Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan aufzuarbeiten, ist schwierig. Denn viele Täter sitzen in politischen Ämtern - mit Duldung der internationalen Gemeinschaft, so die afghanische Menschenrechtskommissarin Hangama Anwari. Anwari, 30, ist in Afghanistan eine sehr bekannte Anwältin. Sie hat als Beraterin für das Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen gearbeitet, bevor sie Mitglied der afghanischen Menschenrechtskommission wurde. Sie ist zudem sowohl in Initiativen kleiner Kommunen tätig gewesen als auch in der Wissenschaft, wo sie vor allem zu Fragen der Menschen- und der Frauenrechte geforscht hat.
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Fünf Jahre sind seit dem Sturz der Taliban vergangen. Wo sehen Sie
in puncto Menschenrechte die größten Fortschritte seitdem?
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Wir haben eine neue Gesetzgebung, mehr Kinder gehen zur
Schule, Frauen sind in der Öffentlichkeit präsent; das wäre zur Zeit der
Taliban undenkbar gewesen. Allerdings sehen wir die verschlechterte
Sicherheitslage mit großer Sorge.
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Beeinflusst die veränderte Sicherheitslage Ihre Arbeit?
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Wir konnten noch 2002 sehr frei in alle Landesteile fahren. Heute komme
ich aus Kabul kaum noch heraus. Für NGO-Vertreter, die zum Beispiel im
Gesundheits- oder im Bildungsbereich arbeiten, ist es sehr gefährlich
geworden, in entlegene Regionen zu fahren. Neben der Sicherheit besorgt
uns die Rechtsunsicherheit. Es hat viele Bemühungen zur Reform der
Justiz gegeben, Italien war dabei federführend. Aber das Justizsystem
ist immer noch ein sehr fragiles Gebilde.
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Warum sind die Reformbestrebungen so erfolglos?
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Die Politik muss die Rechtssicherheit ernster nehmen, hat aber vor allem
auf die Sicherheitslage geschaut.Aber wie soll es sicher werden, wenn es
keine Gerechtigkeit gibt? Wir hatten zu lange führende Kräfte im
Justizsektor, die keine Ahnung hatten, was Menschenrechte sind. Wir
mussten die erst mal aufklären, wie die Gesetzeslage ist und welche
internationalen Verpflichtungen Afghanistan hat. Heute haben wir besser
ausgebildete Richter. Aber es fehlt auch an der Ausstattung. Wir haben
schlicht keine Gerichtsgebäude an vielen Orten und zu wenig gut
ausgebildetes Personal in den Provinzen.
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Gerechtigkeit ist auch eine Frage des politischen Willens. Wie soll den
Opfern vergangener Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit widerfahren,
wenn ihre Peiniger in Kabul im Parlament sitzen?
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Nicht nur unsere Regierung, auch die internationale Gemeinschaft wollte
sich anfangs damit nicht befassen. Mit der Zementierung von
Straflosigkeit haben die Warlords noch mehr Macht bekommen. Das hat sich
bei unseren Wahlgesetzen gezeigt. Obwohl die Zivilgesellschaft forderte,
frühere Kriegsverbrecher nicht zur Wahl zuzulassen, waren sie mit von
der Partie. Sie verfügen über Geld und Macht und werden in ihren
Regionen gefürchtet. So haben sie es ins Parlament geschafft. Heute ist
es schwerer, vergangene Verbrechen aufzuarbeiten, als vor den Wahlen.
Denn heute haben wir gewählte Volksvertreter, von denen mehr als die
Hälfte in diese Verbrechen involviert ist.
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Welcher Spielraum bleibt da für eine Menschenrechtskommission?
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Wir haben keine Listen von Verdächtigen erstellt, das ist nicht unser
Job. Wenn unsere Regierung und die internationale Welt das für wichtig
halten, sollten sie über geeignete Mechanismen nachdenken.
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Sie meinen ein UN-Tribunal?
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Ja, so etwas in der Art. Was wir tun konnten, war, auf der lokalen Ebene
zu dokumentieren, was in den Kriegsjahren passiert ist. Vielen
Betroffenen würde es schon reichen, wenn die Täter sich bei ihnen
entschuldigen. Die Kultur des Vergebens ist sehr stark in Afghanistan
verwurzelt. Aber viele Menschen sind sehr enttäuscht, weil ihre
Forderung, die Verantwortlichen nicht auch noch mit hohen Ämtern zu
belohnen, nicht gehört wird.
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Was heißt das für die Akzeptanz der Regierung Karsai und für den
künftigen Umgang mit Menschenrechten?
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Wir haben die Empfehlungen der Betroffenen aufgegriffen und gemeinsam
mit der Regierung und den Vereinten Nationen einen Plan ausgearbeitet.
Der wurde letztes Jahr in Holland mit Experten diskutiert. Es ist
nirgendwo leicht, schwere Menschenrechtsverletzungen zeitnah
aufzuarbeiten. Wir versuchen, die Erinnerung wachzuhalten, mit
speziellen Gedenktagen und Symbolen. Es gibt inzwischen auch ein Komitee
für diese Dinge, das den Präsidenten berät.
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Hört Karsai dabei zu?
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Es ist noch zu früh, das zu beurteilen, aber wir hoffen es sehr. Wir
müssen auf vielen Wegen versuchen, den Respekt für Menschenrechte zu
etablieren. Das ist einer davon. Eine weitere ist die Reform der
Polizei, denn auch Polizisten waren für Menschenrechtsverletzungen bekannt.
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Deutschland ist federführend in der Polizeiausbildung. Sind Sie damit
zufrieden?
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Wir sind mit den Kriterien, nach denen die Beamten rekrutiert werden,
sehr zufrieden. Leider hat es aber auch Fälle gegeben, wo die Ausbilder
diese Kriterien missachtet haben.
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Was heißt das konkret?
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Es hat 2006 einen Fall gegeben, wo von 65 ausgewählten Bewerbern 14 die
Kriterien nicht erfüllt haben. Einige waren selbst früher in
Menschenrechtsverletzungen und Drogenhandel verwickelt, andere waren zu
ungebildet, um eine hohe Position in der Polizei bekleiden zu können.
Die Ausbilder wussten das auch, sagten aber, es habe politischen Druck
gegeben, diese Leute aufzunehmen. Wir haben das mit den deutschen
Kollegen diskutiert, und sie haben gesagt, dass die entsprechenden
Personen erst einmal eine Art Probezeit bekämen. Nach drei Monaten
wollte man das Ganze überprüfen. Wir haben das sehr positiv gesehen,
denn viele andere Länder, die hier Wiederaufbau betreiben, hören uns
Afghanen überhaupt nicht zu. Aber seitdem sind jetzt schon fünf Monate
vergangen, ohne dass etwas passiert ist - wir müssen die Deutschen mal
wieder daran erinnern.
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Welche Folgen können Fälle wie diese haben?
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Der Fall wurde bei uns in den Medien sehr stark diskutiert, diese Männer
sind schließlich in hohen Polizeiämtern in den Provinzen. Und die Leute
sagen: Wenn so etwas mit der Zustimmung der internationalen Gemeinschaft
passiert, was wird uns dann demnächst erwarten?
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Die Polizeiausbildung steht auch deshalb in der Kritik, weil es kaum
Polizistinnen gibt, die Frauen bei der Durchsetzung ihrer Rechte helfen
könnten.
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Das ist sicher vor allem eine Frage des politischen Willens auf der
afghanischen Seite. In allen Bereichen mangelt es an weiblicher
Partizipation. Wir hoffen aber sehr, dass Deutschland mit dazu beitragen
kann, dass die Leute verstehen, warum wir Polizistinnen brauchen. Wir
haben ein riesiges Problem mit häuslicher Gewalt. Frauen in Afghanistan
haben kein Vertrauen in die Polizei, weil sie dort oft noch mehr
erniedrigt oder gewalttätig behandelt werden. Ich appelliere daher an
die Deutschen, mit ihrer Hilfe auf diesem Gebiet die Forderung zu
verbinden, dass es eine sichtbare Präsenz von Frauen in der afghanischen
Polizei gibt.
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Vor allem in den ländlichen Gebieten Afghanistans dominieren
traditionelle Stammesstrukturen. Würden Polizistinnen dort akzeptiert?
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Sicher brauchen diese Veränderungen eine lange Zeit. Aber wenn wir jetzt
nicht beginnen, Dinge zu verändern, wird es bald zu spät sein. Wenn es
aber in den Provinzhauptstädten erste Polizistinnen gibt, an die sich
Frauen wenden können, dann wird das auch weitergetragen. Viele Frauen
bei uns bringen sich um, weil sie keinen Ausweg sehen. Wir müssen ihnen
diesen Ausweg bieten, damit sich an den bestehenden Strukturen etwas
ändert. Das wird nicht morgen sein, aber die nächste Generation wird
schon etwas davon haben.
Quelle: Das Interview erschien am 7. Dezember 2006 in der tageszeitung.
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