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14. Juli 2007. Kommentare: Indien - Politik & Recht Zum Tod von Ex-Premierminister Chandrashekhar

Chandrashekhar, 1990/91 für sieben Monate Premierminister und einer der letzten Repräsentanten der alten indischen Staatsklasse, starb an den Folgen einer Krebserkrankung am 8. Juli 2007 im Apollo-Krankenhaus in Delhi im Alter von 80 Jahren. Mit ihm verließ eines der Urgesteine die an herausragenden Persönlichkeiten zunehmend ärmer werdende Bühne der indischen Politik.

Seine wechselvolle Karriere führte Chandrashekhar von der alten Praja Socialist Party – einst Hoffnungsträgerin für ein demokratisch-sozialistisches Indien – über den Congress – dort revoltierte er als sogenannter Jungtürke gegen den autoritären Führungsstil von Indira Gandhi – in den Widerstand gegen den von ihr zwischen 1975 bis 1977 verhängten Ausnahmezustand (Emergency) und in die von 1977 bis 1979/80 regierende Janata Party. Nach Indira Gandhis Rückkehr an die Macht 1980 führte er als Parteipräsident diese von Fraktionskämpfen geschüttelte Partei. In einer landesweiten Bharat Yatra strebte er unmittelbaren Zugang zu den Menschen auf dem Lande und in den kleineren Städten an, auch um ihre Probleme zu verstehen. Sein Bündnis mit Ex-Premier Charan Singh (1979/80) in Form der kurz vor der Wahl 1984 geschmiedeten Dalit Mazdoor Kisan Party (Dalit, Arbeiter und Bauern-Partei, DMKP) scheiterte nach der Ermordung Indira Gandhis bei der anschließenden Erdrutschwahl, die ihren politisch unerfahrenen Sohn Rajiv Gandhi mit mehr als zwei Dritteln der Mandate an die Macht katapultierte.

Erst durch den Bofors-Skandal (Kauf von Haubitzen durch die indische Armee von der schwedischen Waffenfirma Bofors mit unterstellten Schmiergeldern an den Congress) gelang es zum Ende der 1980er Jahre, die verschiedenen gegen den Congress gerichteten Strömungen vor allem in Nordindien unter der charismatischen Führung von V. P. Singh, ehemals Finanz- und Verteidigungsminister unter Rajiv Gandhi, unter dem Dach der neu gegründeten Janata Dal zu vereinen. Das Bündnis mit Regionalparteien – auch aus Südindien – führte zur Nationalen Front. Ihr Wahlerfolg 1989 brachte V. P. Singh an die Spitze einer Minderheitsregierung, die von außen seitens der ideologischen Kontrahenten der Kommunisten und der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei/BJP) in einem Zweckbündnis auf Zeit parlamentarisch gestützt wurde.

Dieses Bündnis zerbrach auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen während der von L. K. Advani (damals BJP-Präsident) landesweit geführten Rath Yatra mit dem Ziel der Erbauung eines Tempels zu Ehren des Hindu-Gottes Ram in Ayodhya und der Gegenmaßnahme von V. P. Singh durch eine Reservierung von Arbeitsplätzen für Angehörige der Other Backward Castes/Classes (OBCs) – d. h. de facto überwiegend vor allem von Bauern- aber auch von Handwerker-Kindern - im Staatsdienst auf Grundlage der Empfehlungen der Mandal-Kommission.

Hier nun schlug Chandrashekars Stunde, der bis dahin kein Ministeramt innehatte. Während unseres 3 ½-stündigen Frühstücksgesprächs in seinem Entwicklungszentrum Bhondsi vor den Toren Delhis wurde ich unfreiwillig Zeitzeuge, wie er telefonisch zusammen mit dem damaligen stellvertretenden Premierminister Devi Lall den endgültigen Countdown für die Spaltung der Janata Dal plante. Mit einer Gefolgschaft von nur 67 Parlamentariern (ca. die Hälfte der fragilen Janata Dal-Fraktion) ließ sich Chandrashekhar, von außen durch den Congress toleriert, zum Premierminister einer kaum handlungsfähigen Minderheitsregierung küren. Die Demütigung des finanziellen Offenbarungseids, symbolisch inszeniert durch die Verpfändung der indischen Goldreserven an die Bank of England während seiner Amtszeit, öffnete die Schleusen durch die vom Congress-Premierminister P. V. Narasimha Rao nach den Wahlen 1991 verfügte und vom damaligen Finanzminister Dr. Manmohan Singh exekutierte Öffnung zum Weltmarkt in der ersten Phase einer von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds maßgeblich diktierten Liberalisierungspolitik, ergänzt durch eine massive Abwertung der indischen Rupie.

Chandrashekhar verfügte, wie die meisten indischen Politiker seiner Zeit, nur über ein sehr begrenztes außenpolitisches Weltbild. Seine einzige Auslandsreise während seiner kurzen Amtszeit – eine vom Congress unterstellte angebliche Überwachung von Rajiv Gandhi mit abhörtechnischen Mitteln durch seine Regierung veranlaßte ihn nach einer kurzen Kampfrede hoch erhobenen Hauptes im Parlament zum selbst eingereichten Rücktritt – führte ihn nach Nepal, denn dort unterhielt er gute Beziehungen zu den demokratischen Kräften des Nepali Congress.

Während eines Abendessens, gegeben vom damaligen deutschen Botschafter Dr. Hans-Georg Wieck, kurz nach seinem Rücktritt 1991, sagte er, er hätte noch kurz zuvor die Freilassung maßgeblicher Vertreter der kashmirischen Opposition aus der Haft verfügt, um mit den "Boys" eine Lösung auszuhandeln. Er meinte hiermit das in Jahrzehnten "bewährte" (?) Rezept der demokratisch legitimierten Staatsklasse, gewaltbereite Gegeneliten entweder zu zerschlagen oder aber in das Herrschaftssystem zu kooptieren. In einem anderen ausführlichen Gespräch meinte Chandrashekhar, Indien befinde sich in einer Situation, die vergleichbar mit dem Ende der Weimarer Republik kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sei. Diese auch unter anderen Politikern damals und selbst wohl auch manchmal noch heute verbreitete Argumentation zeigt meines Erachtens indirekt, dass selbst indische Spitzenpolitiker keine wirklich genaue Kenntnis der Evolutionsstufen der verschiedensten Teilgesellschaften, subnationalistischen und ethnischen Strömungen und Identitäten dieses heterogenen Vielvölkerstaates und seiner imaginären Gesamtgesellschaft haben, obwohl die extremen Teile des Hindu-Nationalismus durchaus faschistische Kräfte und Gefahren bergen.

Chandrashekhar, seit 1977 achtmal in das indische Parlament– nur von 1984-89 war er dort nicht vertreten – von seinem Wahlkreis Ballia im östlichen Uttar Pradesh gewählter Unterhausabgeordneter, genoss auch nach 1991 als Vertreter seiner Ein-Mann-Fraktion persönlichen Respekt quer durch die Parteien. Dies zeigte sich u. a., wenn er seine Stimme im Parlament erhob, denn man hörte ihm wirklich zu, auch wegen seines Humors und seiner guten Rhetorik. Der Gitarre spielende, dem Leben und auch seinen Freuden durchaus zugeneigte, stolze und selbstbewußte "Sozialist", herkunftsmäßig ein Thakur (traditionelle Krieger-Kaste), unterhielt aber auch enge Verbindungen mit dem u.a. wegen seiner Verbindungen zum saudi-arabischen Waffenhändler Kashoggi umstrittenen Godman Chandraswamy, der bei ihm ebenso wie bei seinem Amtsnachfolger P. V. Narasimha Rao ungehindert ein- und ausgehen konnte. Mit Chandrashekhar, von dem in den 90er Jahren einer seiner einst engsten Parteifreunde - ein heutiger Kabinettsminister - einmal sagte, er sei "Indiens teuerster Premierminister" gewesen, verließ ein weiterer wichtiger Repräsentant des indischen Staates die Bühne und dürfte wohl auch einige seiner gut gehüteten Geheimnisse mit sich genommen haben.

Das Staatsbegräbnis und die von der Regierung verfügte sieben-tägige Staatstrauer sind Ausdruck des allgemeinen Respekts für einen durch und durch säkularen Politiker aus dem heute zur politischen Bedeutungslosigkeit geschrumpften Lager der indischen Sozialisten.

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