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Der Südasienbesuch des US- amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld Mitte Juni scheint das Blatt gewendet zu haben. Zuvor hatten sich Vertreter der internationalen Gemeinschaft noch vergeblich um Deeskalation in der Region bemüht - zuletzt der russische Präsident Wladimir Putin auf dem Zentralasien-Gipfel im kasachischen Almaty, bei dem auch der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee und Pakistans Präsident Musharraf anwesend waren.
Indien hat einen Großteil seiner Flotte vor der Küste Pakistans abgezogen und auch die diplomatischen Beziehungen sollen wieder aufgenommen werden. Dennoch stehen sich noch immer etwa 1 Millionen Soldaten an der Line of Control (LoC) gegenüber, der Linie, die keine Grenze ist und die Kaschmir seit dem ersten Krieg zwischen Indien und Pakistan 1947 teilt, im Norden der pakistanische Teil ‚Azad' (Freies) Kaschmir und im Süden der indische Unionsstaat Jammu und Kaschmir. Gelegentliche Artilleriegefechte über die Demarkationslinie hinweg bestimmen jedoch weiter das Bild in der umkämpften Region.
Doch ist es den USA nicht gelungen, eine endgültige Entspannung zu erreichen. Grund dafür sind strategische Interessen, die sowohl Indien als auch Pakistan betreffen. Seit dem Beginn des Kampfes gegen den Terror in Afghanistan können sie auf Pakistan als Partner in Südasien zählen, doch muss Präsident Musharraf vorsichtig balancieren zwischen seinen US-amerikanischen Freunden und den islamistischen Kräften im Lande, die diese Annäherung bereits als Verrat betrachten. Indien wiederum sieht sich nach den Anschlägen auf das Parlament in Neu-Delhi im Dezember letzten Jahres selbst als Opfer des Terrors und wirft zudem Pakistan vor, islamische Fundamentalisten auszubilden und in die umstrittene Grenzregion Kaschmir einzuschleusen. Die US-amerikanische Vermittlung braucht schon ein überzeugendes Argument, warum die USA Terroristen weltweit bekämpfen darf und Indien nicht mal im eigenen Land. Dennoch sind die USA im Moment das einzige Land, das als Vermittler von beiden Seiten akzeptiert wird, da sich Indien seit jeher eine internationale Einmischung verbittet.
Für Indien ist Kaschmir, und zwar auch der pakistanische und der kleine chinesische Teil im Nordosten, integrativer Bestandteil der indischen Union. Daher waren auch Bemühungen in der Vergangenheit vergebens, die derzeitige LoC als offizielle Grenze zu akzeptieren. Ein wichtiger Bestandteil des indischen Selbstbewusstseins ist die in der Verfassung festgelegte Säkularität des Landes und seine Fähigkeit, verschiedene Kulturen zu integrieren. Kaschmir mit seinem hohen Anteil an Muslimen aber auch Buddhisten ist das Herzstück dieses Selbstbewusstseins. Sowohl ein Verlust an Pakistan als auch eine Abspaltung könnte die indische Einheit zutiefst erschüttern und unter Umständen einen Aufschwung für andere separatistische Bewegungen vor allem im Nordosten des Landes bedeuten.
Die von den Vereinten Nationen erlassenen Resolutionenzu Kaschmir sahen nach dem Krieg von 1947 einen Sonderstatus für Kaschmir und später ein Referendum vor, in dem die Bevölkerung selbst über sein Schicksal hätte entscheiden sollen. Die indische Regierung willigte zuerst ein, doch das Referendum wurde nie durchgeführt. Statt dessen wurden indische Truppen in Kaschmir stationiert, deren oft brutales Vorgehen gegen die einheimische Bevölkerung kein Ruhmesblatt für die indische Demokratie ist. Dabei hatte der damalige indische Premierministers Jawaharlal Nehru einen wichtigen Verbündeten auf dem Weg zu einer friedlichen Einigung auf seiner Seite, den charismatischen muslimischen Chief-Minister Kaschmirs Sheik Abdullah.
Der "Löwe von Kaschmir" hatte 1947 den Zusammenschluss mit Indien unter der Bedingung befürwortet, dass die Kaschmiris ihre Zukunft selbst bestimmen könnten. Doch Nehru beugte sich Forderungen der oppositionellen Jan Sangh (der Vorläufer-Partei der heutigen BJP), ordnete einen Staatsstreich in Kaschmir an und ließ Abdullah verhaften. Indien wollte die direkte Kontrolle in Kaschmir und das Risiko eines Referendums nicht eingehen. Der Knackpunkt einer solchen Volksabstimmung war das Kaschmir Tal, in dem die muslimische Majorität angesiedelt ist. Sowohl der hinduistisch dominierte als auch der buddhistische Teil Kaschmirs hätte aller Voraussicht nach für einen Anschluss an Indien votiert, hätte aber im Fall einer einheitlichen Wahl gegen die muslimische Mehrheit dennoch verloren. Die Option wäre gewesen, die Regionen getrennt abstimmen zu lassen, doch dagegen hat sich Pakistan immer verwehrt. Dennoch ist dieses Referendum die einzige Chance auf einen legitimen Anschluss Kaschmirs an Indien gewesen.
Als Heimat für alle Muslime in der Region betrachtet Pakistan das mehrheitlich muslimische Kaschmir als legitimen Teil seines Territoriums. Dieses Verständnis rührt nicht zuletzt auch von den ungeklärten Details des Anschlusses Kaschmirs and Indien 1947. Pakistan hat inzwischen bereits drei konventionelle Kriege gegen Indien verloren, da es sowohl wirtschaftlich als auch militärisch unterlegen ist. Im Gegensatz zu Indien hat es Pakistan seit seiner Gründung nicht geschafft, das Militär langfristig unter zivile Kontrolle zu bekommen. So wurde Kaschmir mehr als einmal zum Spielball innerpakistanischer Machtpolitik.
Doch im Moment kann Musharraf als Militärpräsident Konzessionen gegenüber Indien machen, wie es keinem demokratischen Präsident je möglich gewesen wäre. Aber er kann den Anspruch Pakistans auf Kaschmir nicht ganz aufgeben, ohne seinen Rückhalt im Land zu verlieren. Der militärische Druck, ob nun direkt von Islamabad gefördert oder nicht, hat Indien, welches sich weigert, Kaschmirs disputed status überhaupt anzuerkennen, außerdem in der Vergangenheit immer wieder daran gehindert, sich auf dem status quo auszuruhen.
Die internationale Aufmerksamkeit seit dem 11. September kommt Pakistan daher sehr gelegen, obwohl gleichzeitig der Druck gestiegen ist, die eigenen terroristischen Potenziale im Land zu unterbinden. Präsident Musharraf vollbringt einen politischen Drahtseilakt. Er hat die Line of Control praktisch unpassierbar für islamistische Rebellen gemacht, was sowohl Indien als auch die USA gefordert haben. Denn er braucht die finanzielle Unterstützung der USA, um die brachliegende Wirtschaft anzukurbeln. Gleichzeitig kann er es sich im Konflikt um Kaschmir nicht erlauben indischen Forderungen zu sehr entgegenzukommen, ohne dabei das Gesicht und seine Machtbasis zu verlieren. Daran kann auch den USA nicht gelegen sein, denn im Moment gibt es keine wirkliche Alternative zu Musharraf in Pakistan, wenn es um eine Stabilisierung der Region geht.
Eigentlich kann sich weder Indien noch Pakistan einen erneuten Krieg leisten. So führten hämische Stimmen den Abzug der indischen Flotte auch auf die schrumpfenden finanziellen Mittel der indischen Regierung zurück. Aber selbst abgesehen von der finanziellen Durchführbarkeit, ist zu bezweifeln, ob die wohl dosierte Kriegsrhetorik tatsächlich in einen Ausbruch konventioneller oder sogar nuklearer Gewaltanwendung münden wird. Trotz der momentanen Entspannung will keine Seite als erster nachgeben.
Pakistan hat zwar mit der Reduzierung der Infiltration von militanten Rebellen nach Kaschmir eine Hauptforderung Indiens für einen Truppenabzug erfüllt. Dennoch sehen die Inder ihre militärische Präsenz angesichts fortwährender Gefechte an der LoC bestätigt. Bis Oktober sollen die indischen Truppen laut Verteidigungsminister George Fernandes in Kampfbereitschaft bleiben. Dann finden im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs Kommunalwahlen statt. In Delhi erhofft man sich den Sieg des derzeitigen Staatsministers und neu gewählten Chef der regierenden National Conference Omar Abdullah, Sohn des derzeitigen Chief-Minister Farooq Abdullah. Damit würde Kaschmir wieder direkter unter zentrale Kontrolle geraten. Pakistan dagegen zieht keine Soldaten von der LoC ab, solange dort indische Truppen stationiert sind.
Die unmittelbare Gefahr einer Eskalation ist vielleicht vorerst gebannt, da der Teufelskreis der martialischen Rhetorik durchbrochen worden ist. Aber der Graben zwischen Indien und Pakistan ist tief und die versöhnende Brücke sehr schmal. Rückblickend auf die Kargil Krise von 1999, als sich die verfeindeten Brüderstaaten zum ersten Mal als Atommächte bekämpften, scheint sich eine Regelmäßigkeit der Eskalationen anzubahnen. Wie groß aber ist die nukleare Abschreckung wirklich und wie viele Konfrontationen wird sie andauern?
Sowohl in Indien als auch in Pakistan gibt es zahlreiche Stimmen in der Bevölkerung, die der Meinung sind, das der Abwurf einer Atombombe das Problem mit dem Nachbar endgültig "lösen" würde. Vor allem Pakistan, dem das Minderwertigkeitsgefühl in die staatliche Wiege gelegt wurde, scheint die Atombombe das einzige Mittel, dem mächtigen Indien beizukommen. Was könnte diese hoffnungslose Situation entwirren? Die Positionen beiderseits sind zu verfahren und ideologisiert, als dass mit herkömmlicher Vermittlung geholfen werden könnte.
Der pakistanische Publizist und Kenner der Geschichte Kaschmirs Tariq Ali hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen Vorschlag unterbreitet, der idealerweise nicht nur das Problem in der umstrittenen Grenzregion zwischen Indien und Pakistan löst sondern auch noch ähnliche in Sri Lanka und den anderen Nachbarländern Nepal und Bangladesch. Ihm schwebt eine Südasiatische Union mit "weichen Grenzen" vor. Sie würde den Gründerstaaten ihre Souveränität sichern und gleichzeitig den umkämpften Regionen wie Kaschmir oder der tamilische Norden in Sri Lanka einen echten Autonomiestatus sichern. Sie müssten allerdings ihre Außen- und Sicherheitspolitik abgeben. Eine solche Konstellation würde die nationalen Militärhaushalte drastisch senken und Mittel freisetzen für wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Was Kashmir betrifft, mutet das unter den gegebenen Umständen natürlich sehr utopisch an und das ist Ali bewusst. Aber es ist eine Vision ähnlich der, die dem europäischen Prozess voranging auch wenn die Ausgangssituationen andere sind.
Doch der Raum für Visionen im Dickicht der Ideologie und Kriegsrhetorik muss erst mal geschaffen werden. Indien sollte endlich seiner beanspruchten regionalen Vormachtstellung in Südasien gerecht werden und dementsprechend mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen. Das bedeutet auch Sicherheit für deren Bewohner, die nicht alle Hindus sind und mit Freuden ihr Leben einer Atombombe und der "Zerstörung" eines Feindes opfern würden, den niemand wirklich kennt. Pakistans ideologischer Kampf um Kaschmir hat lediglich den Zweck, von den wahren Problemen des Landes abzulenken, wie etwa das niedrige Bildungsniveau und die brachliegende Wirtschaft. Um aus der ewigen Gewaltspirale herauszukommen, muss Präsident Musharraf genau diese Probleme anpacken. Nur auf diesem Wege könnte sich Pakistan das Selbstbewusstsein und die Anerkennung holen, auf das es seit seiner Unabhängigkeit wartet.
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