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23. Januar 2006. Analysen: Kunst & Kultur - Indien Trägerhemd – oder nicht?

Traditionen und die Rechte Andersdenkender

Mumbai, Dezember 2004. Es ist warm, um nicht zu sagen heiß. Meine Cousine, die wie ich durchgefroren aus Berlin gekommen ist, möchte sich ein Trägerhemd anziehen. Ich finde das keine besonders gute Idee. Wir sind schließlich in Indien, hier gelten andere Normen als zu hause. Als Touristinnen sollten wir uns anpassen, die Inder und Inderinnen nicht unnötig irritieren, provozieren, beleidigen. Schließlich gelten hier andere Vorstellungen über die Kleidung von Frauen, und das sollten wir auch während unseres Urlaubs würdigen. Meine Cousine lässt sich, obwohl sie gar nicht so viel anderes zum Anziehen dabei hat, von mir überzeugen. Wir wahren die indische Tradition so weit wir das können.

Je länger wir in Indien sind, je mehr Interviews ich führe, desto mehr fange ich aber an mich zu fragen, welche Werte ich denn da konserviere, für was ich da einstehe und ob das wirklich eindeutig richtig ist. Die selbstbewussten Frauen, die ich interviewe, erzählen mir immer wieder, dass sie dumm angemacht werden, weil sie kurze Haare haben, weil sie Trägerhemden tragen, weil sie rauchen. Es sind indische Frauen, die so gegen die heteronormativen, patriarchalischen Normen verstoßen, die nicht dem gängigen Frauenbild entsprechen. Sie sind wütend, dass sie nicht so sein dürfen, wie sie wollen, dass man versucht, sie in enge Konventionen und Normen im Namen der Tradition zu pressen.

Sophia wird bei einer Veranstaltung in Delhi von einem Malayalee angefahren, dass eine Frau aus Kerala sich nicht die Haare abschneidet. Als Ponni mit Freunden in einem Cafe in Chennai sitzt, fragen Passanten einen der Freunde, ob sie ein Mann oder eine Frau sei. Nandu erzählt, dass es für eine Frau in Männerkleidung fast unmöglich ist, einen Arbeitsplatz in Trivandrum zu finden. - Bei Nandu brauche auch ich erst ein paar Augenblicke bis ich merke, dass nicht ein junger Mann sondern eine junge Frau vor mir steht.

Ich treffe Sophia, Ponni und Nandu auf meiner Recherchereise zu Lesben in Indien. Sie alle engagieren sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten. Der Begriff Lesbe wird nur selten benutzt. Er ist negativ besetzt, es gibt keine entsprechenden Begriffe in den indischen Sprachen, er legt eine Identität fest. Daher wird in der Öffentlichkeitsarbeit häufig mit "women attracted to women" und "same sex desiring women" gearbeitet. Das sind offenere Bezeichnungen, die nur auf das Verlangen nicht auf eine fest geschriebene Identität ausgerichtet sind. Damit werden weniger Vorurteile verbunden, mehr Frauen fühlen sich angesprochen. Mehrere der engagierten Aktivistinnen benutzen für sich selbst die Bezeichnung Dykes. Diesen amerikanischen Begriff können sie für sich positiv füllen. Am übergreifendsten ist allerdings der Begriff Queer. Im indischen Kontext umfasst er alle, die sich nicht der gesellschaftlich normierten Sexualität unterwerfen, und ihre eigene Sexualität immer wieder hinterfragen. Neben Hijras, Kothis, Schwulen, Lesben, etc. gehören hierzu auch Hetereosexuelle, die sich nicht der Norm von Heirat und Familiengründung unterwerfen wollen. Auch sie sind aktive MitstreiterInnen der Queeren Bewegung. Sie fordern für sich wie für die andere selbstbestimmte Sexualität. Sie streiten dafür, dass einverständlicher Sex unter Erwachsenen rechtlich und gesellschaftlich anerkannt wird. Dabei haben sie allerdings noch einen langen Weg vor sich. Zur Zeit gilt noch immer die aus britischer Kolonialzeit stammende Section 377 des Indian Penal Code, die unnatürlichen Sex unter Strafe stellt. Zwar wird durch sie Homosexualität als solche nicht kriminalisiert, sie wird aber immer wieder zur Einschüchterung und Verfolgung Homosexueller genutzt.

Die Frauen, die ich treffe, sind überwiegend linke, säkulare, feministische Aktivistinnen aus der Mittelklasse, mit guter englischer Universitätsausbildung. Viele haben gute Kontakte zum Ausland und sind schon gereist. In ihren Diskursen nehmen sie Bezug auf Diskurse in der westlichen Welt. Sie entwickeln deren Theorie zu Feminismus und Queer Studies weiter, beziehen sie auf Indien, adaptieren sie. Sind die queeren Aktivistinnen deshalb modern, losgelöst von den Traditionen? Tragen sie zur Verwestlichung und Amerikanisierung der Gesellschaft bei? Verraten sie traditionelle Werte? Die Antworten auf diese Fragen hängen stark vom eigenen Standpunkt ab. Die Aktivistinnen kämpfen für eine andere Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft, sie wollen Sexualität aus dem Tabu heraus holen. Sie sind gleichzeitig auch überzeugte Gegnerinnen des Hindu-Nationalismus, aller Formen von Diskriminierungen und patriarchalen Strukturen. Sie wollen die Gesellschaft verändern. Sie streiten aber auch gegen die wirtschaftliche Globalisierung, die Amerikanisierung der Konsumwelt, die Macht der multinationalen Konzerne. Sie setzten sich ein für Adivasis, Dalits und andere marginalisierte Gruppen Indiens. Sie setzen sich für den Erhalt von Volkswissen und – kunst ein. Sind sie also doch keine Modernistinnen, sondern Bewahrerinnen von Traditionen?

In der queeren Bewegung Indiens gibt es auch andere. Nicht alle sind feministisch, nicht alle säkular, nicht alle links. Die meisten Frauen, die Frauen lieben in Indien sind wohl ebenso unpolitisch wie die meisten Menschen. Sie wollen einfach nur ihre Liebe leben und diese gesellschaftlich anerkannt haben. Nandu, zum Beispiel, wäre nie zu einer queeren Aktivistin geworden, wäre sie nicht dazu gezwungen worden. Nachdem ihre Beziehung zu ihrer Freundin durch die Lokalpresse gezogen wurde, hatte sie nur die Wahl Selbstmord oder Offensive. Durch die Unterstützung einer NGO konnte sie letztere wählen. Für einige Monate musste sie Trivandrum verlassen, doch jetzt kann sie dort wieder mit ihrer Freundin leben, mit ihr auf dem Scooter durch die Stadt fahren und eine Notunterkunft für Frauenpaare führen. Politisch ist sie bisher nicht, meine feministischen Fragen sind nicht ihre. Aber sie setzt sich ein für ihre Rechte und die Rechte anderer Marginalisierter. Andere Aktivistinnen sind politisch, aber nicht im säkularen, linken Feminismus verwurzelt. Einige suchen nach homosexueller Präsenz im alten Indien und argumentieren, dass Homophobie erst durch die muslimischen Einwanderer nach Indien gebracht wurde. Sie können so Islamophobie mit queerem Engagement vereinbaren. Sie argumentieren mit Traditionen, die wieder zu entdecken sind.

Die säkularen Frauen, die ich interviewt habe, haben mit dem unpolitischen sowie mit dem hindu-zentrierten Ansatz Schwierigkeiten. Sie argumentieren, dass Homophobie strukturell verankert ist, und daher auch dort bekämpft werden muss. Es reicht ihrer Meinung nach nicht, Anlaufstellen für Lesben zu bieten. Sie wissen aber sehr wohl, dass sie notwendig sind. Sie sind begeistert, dass sich Frauen wie Nandu fernab der Metropolen und ihrer Szenen engagieren. Mit dem Verweis auf das alte Indien haben die feministischen, säkularen, linken Aktivistinnen mehr Schwierigkeiten. Wenn ihnen vorgeworfen wird, dass Homosexualität ein westlicher Import ist, dann verweisen sie zwar auf die Bücher, die homosexuelle Präsenz im alten Indien belegen. Aber ganz wohl ist ihnen dabei nicht. Ihnen ist nicht wichtig, dass es etwas schon immer gab. Eine sagt zu mir, dann müssten sie auch Sati gut heißen. Unabhängig davon was früher war, fordern sie gleiche Rechte und Selbstbestimmung für alle heute. Für sie stehen die Bewahrung von indischen Traditionen und die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht im grundsätzlichen Widerspruch. Dort wo es Widersprüche gibt, würden sie gegen die heteronormativen, patriarchalen Gruppenrechte für diejenigen der Marginalisierten eintreten. Sie nutzen westliche Diskurse, verorten sich aber klar in Indien - ihrem Land, für das sie streiten.

Bei Diskussionen über die kulturelle Vielfalt Indiens und deren Erhaltung bekomme ich immer wieder den Eindruck, dass alles so konserviert werden soll, wie es angeblich vor der britischen Kolonialisierung gewesen sei. Alles andere scheint, als gefährliche Verwestlichung abgetan zu werden. Damit habe ich so meine Probleme. Nicht nur weil ich generell glaube, dass Gesellschaften dynamisch sind und sich laufend verändern, also der Rückgriff auf irgendeine konstruierte Tradition eher fragwürdig ist. Sondern auch, weil dieses Konservieren von Gruppen, auch deren jeweilige Ausgrenzungs- und Anpassungsmechanismen konserviert. Darunter leiden alle die von der Norm abweichen, wie zum Beispiel Homosexuelle. Ihnen wird in einer solchen Argumentation das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben abgesprochen.

Ich habe dazu gelernt: in Zukunft werde ich meiner Cousine nicht mehr vom Trägerhemd abraten. Wenn so viele indische Frauen dafür kämpfen, es tragen zu dürfen, dann sollten wir als Touristinnen nicht ausgrenzende Traditionen bewahren. Ich werde meiner Cousine aber sagen, dass sie mit dem Trägerhemd die Norm bricht und daher mit möglichem Ärger rechnen muss.

Quelle: Dieser Artikel wurde geschrieben für die Zeitschrift Südasien.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Queer South Asia .

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