Inhalt

23. Januar 2006. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Queeres und lesbisches Engagement in Indien

Die strengen Moralvorstellungen in Indien spiegeln sich in einer rigiden Gesetzgebung wieder. Die Diskriminierung von Lesben und Schwulen geht zudem einher mit dem Mangel an Infrastruktur für queere Lebensformen. Immer mehr beginnen sich AktivistInnen dagegen zur Wehr zu setzen. Wie vielfältig die Identitäten jenseits der heterosexuellen Norm sein können, zeigt ein Streifzug durch das "queere Indien".

"Widernatürliche Sexualdelikte: Wer auch immer Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung, mit Männern, Frauen oder Tieren hat, soll mit lebenslanger Haft oder Haft bis zu zehn Jahren sowie einer Geldstrafe bestraft werden." Mit diesem Wortlaut kriminalisiert die Section 377 des Indian Penal Code jegliche Form von "unnatürlichem Sex". Dieses aus kolonialen Zeiten stammende Gesetz wird immer wieder genutzt, um Homosexuelle einzuschüchtern und zu erpressen. Seltener wird es angewandt, um sie rechtlich zu verfolgen. Aber auch ohne dies setzt es einen Rahmen, in dem Menschen, die vom heterosexuellen Standard abweichen, nur eingeschränkt offen für ihre (Menschen-)Rechte eintreten können.

Ein Versuch, das Gesetz abzuschaffen, scheiterte an der früheren von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) geführten Regierung, die als Argument anführte, dass die indische Gesellschaft Homosexualität ablehne. Aber immer mehr NGOs und AktivistInnen wollen diese Einschränkung von Menschenrechten nicht weiter dulden. Menschenrechts-, Kinder-, Frauen- und queere Organisationen haben sich zu Voices against 377 zusammengeschlossen. Dieses breite Bündnis kämpft seit 2004 mit Kampagnen und Publikationen für die Abschaffung der Section 377.

Voices against 377 geht zurück auf eine Initiative von PRISM, das als offenes, unabhängiges und feministisches Forum von Individuen im Jahr 2001 aus der gemeinsamen Arbeit zum Bharosa-Fall entstanden ist. Damals wurden mehrere Mitarbeiter der NGO Bharosa Trust sowie weiterer Organisationen, die Aufklärungsarbeit zu HIV/AIDS machten, unter Anwendung der Section 377 verhaftet. Ziel von PRISM ist es, Themen rund um gleichgeschlechtliche Sexualität, die jenseits der heterosexuellen Norm liegt, aufzugreifen und die Norm als solche in Frage zu stellen. Sie verstehen sich explizit als politische Gruppe, die das Themenfeld in allgemeine Debatten und Aktionen zu Menschenrechten einbringt. Die Aufteilung in Frauen-, Kinder-, und Menschenrechte auf der einen Seite und den Rechten von Homosexuellen auf der anderen soll aufgehoben werden.

PRISM möchte die Auseinandersetzung um Rechte von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Sexualität in die etablierten Organisationen tragen. So sollen Frauenorganisationen erkennen, dass die Rechte von lesbischen Frauen und Hijras (Intersexuelle sowie biologische Männer, die als Frauen leben, und die sich als drittes Geschlecht verstehen) auch Frauenrechte sind. Ihre Diskriminierung geht auf die gleichen patriarchalen Strukturen zurück wie die Unterdrückung von Frauen, die der heterosexuellen Norm genügen. Aus diesen Grundüberlegungen zur Überschneidung von verschiedenen Problemfeldern ist Voices against 377 entstanden.

Tabuzone Sexualität

Eine solche Koalition ist eine neue Entwicklung. Noch vor ein paar Jahren waren zum Beispiel Frauenorganisationen in Delhi dagegen, dass lesbische Gruppen bei der Demonstration zum Frauentag mitliefen. Sexualität ist in Indien ein Tabuthema, über das kaum öffentlich gesprochen wird. Selbst bei vielen progressiven NGOs wird es als Luxusproblem angesehen, das die Armen nicht beträfe und daher nicht relevant sei. Es hat für sie keine Priorität, solange gegen Hunger und religiösen Fundamentalismus gekämpft werden muss. So haben selbst lesbische Aktivistinnen in Frauenorganisationen das Thema immer wieder ignoriert.

Eine erste breitere Öffentlichkeit bekam Homosexualität erst, als 1998 die Hindunationalisten gegen den Film "Fire", in dem eine lesbische Beziehung dargestellt wird, Sturm liefen. Diesmal protestierten nicht nur die wenigen bekannten queeren Engagierten, sie erhielten erstmals auch die breite Unterstützung anderer Organisationen. Die queere Bewegung bekam erheblichen Aufwind, Frauenorganisationen wie das Saheli Women"s Ressource Centre in Delhi nahmen sich des Themas an. Heute ist Saheli Teil von Voices against 377, hat seine Räume unter anderem dem queeren Medienkollektiv Nigah zur Verfügung gestellt und muss sich so zwangsläufig immer mehr mit dem Thema gleichgeschlechtlicher Sexualität auseinandersetzen.

PRISM ist Teil der AktivistInnenszene in der Metropole Delhi. Die Mitglieder des Forums sind überwiegend gut etablierte NGO-Mitarbeiterinnen, die der Mittelklasse entstammen, perfekt Englisch sprechen, eine gute Ausbildung und Kontakte ins Ausland haben. Sie können ihr Leben individuell gestalten und sich selbst finanziell absichern. Sie sind links, säkular und feministisch ausgerichtet. Die Organisation CREA, deren Ziel die Ermächtigung von Frauen ist, sowie Nigah und das queere Studierendenkollektiv Anjuman in Delhi, die lesbischen Organisationen LABIA und Humjinsi sowie das Filmfestival Larzish in Mumbai haben die gleichen Grundüberzeugungen und verfolgen ähnliche Ziele, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Das Eintreten für die Rechte von queeren Menschen ist für sie nur eines von vielen Zielen. Sie sehen die Diskriminierung von Menschen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, in enger Verbindung mit anderen Unterdrückungsstrukturen: religiöser Fundamentalismus, Kastensystem, Benachteiligung von Frauen und ökonomische Globalisierung.

Unter "queer" verstehen sie alle mehr als nur homosexuell. Der Begriff umfasst all jene Menschen, die die heterosexuelle Normierung von Sexualität in Indien in Frage stellen. Das gilt für alle, die sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell oder transgender verstehen, sowie für die indigenen Kategorien Hijra oder Kothi (männliche Homosexuelle, die sich weiblich geben und eine passive Rolle beim Sex übernehmen). Darunter fallen aber auch all jene, die diese Identitäten nicht für sich selber annehmen wollen, sondern sich eher durch msm (men having sex with men), women attracted to women oder same sex desiring angesprochen fühlen. Außerdem fallen unter "queer" auch Heterosexuelle, die die Norm in Frage stellen, in dem sie zum Beispiel nicht heiraten oder nicht monogam leben möchten.

Die Organisationen haben damit das westliche Konzept "queer" auf die indische Lebenswirklichkeit angepasst und entsprechend erweitert. PRISM geht inzwischen noch weiter, indem es Identitätspolitik überhaupt in Frage stellt. Sie wollen sich von allen Essentialisierungen distanzieren, weder vorgeben, dass die queere Community bzw. ihre Untergruppen homogen sind, noch dass alle sich als queer identifizieren müssen. Sie gehen davon aus, dass es gerade in Indien viele Menschen gibt, die sehr wohl gleichgeschlechtliche Sexualität praktizieren, sich aber nicht selber als queer oder homosexuell identifizieren.

Queere Nothilfe

Während die genannten Gruppen sich vor allem politisch, kulturell, in der Öffentlichkeitsarbeit und im Training von MultiplikatorInnen engagieren, gibt es auch eine Reihe von Organisationen in den Metropolen Delhi, Mumbai und Calcutta, die vor allem als Anlaufstellen dienen. In Delhi ist dies zum Beispiel Sangini für Frauen, die sich von Frauen angezogen fühlen, in Mumbai neben Humjinsi auch Aanchal. Sie alle bieten ein Notruftelefon an, das sie mit Zeitungsanzeigen, im Internet und mit Aufklebern in Frauentoiletten bewerben. Es melden sich sowohl Frauen, die in einer Krisensituation sind, als auch solche, die einfach nur andere wie sich selbst oder aber eine Partnerin kennen lernen wollen. Die Probleme von Frauen, die sich zu Frauen hingezogen fühlen, sind im Alltag vielfältig. Wegen der Tabuisierung vor allem weiblicher Sexualität können die Frauen mit kaum jemanden über ihre Sehnsüchte sprechen.

Zudem sind queere Frauen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt. An erster Stelle steht der Zwang zur Heirat, dem sich eine indische Tochter, gleich welcher Glaubensrichtung, nur sehr schwer entziehen kann. Die Kinder zu verheiraten, ist die Pflicht der Eltern und wird vom gesellschaftlichen Umfeld eingefordert. Eine dauerhafte Weigerung hat daher in der Regel mindestens die Folge von massiven psychischem Druck, und wenn sie mit einem Coming Out verbunden ist, kommen häufig weitere Zwangsmassnahmen dazu. So werden immer wieder Frauen eingesperrt und häufig auch einer psychiatrischen Zwangsbehandlung unterworfen. Außerhalb der Familie kann ein queeres Leben zum Verlust von Arbeits- oder Ausbildungsplatz sowie der Wohnung führen. Insbesondere schwule Männer sind zudem der Belästigung durch Polizisten ausgesetzt.

Die Beraterinnen der Anlaufstellen hören den Betroffenen zu, geben Informationen über Rechte und weitere AnsprechpartnerInnen. Zudem bieten sie meist eine support group an, in der die Frauen andere in der gleichen Situation treffen können. Dies ist besonders wichtig, da es in Indien zwar einige wenige öffentlichen Orte für Schwule, aber keine für Lesben gibt.

Die wenigsten der Frauen in diesen Gruppen haben jedoch ein Interesse an politischem Engagement. Ihnen geht es um die Lösung ganz konkreter Probleme. Sie sind geprägt durch die heterosexuelle Norm, die Diskurse von PRISM und anderen Gruppen sind (noch) nicht ihre. So kommt es in diesem Umfeld auch immer wieder zu Essentialisierungen und Identitätspolitik. In der Suche nach Zugehörigkeit nehmen einige Frauen gerne Begriffe wie lesbisch oder dyke (eine Selbstbezeichnung aus dem angelsächsischen Kontext) an und definieren sich über die damit verbundenen Stereotype. So ist es zum Beispiel verbreitet, lesbische Frauen in butch (männliche Rolle) und femme (weibliche Rolle) einzuteilen. Queere Frauen, die den identitätsstiftenden Stereotypen nicht entsprechen können oder wollen, stellen die geschaffene Ordnung in Frage und können daher auch nicht zugehörig sein. So sind einige zum Beispiel schon irritiert, wenn eine Frau mit kurzen Haaren (das Kennzeichen für eine butch) gerne Hausarbeit macht (die Aufgabe der femme).

All diese Begriffe schaffen Zugehörigkeit und grenzen gleichzeitig aus. Es macht allerdings keinen Sinn, ganz auf sie zu verzichten. So betont auch PRISM, dass in Indien - in einer Gesellschaft, in der Homosexualität stigmatisiert wird - das öffentliche Benutzen von Begriffen wie lesbisch oder schwul ein wichtiger politischer Schritt heraus aus dem Schweigen ist.

Geoutet in der Bewegung...

Die lesbische Infrastruktur Indiens beschränkt sich fast ausschließlich auf die Metropolen Delhi, Mumbai und Kolkata. Selbst in der Millionenstadt Chennai (früher Madras) gibt es keine einzige Organisation für queere Frauen. Die Infrastruktur für Schwule, msm, Hijras und Kothis ist besser ausgebaut. Das liegt zum einen daran, dass männliche Sexualität kein so starkes Tabu ist wie die weibliche, vor allem aber daran, dass es für die Vorbeugung von HIV/AIDS sowohl Fördergelder als auch staatliche Unterstützung gibt. Für die meisten Frauen, die Frauen attraktiv finden, heißt das, dass sie keine Ansprechpartnerinnen haben, dass sie auf sich alleine gestellt sind.

Seit 1987 berichten die indischen Medien immer wieder über lesbische Paare in Extremsituationen. Die erste Geschichte war die Hochzeit der Polizistinnen Leela und Urmila in Bhopal und der anschließende Verlust ihrer Stellungen. Das indische Gesetz erlaubt zwar keine gleichgeschlechtlichen Eheschließungen, nach dem personal law system sind aber die religiösen Riten grundsätzlich rechtskräftig. Wenn gleichgeschlechtliche Paare einen Geistlichen finden, der die Zeremonie durchführt, halten sie sich für verheiratet, auch wenn dies rechtlich nicht der Fall ist.

Im Dezember 2004 war es das so genannte Amritsar Couple, das sogar für Sondersendungen im Fernsehen sorgte. Bei ihnen " wie in den meisten Geschichten " wird immer von einem "Ehemann" und einer "Ehefrau" gesprochen. Die Paare verstehen sich meist auch in dieser butch-femme-Kategorisierung. Das Amritsar Couple erzählte, dass es in Delhi in einem Tempel geheiratet habe und sich dafür als Mann und Frau ausgab. Obwohl ihr Fall zu einem großem Aufschrei führte und ihre Familien sie bei der Polizei anzeigten, gab es keine rechtlichen Folgen. Zum einen ist nicht klar, ob die Section 377 überhaupt auf lesbischen Sex anwendbar ist, da die Penetration das wesentliche Kriterium für die Straftat ist, zum anderen zielt dieses Gesetz explizit auf den Geschlechtsakt und nicht auf die sexuelle Orientierung ab. So hat die Polizei im Falle des Amritsar Couples betont, dass Erwachsene selber entscheiden können, mit wem sie zusammen leben.

... heimlich im Privaten

Rechtlich stimmt dies, gesellschaftlich kaum. Viele Frauenpaare sehen daher keinen anderen Ausweg als sich umzubringen, häufig gemeinsam. Auch diese Berichte gehen immer wieder durch die Medien. Besonders hoch ist die Zahl der veröffentlichten lesbischen Selbstmorde im südindischen Bundesstaat Kerala, in dem die Selbstmordrate generell sehr hoch ist. Aus einem Forschungsprojekt über diese Suizide entwickelte sich die Selbsthilfeorganisation Sahayatrika. Sie bietet jenseits der Metropolen eine Anlaufstelle für lesbische Frauen, organisiert Treffen und Veranstaltungen. Die Gründerin ist im westlichen Ausland aufgewachsen und hatte sich bereits dort zu Frauenrechtsfragen engagiert. Obwohl sie seit Jahren die Organisation leitet und in ganz Indien auch bei Veranstaltungen auftritt, bleibt ihr Name in der Öffentlichkeit ungenannt. Fotografieren lässt sie sich wie die meisten anderen Aktivistinnen sowieso nicht. In der Bewegung sind sie geoutet, in ihrem Privatleben häufig nicht.

Das wohl bekannteste Lesbenpaar Keralas, Nandu und Sheela, hat diese Option nicht. Ihre Geschichte wurde indienweit in allen Einzelheiten ausgebreitet. Diese vollständige Öffentlichkeit war zugleich der einzige Weg für sie, da es vorher verleumderische Presseberichte über sie gab und Sheelas Vater mit allen Mitteln versuchte, sie zu trennen. Nach den ersten großen Presseberichten gingen sie für einige Monate in eine andere Stadt, jetzt sind sie wieder in Keralas Hauptstadt Trivandrum und leiten dort die Notunterkunft Sneehapuram. In ihr können zwei weitere Paare wohnen, bis sie sich ein eigenes, unabhängiges Leben aufgebaut haben. Nandu und Sheela leben nicht nur viele Tausend Kilometer von den Metropolen entfernt, auch ihr pragmatischer Ansatz ist ein anderer. Sie kommen aus der unteren Mittelschicht, können kaum Englisch, waren noch nie in Berührung mit feministischen und queeren Theorien. Bisher können sie mit ihnen auch noch nichts anfangen. Für sie ist es normal, dass in einer Beziehung eine der "Mann" ist und die andere die "Frau".

Für viele Feministinnen ist dies ein rotes Tuch, da sie in solchen butch-femme-Beziehungen die Reproduktion von partriarchalen Beziehungen sehen. Die meisten verstehen aber auch, dass es für viele Frauen im ländlichen Raum gar keine anderen Denkmuster gibt als die heterosexuellen. Organisationen wie PRISM wissen, dass die Arbeit auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden muss. Eine Organisation wie Sahayatrika, die außerhalb der Metropolen betroffenen Frauen einen Rückhalt bietet und Öffentlichkeitsarbeit leistet, ist unerlässlich für den Kampf für Gleichberechtigung in Indien, denn der größte Teil der indischen Bevölkerung lebt nach wie vor in den ländlichen Regionen und den Städten jenseits der Metropolen. Die Arbeit der queeren AktivistInnen ist hier aber noch viel schwieriger als in den Metropolen. Es gibt weniger Rückzugsräume, weniger Gleichgesinnte und eine noch stärkere Durchsetzung der Normen. Die AktivistInnen in Delhi und Mumbai haben ein mehrfach privilegiertes Leben und sind sich dessen auch bewusst. Sie haben die Möglichkeit, sich grundsätzliche, konzeptionelle und theoretische Gedanken zu machen und Diskurse zu gestalten.

Quelle: Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: Blätter des iz3w, Oktober 2005, S. 35-37.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Queer South Asia .

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.