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Delhi. Die Politiker, die Meinungsforschungsexperten, die Medien – sie alle irrten sich. Niemand ahnte das Nahen eines politischen Erdbebens. Nicht die BJP und ihre Nationale Demokratische Allianz ziehen als Sieger in das 14. Parlament Indiens ein, sondern nach neun Jahren in der Opposition die Kongresspartei unter Sonia Gandhi, ihre regionalen Koalitionspartner und die indischen Linken.
Mindestens 50, wenn nicht sogar mehr als 60 Sitze werden die Kommunisten und andere Linke einnehmen, die sie nicht nur in den roten Hochburgen Kerala, Westbengalen und Tripura, sondern auch in Andhra Pradesh und Tamil Nadu errangen. Folglich werden sie bei der Bildung einer demokratischen säkularen Koalition, aus der sich die nächste Regierung rekrutieren soll, eine entscheidende Rolle spielen können.
Erste Anwärterin auf das Amt der Ministerpräsidentin ist natürlich – trotz ihrer italienischen Herkunft – Sonia Gandhi, denn ihre Partei wird im Parlament offenbar am stärksten vertreten sein. Gandhi kündigte die Bildung einer "starken, stabilen und säkularen Regierung" an. Die Kongress-Partei werde die Führung übernehmen und der Prozess der Regierungsbildung werde in den kommenden Tagen "in Fahrt kommen ", so die Parteichefin.
Der sich deutlich abzeichnende Sieg der Kongresspartei und ihrer Allianz geht zu einem hohen Maße auf das Konto ihrer Präsidentin Sonia Gandhi. Die in Italien geborene Frau des bei einem Attentat getöteten Nehru-Enkels Rajiv Gandhi engagierte sich unermüdlich, tourte 50 000 Kilometer durchs Land, ließ aus Sicherheitsgründen nur die Unionsstaaten Assam, Punjab, Jammu und Kaschmir aus. Sie konterte die Argumente der BJP, und sie entschied in einem letzten taktischen Zug, ihre Kinder Rahul und Priyanka ins politische Spiel zu bringen. Das alles zahlte sich am Ende aus. Sonia Gandhi bewies sich als Attraktion, als Star und als Motor im Wahlkampf. Die Bewährungsprobe als Premier steht ihr noch bevor. Aber noch ist offen, ob Sonia Gandhi das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen wird. Wegen ihrer italienischen Herkunft gab es gegen die Witwe des früheren indischen Ministerpräsidentin Rajiv Gandhi auch bei einigen der möglichen Koalitionspartner Widerstände. Die Kongress-Allianz war ohne Spitzenkandidaten in das Votum gegangen.
Die Wähler ließen sich nicht fürdumm verkaufen. Die Propagandakampagnen der BJP vom "India shining" (Indien glänzt) und vom angeblichen "Wohlgefühl" unter den indischen Massen, die Stars aus der Unterhaltungsbranche, die sich von der BJP ködern ließen, der ans Lächerliche grenzende Kult um PremierVajpayee sowie das Hindutva-Konzept – das alles blendete den Großteil der etwa 380 Millionen Wähler nicht. Angesichts der immer noch miserablen Lebens- und Arbeitsverhältnisse für die Mehrheit des Eine-Milliarde-Volkes votierten sie für einen Wandel. Dieser Wunsch löste das politische Erdbeben aus.
Alle Hoffnungen richten sich nun auf die neue Regierung. Die Kongresspartei hat in ihrem Manifest versprochen, sich der Sorgen des kleinen Mannes anzunehmen, die Wirtschaftsreformen fortzusetzen, aber mit "menschlichem Antlitz", ein soziales Sicherheitsnetzwerk für die Bedürftigen zu knüpfen, Jobbeschaffung zur Priorität zu machen, Armut und Hunger den Kampf anzusagen. Wie ernsthaft die neue Regierung diese Probleme angeht, davon wird abhängen, wie lange sie im Amt bleibt.
Quelle: Der Beitrag erschien am 14. Mai 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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