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08. Dezember 2011. Kommentare: Afghanistan - Politik & Recht Versöhnung mit den Jihadisten

Zehn Jahre Krieg in Afghanistan

Zehn Jahre nach dem Beginn der Afghanistan-Intervention wird auf dem Petersberg zum zweiten Mal über die Verteilung der Macht verhandelt. Auf das nation building will der Westen verzichten, doch eine rudimentäre militärische Kontrolle soll gewahrt bleiben.

Nur zwei Raketen, nicht mehr, das war die Bedingung Musa Khan Akbarzadas, des Gouverneurs von Ghazni. Einen reglementierten Beschuss aber erlaubte er den Taliban im November in der Umgebung der Stadt, da diese "Bereitschaft zur Versöhnung mit der Regierung zeigen" und deshalb "unter Druck von ihren Vorgesetzen" stehen. Die Taliban feuerten vereinbarungsgemäß, doch eine der Raketen tötete die neunjährige Khatera Resai.

Da der Gouverneur so unvorsichtig war, die Vereinbarung dennoch öffentlich zu rechtfertigen, blieb Kritik nicht aus. Doch Abmachungen mit den Taliban sind üblich in Afghanistan, meist wird Schutzgeld gezahlt, um Angriffe abzuwenden. Da ist es konsequent, dass die Taliban auch zur Petersberger Konferenz eingeladen werden. Schließlich sollten sich im "Versöhnungsprozess", über den dort verhandelt werden soll, "alle Kräfte in Afghanistan wiedererkennen", sagte Michael Steiner, der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan.

Steiner soll bereits als Vermittler bei Gesprächen zwischen den Taliban und der US-Regierung tätig gewesen sein. Viel herausgekommen ist dabei nicht. An der Ansicht, dass Afghanistan "sich nicht als Vorzeigedemokratie nach unseren Maßstäben eignet", wie der damalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg es im Jahr 2009 formulierte, halten die westlichen Regierungen fest. "Amerika wird sich an Initiativen zur Versöhnung des afghanischen Volkes, einschließlich der Taliban, beteiligen", sagte US-Präsident Barack Obama.

Doch die Jihadisten zieren sich. Sie bereiten sich mit einer Doppelstrategie auf den Abzug der ausländischen Kampftruppen vor, der im Jahr 2014 abgeschlossen sein soll. Spektakuläre Anschläge, die oft Insiderwissen voraussetzen, sollen die Bevölkerung wie auch die Interventionsmächte einschüchtern und beweisen, dass die Taliban den afghanischen Staatsapparat infiltriert haben. Überdies bemühen sich die Jihadisten, möglichst viele ihrer einflussreichen Gegner zu beseitigen, bevor die nächste Phase des Bürgerkriegs beginnt.

Obwohl die Strategie der Taliban offensichtlich ist, dürfte es bei der Petersberger Konferenz keine Selbstkritik geben. Mit der Klarstellung, dass der Abzug der Kampftruppen kein Ende der militärischen Intervention bedeutet, hat die US-Regierung jedoch deutlich gemacht, dass sie nicht einem Erfolg des "Versöhnungsprozesses" rechnet. Geplant ist, neben der Weiterführung der Ausbildung afghanischer Soldaten, vermutlich eine Ausweitung der Kriegführung mit Drohnen, unbemannten Kampfflugzeugen, die derzeit vor allem in Pakistan eingesetzt werden. Die Intervention wird nach 2014 vor allem eine Sache der US-Regierung sein, die offenbar auf die ohnehin nie sehr intensiven Bemühungen zum nation building gänzlich verzichten will.

Wer die US-Wahl im November 2012 gewinnt, dürfte für die Afghanen gleichgültig sein. Die republikanischen Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur haben ihre außenpolitische Inkompetenz bereits in öffentlichen Debatten unter Beweis gestellt. Von der Idee, dass die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens die Amerikaner etwas angehen könnte, will kaum jemand in der Partei noch etwas wissen. So schlagen der Militäranalytiker Michael O’Hanlon und Paul Wolfowitz, Vizeverteidigungsminister von 2001 bis 2005, vor, den Erfolg in Afghanistan nach "kolumbianischem Standard" zu definieren. Die Militärhilfe soll "in ihrem Ausmaß, aber nicht zeitlich beschränkt" sein, es gilt als ausreichend, wenn die großen Städte gehalten werden und die Kämpfe nicht eskalieren.

Dass es nach 2014 weiterhin US-Militärbasen in Afghanistan geben soll, ist aber auch eine Botschaft an die Taliban. Seine Basen, und damit die wichtigsten afghanischen Städte, in oder nahe denen sie liegen werden, wird das US-Militär den Taliban nicht überlassen. Vermutlich wird die Lage nach 2014 weniger der in Kolumbien, wo sich die Guerillatätigkeit auf wenige Gebiete des Landes beschränkt, als der in Somalia ähneln, wo oppositionelle Jihadisten weite Teile des Landes kontrollieren, während prowestliche islamistische Warlords und andere Kriegsverbrecher unter dem Schutz ausländischer Truppen eine Regierung simulieren und gleichzeitig um die Macht im Rest des Landes kämpfen.

Die Abschlusserklärung der Petersberger Konferenz wird zweifellos eine optimistischere Einschätzung der Lage präsentieren. Es werden etwa 90 Delegationen mit 1 000 Teilnehmern erwartet. Obwohl die Taliban vermutlich keine offiziellen Repräsentanten entsenden werden, wird es an Islamisten nicht mangeln. Die meisten Politiker sind ehemalige Kommandanten der Mujahedin, die den Jihad gegen die Sowjetunion führten. Interpol könnte so viele Drogenhändler verhaften wie wohl bei keiner anderen Gelegenheit, denn die meisten Oligarchen der Regierung wie der Opposition finanzieren sich und ihre Organisationen mit dem Opiumverkauf. Auch 34 Repräsentanten der "Zivilgesellschaft" wurden eingeladen, allerdings tagen sie vor der Konferenz und dürfen vor den Delegierten nur zwei Reden halten, "mit Zustimmung der afghanischen Regierung", wie Steiner betont.

Die zweite Petersberger Konferenz kann somit als Nachfolgeveranstaltung der ersten gelten, bei der vor zehn Jahren die politische Neuordnung Afghanistans beschlossen wurde. Auch damals ging es vornehmlich darum, die Macht unter Warlords und Patriarchen zu verteilen. Mit dem Vorsitz der Übergangsregierung und später der Präsidentschaft wurde Hamid Karzai betraut, ein Powerbroker, der nicht über eigene Milizen verfügte.

Für eine Übergangszeit mag ein solches Arrangement unvermeidlich sein, doch wurde nichts getan, um die Voraussetzungen für die im damals unterzeichneten Petersberger Abkommen vorgesehenen freien und gleichen Wahlen zu schaffen. Als Karzai die Kandidatur von Parteien bei den Wahlen verbot, um sicherzustellen, dass er es mit einem leichter lenkbaren Parlament von "Unabhängigen" zu tun hat, wurde nicht einmal Kritik laut. Auch der Wahlbetrug im Jahr 2009 wurde, nach einigem Zögern und kontroversen Debatten, akzeptiert. Dass Karzai, der für den Erhalt seines Bündnissystems auf Bestechungszahlungen angewiesen ist, die Verfügung über einen größeren Teil der internationalen Finanzhilfe zugsprochen wurde, war eine weitere Unterstützung für das Klientelsystem des Präsidenten.

Die Demokratisierung galt bestenfalls als Luxus, den man sich vielleicht noch leisten kann, wenn andere Aufgaben erledigt sind. Deshalb wurden die regierungstreuen islamistischen Warlords hofiert, die als unverzichtbare Garanten der Stabilität galten. Erarbeitet unter deutscher Führung und abgesegnet von der Uno, bekundet das Petersberger Abkommen die "Anerkennung für die afghanischen Mujahedin", die als "Helden des Jihad" bezeichnet werden. Die drei Jahre später verabschiedete Verfassung macht die "Bewunderung für die höchste Position der Märtyrer" zur Grundlage der "Islamischen Republik Afghanistan". Das Reizwort Sharia wird vermieden, doch muss die Justiz den "Bestimmungen der heiligen Religion des Islam" folgen.

Fortschritte gab es daher zwar bei der Mädchenbildung, die von den meisten Islamisten und fast 90 Prozent der Bevölkerung befürwortet wird, nicht aber bei der Durchsetzung der Frauenrechte und dem Kampf gegen patriarchale Gewalt. Die nicht nur in Deutschland häufig vorgebrachte Rechtfertigung, man müsse Rücksicht auf die Traditionen nehmen, ist eine Ausrede. Knapp 80 Prozent der Afghanen betrachten die Demokratie als beste Regierungsform, doch fanden sie in den westlichen Interventionsmächten keinen Verbündeten. Und auch das nation building ist weitgehend gescheitert, zehn Jahre nach dem Beginn der Intervention hat die durchschnittliche Lebenserwartung 45 Jahre nicht überschritten, und nur in Angola ist die Kindersterblichkeit noch höher.

Es gibt somit viele gute Gründe, den Afghanistan-Krieg zu kritisieren. Doch in den Äußerungen der Friedensbewegung und auch der meisten Gruppen der radikalen Linken ist wenig Interesse an der gesellschaftlichen Emanzipation erkennbar. Einen Herzenswunsch dieser Kritiker hat die Nato bereits erfüllt: Sie verhandelt mit den Taliban. Manchmal wird, wie im Aufruf des "Revolutionären Bündnisses", so etwas wie Äquidistanz bekundet: "Die Taliban sind ohne Zweifel eine reaktionäre, dem Fortschritt feindlich gegenüberstehende Kraft. Nur, das ist die Nato erst recht."

Das moralische Urteil ersetzt die politische Analyse. Militärische Gewalt ist im Kampf gegen die Taliban und andere Jihadisten unerlässlich. Wer soll nach dem Abzug der Nato die Mädchenschulen schützen? Zudem zielt die Kritik an der ausländischen Intervention allein auf den Westen, es wird behauptet oder implizit vorausgesetzt, der Abzug der Nato werde die "nationale Souveränität" wiederherstellen und eine "Versöhnung" ermöglichen. Doch die erste Hälfte der neunziger Jahre, als Afghanistan weitgehend sich selbst überlassen wurde, war die Phase der heftigsten Kämpfe und die damals aktiven Warlords bereiten sich nun auf die nächste Runde des Krieges vor.

Überdies werden Nachbarstaaten und regionale Mächte, die bereits jetzt in Afghanistan sehr aktiv sind, die Lücke füllen, die mit dem Rückzug der Nato entsteht. Dass chinesische Unternehmer, pakistanische Geheimdienstler und iranische Revolutionswächter einen größeren Beitrag zur Demokratisierung leisten als die Nato, muss jedoch bezweifelt werden.

Der gesellschaftliche Zerfall nach 32 Kriegsjahren hat den Aufbau von Protest- und Widerstandsbewegungen bislang verhindert, ein "afghanischer Frühling" ist nicht zu erwarten. Im Westen ziehen sich Regierungen und Mehrheitsgesellschaft auf ihr "nationales Interesse" zurück. Für die Petersberger Konferenz bedeutet dies, dass jeder willkommen ist, der glaubhaft versichert, er werde sich vom internationalen Terrorismus fernhalten, in Zukunft also nur noch Afghanen umbringen. Eine Kritik, die sich auf die Forderung konzentriert, Afghanistan möglichst schnell den Warlords und nichtwestlichen Interventionsmächten zu überlassen, ist angesichts dieser Lage nur eine linke Version des rechten Isolationismus.

 

Quelle: Dieser Beitrag erschien im Original am 1. Dezember 2011 in der Wochenzeitung Jungle World Nr. 48/2011.

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