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30. Juni 2001. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Unruhen in Manipur nach Verlängerung des Waffenstillstandes mit Naga-Rebellen

Am 14. Juni 2001 verlängerten die indische Zentralregierung und die größte Naga-Rebellenfraktion, der Nationalist Socialist Council of Nagaland – Isaac-Muivah (NSCN-IM), ihren vierjährigen Waffenstillstand um ein weiteres Jahr.

Gleichzeitig erweiterten sie seinen Wirkungsbereich auf alle von Nagas bewohnten Gebiete im indischen Nordosten. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Vereinbarung brach in Manipur und Assam ein Sturm des Protestes los.

In Manipur kam es im Anschluss an einen dreitägigen Generalstreik, zu dem zahlreiche Gruppen unter Führung der All Manipur Students Union und der All Manipur United Clubs Organisation aufgerufen hatten, zu schweren Unruhen. Zehntausende hatten sich am 18. Juni im Regierungsviertel der Hauptstadt Imphal versammelt. Als Gouverneur Ved Marwah sich weigerte, Vertreter der Demonstranten zu empfangen, begannen Teile des Protestzuges, Regierungsgebäude und Amtswohnungen von Abgeordneten anzugreifen. Der Landtag ging in Flammen auf, und mindestens acht Volksvertreter erlitten zum Teil schwerste Verbrennungen. Als die wütende Menschenmenge versuchte, die leerstehende Residenz des Ministerpräsidenten zu stürmen, eröffneten Truppen der Zentralen Reservepolizei das Feuer: 13 Menschen starben und mehr als 50 wurden verletzt. Noch am gleichen Tag wurde eine unbefristete Ausgangssperre verhängt, die erst nach drei Tagen vorübergehend gelockert wurde.

Auch in Assam wurde ein zweitägiger Generalstreik gegen die Ausdehnung des Waffenstillstandes auf die Nachbarstaaten von Nagaland ausgerufen. Der neugewählte Ministerpräsident Tarun Gogoi von der Kongresspartei kritisierte, dass New Delhi die betroffenen Unionsstaaten vor der Entscheidung nicht konsultiert habe. In Arunachal Pradesh wurde die Armee in Alarmbereitschaft versetzt. Unruhen blieben jedoch aus, und die Regierung erklärte ihre Zustimmung zu dem Abkommen, solange sich die Rebellen an dessen Bedingungen hielten.

Obwohl New Delhi und die NSCN-IM jeglichen Zusammenhang bestreiten, ist der Hintergrund der Proteste die Furcht, dass die territoriale Ausweitung der Waffenruhe den Forderungen nach "Nagalim", einem "Groß-Nagaland", Vorschub leisten könnte. Seit einem Vierteljahrhundert kämpft die NSCN-IM zusammen mit anderen Naga-Rebellenfraktionen für eine Neuziehung der Grenzen im indischen Nordosten. Ihr Ziel ist der Anschluß von mindestens elf Distrikten in Manipur, Assam und Arunachal Pradesh an Nagaland. Auch nach den Unruhen erklärte NSCN-IM-Führer Thuingaleng Muivah in Bangkok unbeirrt: "Wenn Nagas sich mit ihren Brüdern vereinigen wollen, ist nichts falsch daran." Seine Forderung nach einem territorial unbegrenzten Waffenstillstand hatte den Verhandlungsprozess, der 1997 unter Premier Inder K. Gujral aufgenommen worden war, von Anfang an belastet. Nagalands Nachbarn sehen ihre Autorität durch die Aktivitäten der Rebellen, die sich u.a. durch Erpressung und Tropenholzschmuggel finanzieren, bedroht und fürchten die Kooperation der NSCN-IM mit anderen Untergrund-Armeen, die den Gesprächen bisher fernblieben.

Der Kleinstaat Manipur ist von der Naga-Irredenta besonders betroffen. 70 Prozent der 2,4 Millionen Einwohner werden zur ethnischen Gruppe der meist hinduistischen Meiteis gezählt, die zum großen Teil im schmalen Imphal-Tal leben. In den umliegenden Bergen stellen die christianisierten Nagas, Kukis und andere "Stämme" die Mehrheit. Viele Kader der NCSN-IM - so auch Führer Muivah - kommen aus der Region. Eine Herzensangelegenheit ist ihnen daher die "Befreiung" der vier Bergdistrikte Ukhrul, Tanmenglong, Senapati und Chandel, mit 15.500 qkm mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Manipurs.

Die Proteste richteten sich aber nicht nur gegen die Bevormundung durch New Delhi, sondern auch gegen die einheimische politische Elite, wie die wütenden Angriffe auf das Establishment zeigten. In den vergangen sechs Monaten war Manipur Schauplatz eines erbitterten parlamentarischen Machtkampfes, der dem Alleingang der Zentralregierung erst den Weg ebnete. Nach dem Sturz der Landesregierung unter Ministerpräsident Radhabinod Koijam von der Samata Party und der anschließenden politischen Blockade hatte New Delhi den Kleinstaat am 2. Juni seiner Verwaltung unterstellt.

Wenige Tage nach den Unruhen trafen sich mehr als 30 von 63 Landtagsabgeordneten in Imphal und drohten mit ihrem Rücktritt, wenn der Waffenstillstand nicht bis Ende Juli zurückgenommen werde. Premierminister Atal Behari Vajpayee versuchte die Lage zu beruhigen und erklärte: "Es wird keine Änderung der Grenzen von Manipur oder eines anderen Staates im Nordosten geben." Doch nach neuen Unruhen im Imphal-Tal kündigte der stellvertretende Innenminister I.D. Swami am 8. Juli eine Überprüfung des Waffenstillstandes an. Nun droht die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die 2.000 bis 3.000 Mann starke Untergrund-Armee der NSCN-IM.

Beobachter erklären den Schlingerkurs der Regierung mit dem Mangel an Wissen, der im fernen Delhi im Hinblick auf die Region herrsche und die Analyse von Spielräumen politischen Handelns und die Einschätzung seiner Folgen behindere. So wird Indiens Nordosten mit seinem ethnischen Flickenteppich und dem Mosaik von Kleinkriegen, in denen mehr als 50 Rebellengruppen kämpfen, trotz der jüngsten politischen Initiative wohl auch weiterhin auf Frieden warten müssen.

Quellen

  • Kalyan Chaudhuri: A ceasefire and protests, in: Frontline, Vol.18, No.13, 23.6. – 6.7.2001
  • Nitin A. Gokhale: Fire and Fury, in: Outlook, 2.7.2001
  • Wasbir Hussain und Lakshmi Iyer: Fires of peace / Breach of trust, in: India Today, 2.7.2001
  • India to review Manipur ceasefire, in: BBC News, 8.7.2001

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