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08. Dezember 2001. Interviews: Politik & Recht - Afghanistan Interview zur aktuellen Lage in Afghanistan

Im Gespräch mit dem paschtunischen Sozialdemokraten Mohammed Scherien Gerdeawal

Mohammad Scherien Gerdeawal lebt seit 1975 in Deutschland. Er hat an der Fachhochschule Lüneburg Sozialarbeit studiert und ist seit sieben Jahren Leiter eines Kölner Gemeinwesenzentrums. Zudem ist er Vorsitzender des Paschtunischen Kulturverein e.V. und Stellvertretender Vorsitzender der 1981 gegründeten Paschtunischen Sozialdemokraten (PSDP).

Sehr geehrter Herr Scherien Gerdeawal, dieser Tage hat in Bonn die UN Konferenz über die politische Zukunft Afghanistans stattgefunden. Wie bewerten sie dieses Ereignis und das Ergebnis als paschtunischer Sozialdemokrat?
Als paschtunischer Sozialdemokrat unterstütze ich natürlich jede demokratische Veränderung in Afghanistan. Diese sollte aber die nationalen als auch internationalen Interessen des afghanischen Volkes berücksichtigen. Das Treffen auf dem Petersberg war ein erster Schritt. Zu der Konferenz an sich möchte ich feststellen, dass wir als demokratische politische Partei auf dem Petersberg nicht eingeladen waren. Das Ergebnis an sich entspricht wohl eher den Interessen der Vereinigten Staaten und der UN als denen der Afghanen oder Paschtunen.
Im Verlauf der Konferenz hatte ein Mitglied der Delegation der Nordallianz, der Paschtune Hadschi Abdul Kadir, die Konferenz verlassen. Grund seines Entschlusses war scheinbar die aus seiner Sicht zu geringe Beteiligung der Paschtunen. Der künftige Regierungschef Hamid Karzai ist indes Paschtune. Die zukünftige Übergangsregierung wird laut Abkommen aus elf Paschtunen, acht Tadschiken, fünf Hazara und drei Usbeken bestehen. Eine gerechte Verteilung?
Diese Frage möchte ich mit einer Gegenfrage beantworten. Wie und auf welche Kriterien gestützt kam es zu dieser Verteilung? Uns paschtunischen Sozialdemokraten ist bekannt, dass nicht alle Delegierte auf dem Petersberg das Abkommen ratifiziert haben. Nimmt man die Bevölkerungsstatistik der UN aus dem Jahr 1982 und der WAK Foundation (1996) möchte ich folgende Aussagen beider festhalten. Im UN Bericht aus dem Jahre 1982 steht wörtlich " Afghanen im eigentlichen Sinne sind nur die Paschtunen, die nur etwa 55% (sprachlich) beziehungsweise 60 % (ethnisch) der Gesamtbevölkerung ausmachen". In dem Bericht der von der UN unterstützten WAK Foundation ist nachzulesen, dass der Anteil der Bevölkerung wie folgt ist: Paschtunen 62 %, Tadschiken 13 %, Hazara 9 %, Usbeken 6 %, Tukmenen 3 % und der Rest geht auf andere Gruppierungen.
Der usbekische General Dostum, bis dato Mitglied der Nordallianz, hat schon seinen Widerstand gegen das Bonner Abkommen angekündigt. Das Außen-, Innen- und Verteidigungsressort sind mit Mitgliedern der Nordallianz besetzt worden. Es scheint, als kämen zu den alten unbeglichenen Rechnungen der ehemaligen Warlords nun neue in Bonn geschaffene hinzu. Wie beurteilen sie die Lage?
Das ist für mich keine Überraschung. Wer die Konstellationen innerhalb der Nordallianz kennt, weiß das diese zum Einen über kein politisches Konzept verfügt und zum Anderen schon in der Vergangenheit ein eher loser Zusammenschluss unterschiedlicher lokaler Machthaber und teils auch skrupelloser Warlords war, welche nur ihre eigenen Interessen verfolgt haben. Hadschi Abdul Kadir, ein gemäßigtes Mitglied der Nordallianz und Paschtune, hat ja nicht grundlos die Bonner Konferenz frühzeitig verlassen. Uns paschtunische Sozialdemokraten verwundert die jetzige Situation nicht. Wir sind allerdings sehr gespannt darauf, wie dieses Problem mit General Dostum nun seitens der von der Nordallianz gestellten Minister des Innen- als auch Verteidigungsressort gelöst wird. Wie wir paschtunischen Sozialdemokraten immer gesagt haben, sind die Vertreter einer ethnischen Minderheit (in diesem Falle Tadschiken der Nordallianz) nicht in der Lage, ganz Afghanistan zu regieren. Ich befürchte neues Konfliktpotential aus dem wieder bürgerkriegsähnliche Zustände entstehen könnten. Dies wiederum könnte eine Teilung Afghanistans zur Folge haben. Dies kann weder im Sinne des afghanischen Volkes noch der internationalen Gemeinschaft sein. Ich möchte daran erinnern, dass es schon 1992 die Nordallianz war, welche den damaligen UN-Plan hat platzen lassen. Selbst die Taliban waren ja nur ein Produkt des Verhaltens seitens der Nordallianz gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung.
Wer die Geschichte Afghanistans kennt, weiß, dass die afghanische Innenpolitik der vergangenen 20 Jahre immer den außenpolitischen Zielen seiner Nachbarn und der Großmächte unterworfen war. Wie kann oder auch soll dies in Zukunft aus ihrer Sicht verhindert werden?
Eine einfache Antwort. Wichtig ist die innere Stabilität Afghanistans. Diese kann aus unserer Sicht nur das staatstragende Volk der Paschtunen gewährleisten. Dies bedeutet und beinhaltet zugleich einen sorgsamen Umgang mit den ethnischen oder religiösen Minderheiten. Deren kulturellen, politischen, religiösen, sprachlichen und wirtschaftlichen Rechte müssen gewährleistet sein. Afghanistan muss mit all seinen Nachbarn in friedlicher Koexistenz leben können. Umgekehrt erwarten wir von unseren Nachbarn und den Großmächten, unsere staatliche Souveränität zu akzeptieren und nicht zu unterlaufen. Wir als Sozialdemokraten sind bereit mit allen Demokraten dieser Welt zusammenzuarbeiten!
Afghanistan ist ein geschundenes Land. Schwerer als die Zerstörung von Städten und Infrastruktur dürfte die Tatsache sein, dass der Bürgerkrieg mit äußerster Brutalität geführt worden ist. An vielen Händen klebt Blut, insbesondere auch an den Händen der jetzigen Sieger. Wie kann und soll man damit umgehen?
Als paschtunische Sozialdemokraten folgen wir dem Vorbild von Abdul Ghaffar Khan, einem Weggefährten Gandhis. Gewaltlosigkeit! Konkret bedeutet dies eine Generalamnestie versehen mit einem Zusatz, dass schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der Amnestie ausgeschlossen sind.
Die Taliban waren in der Mehrzahl Paschtunen. Sie, Herr Gerdeawal, sind Paschtune. Die Paschtunen sind die stärkste ethnische Volksgruppe in Afghanistan. Wie und in welcher Form kann ein in Zukunft friedliches Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen organisiert werden, und welche Rolle sollten die Paschtunen in diesem modernen Afghanistan spielen?
Es stimmt, dass die Taliban von ihrer Herkunft her mehrheitlich Paschtunen waren. Aber ähnlich wie die Mudschaheddin wollten sie eine islamische Republik. In einer solchen ist für Demokratie und einen frei gewählten Parlament kein Platz. Das Ziel von uns Sozialdemokraten ist aber eine pluralistische Demokratie (Mehrparteiensystem). Dies beinhaltet einen säkularen Staat und den Ausgleich zwischen den ethnischen Gruppierungen. Die Paschtunen waren in der Geschichte Afghanistans immer das staatstragende Volk. Afghane, Pathane und Paschtune ist ja wörtlich ein und das Selbe. Andere Völker haben im Lauf der Geschichte die Paschtunen so genannt (Pakistaner und Inder nennen uns Pathanen, die Araber und Iraner nennen uns Afghanen und wir selbst nennen uns Paschtunen).
Eine letzte Frage. Inwiefern können die Exilafghanen Einfluss nehmen, und wie groß ist ihre persönliche Hoffnung auf ein demokratisches Afghanistan?
Die Exilafghanen sind zu ihrem Großteil hervorragend ausgebildet und gehören der Intelligenz Afghanistans an. Sie können durchaus auch Einfluss nehmen auf die zukünftige Entwicklung. Ihre Auslandserfahrung könnte von Nutzen sein für die Zukunft Afghanistans. Sie verfügen über gute Kontakte in den jeweiligen Ländern ihres Exils, welche gerade im kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bereich von großer Bedeutung sein werden. Ein letzter Appell an alle demokratisch denkenden Afghanen: "Organisiert euch politisch und engagiert euch beim Wiederaufbau unseres Landes"!
Herr Gerdeawal, ich bedanke mich für das Gespräch.

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