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20. Januar 2004. Interviews: Wirtschaft & Soziales - Indien Unter der Armutsgrenze

Prof. Sukhadeo Thorat, Leiter des Instituts für Dalit-Studien in Delhi, hält Quotierungen für alle Minderheitengruppen für notwendig.

Viele Dalit Organisationen verstehen sich als Teil der globalisierungskritischen Bewegung. Sind Sie gegen Globalisierung?
Wir sind natürlich für eine "Globalisierung", aber gegen diese Formen der ökonomischen Dominanz. Damit sehen wir uns in einer Reihe mit Minderheiten in anderen Ländern des Südens und sogar manchmal mit unserer Regierung – siehe die Position Delhis auf der WTO Ministerkonferenz in Cancún.
Wie hat sich die Politik der Liberalisierung des indischen Marktes seit Beginn der 1990er Jahre und die Privatisierung auf die Lebenssituation der Dalits ausgewirkt?
Der neue Wettbewerb gefährdet ihr Überleben. Dalits hatten, wenn auch unter sehr schweren Bedingungen, Arbeitsmöglichkeiten, die jetzt verloren gegangen sind. Zum Beispiel im Straßenbau oder als Erntehelfer. Die Anzahl der landlosen Dalits oder jener mit unter einem Hektar Land hat sich innerhalb von einem Jahrzehnt von rund 15 auf 70 Prozent erhöht. Vielerorts wird nur noch für den Export angebaut. Dadurch verteuern sich die Lebensmittel auf dem lokalen Markt, was für die meist arbeitslosen Menschen irgendwann nicht mehr zu bezahlen ist. Das Gros der Dalits lebt heute unter der Armutsgrenze.
Und die Auswirkungen auf Industrie und den öffentlichen Sektor?
Dort muss es für uns wieder um Reservierungsquoten gehen. Diese sind laut Verfassung an den staatlichen Sektor gebunden. Die privaten Unternehmen sind nicht an Quoten gebunden. Je mehr also privatisiert wird, desto weniger Arbeitsmöglichkeiten gibt es für die so genannten registrierten Kasten und Stämme. Das ist die einfache Formel. Und um Arbeit zu finden, braucht man heute eine gute Schulbildung.
Und wie ist die generelle Schulsituation der Dalits?
Überall sprießen private Bildungseinrichtungen aus dem Boden. Das ist gut so. Aber für eine Dalit-Familie ist das Schulgeld dafür nicht aufzutreiben. Dadurch, dass sich der Staat immer weiter aus dem Bildungsbereich herauszieht, vergrößert er die Anzahl derjenigen ohne Schulausbildung. Es ist absurd – auf der einen Seite will Indien zu den großen Ländern des Kapitalismus gehören und auf der anderen Seite verarmt die Bevölkerung im Bildungsbereich.
Wie sind mögliche Strategien in dieser Situation?
Dalits brauchen zuerst ökonomisches Empowerment (Stärkung), und das heißt u.a. Zugang zum Kapitalmarkt und Quotierungen in sämtlichen Sektoren. Wir sollten fordern, dass jedes Unternehmen eine Liste veröffentlichen muss, aus der hervorgeht, wie der Anteil der Religionsgruppen ist. Dann würde man sehen, dass die indische Wirtschaft in den Händen einiger weniger Kastengruppen liegt, dass es sich hier nicht um einen freien Markt handelt. Wir brauchen eine Politik der Reservierungen für alle Minderheitengruppen in Indien, für die Dalits und die Adivasis und die Muslime und die Christen ebenso.

Quelle: Das Interview erschien am 20. Januar 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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