde, hat sie mit der Planung ihrer Mädchenschule begonnen.

Quelle: Der Beitrag erschien am 7. Dezember 2005 in der Wochenzeitung Jungle World.

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