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12. März 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Gujarat zwischen Kommunalismus und ethnischer Säuberung

Vinod Mehta, Herausgeber der führenden Wochenzeitschrift Outlook, fragt, ob Indien eine aufstrebende Weltmacht oder eine barbarische Bananenrepublik sei? (Outlook, 18.3.2002, S.23) Die systematischen Angriffe auf das Leben und den Besitz von Angehörigen der moslemischen Minderheit in Gujarat können nicht mehr nur als ein weiteres Ereignis in der langen Kette kommunalistischer Auseinandersetzungen in diesem investitionsfreundlichsten Staat der Indischen Union erklärt und wegdiskutiert werden.

New Delhi. Die ca. 650 Toten weit überwiegend moslemischen Glaubens, inoffizielle Quellen sprechen von bis zu 2.000 Toten, fielen Ende Februar und Anfang März 2002 den geplanten Angriffen eines "Mobs" zum Opfer, der von Angehörigen des fundamentalistischen bzw. extrem hindu-nationalistischen Umfelds der Bharatiya Janata Party (BJP) dirigiert bzw. angeführt wurde. Sie sind Kader des Vishwa Hindu Parishad (VHP / Weltrat der Hindus) und seiner Jugendorganisation Bajrang Dal (Verehrung des Affengottes Hanuman) sowie des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS / Nationales Freiwilligenkorps), dem Rückgrat des Hindu-Nationalismus.

"Dieses Mal bestand die Absicht eines Massenmords an Moslems. Nur Moslems wurden mit augenscheinlicher Unterstützung des Staates angegriffen", so hohe Polizeioffiziere. (Anjali Modi: Genocide in the land of Gandhi, in: The Hindu, 10.3.2002, S.16f.) Die "kommunalisierte Polizei", so P.C. Pandey, Polizeikommissar von Ahmedabad, griff nicht ein bzw. unterstützte die Angreifer der "organisierten Pogrome". (Tavleen Singh: Pogrom Politics. The Gujarat Government´s incompetence suggests its complicity in the violence, in: India Today, 18.3.2002, S.28) Die meinungsbildende Kolumnistin Tavleen Singh vertritt wie viele führende Journalisten in Indien die Ansicht, dass bei entschiedenem, antizipierenden Verhalten der staatlichen Autoritäten die Massaker hätten verhindert werden können.

Nun geht die Saat auf, die von den Verfechtern der Hindutva-Ideologie mit ihrem Dominanzanspruch gegenüber anderen Religionen seit über einem Jahrzehnt massenhaft verbreitet wird. Der Fanatismus der "lumpenproletarischen Elemente", darunter wohl auch Verlierer der großen Krise der Textilindustrie Gujarats, unter den viele Tausende zählenden Angreifern äußerte sich in einer bestialischen Grausamkeit. "Die verkohlten Körper von Frauen legten nahe, dass sie vergewaltigt, getötet und dann verbrannt wurden." (Anjali Modi, S. 16) Auch die systematische Zerstörung und Entweihung von Moscheen und Begräbnisstätten in Ahmedabad deuten auf die gezielte Demütigung der Moslems hin, die ca. 9 % der Bevölkerung in Gujarat stellen. Die ausgeraubten und angezündeten Fabriken, Ausstellungsräume, Hotels und Läden sollten Moslems ihrer wirtschaftlichen Basis in Ahmedabad, dem "Manchester Indiens", und in anderen Wirtschaftszentren berauben.

Die meinungsbildenden und weit überwiegend oberkastigen Mittel- und Oberschichten – Männer wie Frauen – machten aus ihrer offenen Sympathie für die gewalttätigen Übergriffe der "unteren" Klassen und Kasten keinen Hehl. Sie haben dieses Spiel in der Vergangenheit schon häufig praktiziert, um von den Gegensätzen innerhalb der lokalen Kasten-Gesellschaft abzulenken und die "unteren" Kasten auf die moslemische Minderheit, darunter auch erstmals hohe Richter, Polizeioffiziere und Politiker, zu hetzen. Die wenigen Beispiele solidarischer Zivilcourage, gerade auch unter einfachen Leuten, sind für die Opfer nur ein schwacher Trost.

Die staatliche Verwaltung ging schnell zur Tagesordnung über und ebnete das Gelände von 22 zerstörten Moscheen und Grabmälern ein. Sonal Mehta von der Menschenrechtsorganisation People´s Union for Human Rights sagt: "Es sind nicht nur die Menschen, die sie loswerden möchten [...], sondern auch die Geschichte dieser Stadt, die ihnen darin einen Platz gibt [...], wie in Ayodhya." (Anjali Modi, S. 17) Auf den Minaretten entweihter Moscheen hängen Saffron-Fahnen, innen wurden Statuen des Affen-Gottes Hanuman durch die Hindu-Fundamentalisten in öffentlichen Zeremonien platziert.

Wirtschaftliche Konsequenzen der Pogrome

Die führenden Wirtschaftsverbände in der Wirtschafts- und Handelsmetropole Ahmedabad beziffern die Verluste für die Wirtschaft und den Handel in Gujarat während der ersten fünf Tage auf insgesamt ca. 500-600 Mio. Euro. Praktisch alle Wirtschaftszweige wurden für eine Woche lahm gelegt. Wie werden in- und ausländische Investoren sich angesichts der Massaker künftig in Gujarat verhalten, das sich ihnen gegenüber mit seinem "industriellem Frieden und seiner Sicherheit" empfahl? Multinationale Konzerne mit langfristigen Investitionsvorhaben werden zukünftig ihre Entscheidungen zugunsten von Gujarat wohl mehr als einmal bedenken. "Die gegenwärtigen Entwicklungen könnten tatsächlich für immer die Art verändern, wie Geschäftsleute den Staat [Gujarat] sehen. Wenn nichts dagegen unternommen wird, so könnte ein kontinuierliches Abrutschen die gesamte indische Ökonomie zu einer niedrigeren Einstufung verurteilen." (Soumya Kanti Mitra: Is prosperity a false notion? in: The Economic Times, 10.3.2002, S.7)

Machtpolitisches Kalkül der Hindu-Nationalisten und Szenarien

Nach den schweren Wahlniederlagen in Uttar Pradesh, im Punjab und in Uttaranchal ist Gujarat mit seinen ca. 51 Millionen Einwohner der einzige größere Staat, in dem die BJP noch regiert, sieht man von Jharkhand und Himachal Pradesh ab. Der erst seit knapp über einem halben Jahr amtierende Ministerpräsident Narendra Modi, ein harter RSS-Kader ohne administrative Erfahrung, verspricht sich, und dies wahlarithmetisch wohl nicht zu Unrecht, von den Übergriffen auf Moslems eine reiche politische Dividende. Die von tiefem Hass geprägte Gesellschaft Gujarats – aufgrund von Religionszugehörigkeit polarisiert und zunehmend gettoisiert – dürfte den BJP-Falken eine weitgehende Konsolidierung ihrer hinduistischen Wählerbasis ermöglichen. (Uday Mahurkar: Sins of Modi, in: India Today, 18.3.2002, S.38) Die im Februar 2003 fälligen Wahlen zum Parlament von Gujarat könnten deshalb möglicherweise von Modi auf kommenden Juni vorverlegt werden, auch um den wachsenden Forderungen nach seinem Rücktritt zuvorzukommen.

Prem Shankar Jha analysiert die Folgen der Zerstörungen für die moslemische Mittelschicht und ihre Entfremdung mit zu erwartenden, auch terroristischen Gegenreaktionen. "Diese eklatante Parteilichkeit des Staates, die sich auch in dem fehlenden Vorgehen gegen VHP-Führer, die den blutigen Schlag ausriefen, niederschlägt, sind das Letzte was Indien braucht." (Prem Shankar Jha; A Question of Belonging, in: Outlook, 18.3.2002, S.16) Vinod Mehta vertritt die Ansicht, dass der VHP bestenfalls 5 bis 10 % der Hindus repräsentiere. Der Bau des Ram-Tempels in Ayodhya könne Indien zerstören.

Hat der Hindu-Nationalismus endgültig seine Maske abgelegt? Die "gemäßigte" Führung um Premierminister Atal Behari Vajpayee und Außenminister Jaswant Singh steht in den nächsten Tagen und Wochen vor einer echten Bewährungsprobe, angesichts der Dramaturgie des VHP, mit den Vorbereitungen zur Errichtung eines Ram-Tempels in Ayodhya auf dem Boden der 1992 widerrechtlich abgerissenen Babri-Moschee symbolisch die Demütigung der moslemischen Religionsgemeinschaft zu vollenden. Es ist nicht auszuschließen, dass wegen dieser Frage das von der BJP geführte Zweckbündnis der National Democratic Alliance (NDA) in eine tiefe Krise stürzen bzw. daran sogar zerbrechen könnte.

Die Hindu-Fundamentalisten haben mit einem Streich viel von dem diplomatischen Kapital zerschlagen, das durch die geschickte indische Außenpolitik, gerade auch gegenüber der islamischen Welt, in den letzten Jahren erworben wurde und der asiatischen Führungsmacht zu wachsendem internationalen Ansehen verhalf.

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