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26. Dezember 2002. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Die Sanghams von Telengana

Aufbruch aus der Armut: Fraueninitiativen in einer legendären südindischen Region

Bis 2015 soll die Armut auf Erden halbiert werden, versicherten die Mächtigen auf dem Millenniumsgipfel von New York. Doch der Weg aus der Armut ist beschwerlich – gerade auch in Indien, wo die meisten Armen der Welt leben. Sind es 300 Millionen oder eine halbe Milliarde? In Pastapur, einem der über 550 000 Dörfer des Landes von Mahatma Gandhi, weiß das niemand so genau. Was hätte er auch davon.

Hyderabad mit seinem einzigartigen Char-Minar-Tor und den Palästen der Nizams liegt hinter uns. In halsbrecherischer Fahrt kurvt der Kleinbus zwischen Hunderten buntbemalter Lkw auf der Bombay-Magistrale gen Nordwesten. Sanft erklimmt die nur einspurige Piste das Deccan-Plateau, dessen granitene Kuppen herübergrüßen. Bald erreichen wir Telengana, eine der bekanntesten Landschaften des indischen Südens. Die Böden sind auffällig rot, in Jahrtausenden von Eisenoxyd getränkt. Alle größeren Flüsse sind weitab – spröde und staubig ist das Land. Und in diesem Dezember ist es weit trockener als gewöhnlich.

Pastapur, das vor der Stadt Zaheerabad abseits der Magistrale liegt, gleicht Armuts-Indien in einer Nussschale. Moschee und muslimischer Friedhof am Ortseingang, ein christliches Kirchlein und Hinduschreine illustrieren, dass hier verschiedene communities (religiöse Gemeinschaften) auf engem Raum zusammenleben. Die weitaus meisten von ihnen, zumal die Dalits, die Kastenlosen, deren Eltern oder Großeltern irgendwann zum Christentum konvertierten, um höllischer Diskriminierung zu entgehen, sind bitterarm.

Kunterbuntes Denkmal für Dr. Ambedkar

Von der Asphaltpiste in den roten Staub der legendären Landschaft Telengana: Unter mächtigen, auch mitten im indischen Winter grünen Banyan-Bäumen und Tamarinden, eine Gruppe für ein indisches Dorf eher ungewöhnlicher Bauten mit kleinen Galerien und künstlerischen Darstellungen: das Domizil der Deccan Development Society, eine der unzähligen Nichtregierungsorganisationen, die den Armen Indien Gutes tun wollen. Unmittelbar vor dem Eingang Alltagsleben, wie es im Buche steht: Drei Frauen und ein Mann formen aus undefinierbarem lehmartigem Etwas handliche Klumpen, die die Frauen in breiten Schalen auf dem Kopf zu einem Zaun tragen, hinter dem eine Dalit-Familie einen einfachen Stall für ihren einzigen Büffel baut.

Wie so oft in Indien hat auch die Deccan Entwicklungsgesellschaft ihren Guru – Periyapatna Venkatasubbian Satheesh, der vor über 20 Jahren hierher kam und eine der erfolgreichsten und zugleich vielseitigsten Organisationen ihrer Art auf die Beine stellte. "Die Sanghams, unsere dörflichen Frauenvereinigungen", sagt er, "sind der Kern unseres Konzepts". Sangham sei ein buddhistisches Wort, das den Weg beschreibe: Gehe zu Gott, um dich selbst zu finden. Wobei – in Pastapur und Umgebung sei Gott nicht einer bestimmten Religion zugehörig, Gott sei überall, wo sich Menschen zusammenfinden, die im Einklang mit der Natur, den Pflanzen, dem Boden leben wollen.

Das klingt alles auch ein wenig nach animistischen, naturreligiösen Vorstellungen, die offenbar nicht nur in den Bergwäldern der nördlichen Telengana lebendig sind. Jedenfalls, und darauf legt Satheesh großen Wert, seien die 75 Dorf-Sanghams mit über 5.000 Frauen nicht allein auf erfolgreichen Landbau auf Trockenböden aus, auf Saatgut-Management oder andere materielle Dinge. Hier gehe es nicht um enge Umwelt- oder wissenschaftliche Gesichtspunkte, sondern im weitesten Sinne um Kultur und Identität, um selbstbestimmtes Leben.

Raipali, eines der Nachbardörfer Pastapurs, sendet mit seinem bunten Ambedkar-Denkmal am Eingang die unübersehbare Botschaft aus: Hier wohnen viele, viele Dalits. Der aus einer Dalit-Familie stammende Jurist Dr. Ambedkar, einer der Führer der antikolonialen Freiheitsbewegung des Subkontinents, wird als einer der Väter der indischen Verfassung geradezu wie ein Heiliger von seinen Leidensgenossinnen und -genossen verehrt.

Mindestens 150 der insgesamt 300 Familien des Ortes gelten als arm, haben sehr wenig oder sehr schlechtes Land, erfahren wir. Doch bei dieser Feststellung blieben die 60 Sangham-Frauen von Raipali nicht stehen. Sie haben jedes einzelne Haus bewertet, um herauszufinden, wie der Sangham am besten helfen kann, um der Armut zu entrinnen.

Die etwa 40-jährige Dalit-Frau Manemma, die mit ihrem Mann einen Acre Land (0,42 Hektar) sowie zwei Ochsen, einen Büffel, eine Ziege und zwei Hühner besitzt, hat sich als Saatgut-Expertin einen Namen gemacht. Sie verwaltet die Samen-Bank des Sanghams – nicht weniger als 52 Sorten, die meisten von ihnen waren in Zeiten der "grünen Revolution", der offiziösen Orientierung auf Hochertrags-Saaten, die viel Wasser und Dünger brauchen, schon beinahe vergessen worden. Viele von ihnen sind Sorghum (Hirse)-Saaten. Damit bestellen die Sangham-Frauen über ihre eigenen Mini-Flächen hinaus ein gut 25 Hektar großes Landstück, das sie – dank eines Initialbeitrages der allgegenwärtigen Deccan Society – von reicheren Bauern der Umgebung pachten konnten.

Das neue Land musste freilich erst richtig urbar gemacht, die Bodenfruchtbarkeit mühsam verbessert werden. Zugleich gingen die Frauen daran, ein Netz von Wasserauffanggräben- und -becken anzulegen, um den sintflutartig herabstürzenden Monsunregen eine Weile aufzuhalten und so den Grundwasserspiegel zu erhöhen. Der Effekt: 80 Prozent bessere Erträge ringsum. Insgesamt, so lässt Sateesh nebenbei wissen, produzieren die Frauen der 75 Sanghams heute mit drei Millionen Kilo Getreide sechsmal mehr als vorher.

Frauen-Stärken auf einem Trockenfeld

Oben, in den rostroten Hügeln über dem Dorf demonstrieren die selbstbewussten Frauen von Raipali unter der bis zu 30 Grad warmen Wintersonne auf einem nicht bewässerten Trockenfeld ihre Stärken: Aydhala, von viel kleinerem Wuchs als ihre Sangham-Mitstreiterinnen, hat hier auf einem halbem Hektar gleichsam ein großes Samen-Labor angelegt. Inmitten der verschiedensten Halme, Ölsaaten und hibiskusähnlichen, rot blühenden Pflanzen prasselt ein Wunderhorn von Saatgut-Namen in der einheimischen Telugu-Sprache und im Englischen auf uns nieder. Nicht weniger als 20 verschiedene Sorten bringt Aydhala hier in ausgeklügelten Fruchtfolgen zum Reifen – ein erstaunliche schöpferische Leistung.

Die jährliche Pacht an die Landlords zahlen die Frauen von Raipali in Form von Saatgut, die Überschüsse speisen sie in ein alternatives Vermarktungssystem ein, das dem wenig effektiven staatlichen Public Distribution System ernsthaft Konkurrenz macht. Neuerdings können sie ihre Überschüsse auch direkt in der Verkaufsstelle einer alternativen Konsumenten-Aktionsgruppe im nahen Zaheerabad vermarkten. Ihr Vorzug: Garantiert biologischer Anbau, denn es gehört zur Philosophie der Deccan Society, keinerlei künstlichen Dünger und keine Hybrid- oder gar gentechnisch veränderte Saaten zu verwenden. Ebenso wie in Deutschland wird dafür ein kleiner Aufschlag erhoben. Jedenfalls – das Sangham hat bereits 28.000 Rupies auf diese Weise erwirtschaftet. Langsam erhöht sich das Einkommen der Familien von Raipali, aber selbst die kundige und tatkräftige Manemma rechnet sich weiter zu den Armen des Ortes – der Weg aus der Armut ist lang.

Geschafft hat es indes die 45-jährige Anjamma, die weithin bekannteste Saatgut-Züchterin. Die Samenbank der Frau, die in ihrem Leben keine Gelegenheit hatte, lesen und schreiben zu lernen, verfügt sogar über 60 Arten, die sie stolz auf der Veranda ihres Hauses in kleinen Tontöpfen präsentiert. Als sie vor 30 Jahren in dieses Haus heiratete, war die Dalit-Frau buchstäblich arm wie eine Kirchenmaus. Ihr Mann war gar zu bounded labour verpflichtet, einer etwas milderen Form von Sklavenarbeit. Auch sie musste sich immer wieder zu Feld- und Straßenbauarbeiten verdingen, damit die größere werdende Familie überleben konnte. Mit der Aufzucht von Ziegen verdiente sie einige tausend Rupies, mit der sie mehrere Acres unwirtliches Land kaufte, mit ihrem Mann nach und nach urbar machte und z.B. mit der Rinde des Wunderbaumes Neem düngte.

Das Neuland bestellte sie dank ihrer zum Teil im Mutterhaus ererbten intimen Kenntnisse über die Getreide- und Ölsamen der Region stets mit den Erfolg versprechendsten Saaten. Diese wiederum leiht sie sowohl an ihre Sangham-Kolleginnen als auch an wohlhabendere Bauern aus – für ein Kilo erhält sie nach der Ernte jeweils 1,5 Kilo zurück. "Vor 30 Jahren", resümiert sie, "war ich sehr arm. Aber nun hat sich mein Leben sehr verändert. Mein Haus ist wohl bestellt für meine Kinder und Enkel. Früher hatte ich meist nur einmal am Tag zu essen, heute kann ich mir jeden Tag drei Mahlzeiten leisten".

Das Umfeld für tausendfachen Aufbruch aus der Armut dieser Telengana-Dörfer ist freilich denkbar günstig. Die Deccan Development Society hat nicht nur die Bildung der Sanghams gefördert, sondern auch eine Paacha Saale, eine Grüne Schule gegründet. In den aus dem roten Naturbaustein der Gegend geformten Rundbauten werden die Kinder deutlich anders als in den regulären Schulen auf das Leben vorbereitet, sie lernen die Natur verstehen und machen sich mit den überlieferten Liedern und Tänzen ihrer Dörfer vertraut.

Doch das ist noch nicht alles. Da die Armen der Telengana in den Medien so gut wie gar nicht vorkommen, hat die Entwicklungsgesellschaft schon vor einigen Jahren ein hoch interessantes Experiment gestartet: Die Produktion eigener Medienprogramme. Die Akteure sind junge Frauen, die – meist selbst Analphabetinnen – für ihre Nachbarinnen Videos und Hörfunkprogramme gestalten. Auf jeder zweiten Zusammenkunft der Sanghams, den wöchentlichen Beratungen der Frauen über den Fortgang ihrer Angelegenheiten, werden solche Videos vorgeführt – etwa über die bestmögliche Anlage von Wasserauffangbecken oder über das alljährliche Festival of Biodiversity (Fest der Artenvielfalt). Darüber hinaus unterhält die Society eine kleine Rundfunkstation, darf aber derzeit wegen uralter Gesetze aus britischer Kolonialzeit noch nicht regelmäßig auf Sendung gehen.

Aufstand für eine riesige Kommune

Pastapur und die Deccan-Entwicklungsgesellschaft – eine späte Antwort auf den legendären Telengana-Aufstand der späten vierziger Jahre? Sateesh lächelt, verweist auf seinen völlig anderen Ansatz. Aber irgendwie scheint es doch einen inneren Zusammenhang zu geben. 1945/46 hatte sich in Telengana, damals eine der ärmsten und am meisten von Grundbesitzern ausgepowerten Region Indiens, eine militante Bauernbewegung formiert. Zum einen betrieb sie den Sturz des Nizam von Hyderabad und die Bildung eines Unionsstaates auf linguistischer Grundlage – der alten Kultursprache Telugu. Zum anderen schuf sie auf einem Territorium von rund 10.000 Quadratkilometer mit 3.000 Dörfern und etwa drei Millionen Einwohnern eine Art ländliche Pariser Kommune. Unter der Führung einheimischer Kommunisten, so berichtet der legendäre KP-Führer E.M.S. Namboodiripad in seiner "Geschichte des indischen Freiheitskampfes", requirierten Volksorganisationen rund eine Million Acres von den Gutsbesitzern und verteilten sie unter den Armen. Fünf Jahre lang, bis 1950/51, hielten die anfangs auch von den bürgerlichen Demokraten unterstützten Bauernmilizen den Angreifern stand.

Ähnliche drastische Veränderungen der Verhältnisse hatten wohl auch die Naxaliten im Sinn, eine in den 70er Jahren ebenfalls im Zeichen von Hammer und Sichel entstandene militante Bewegung in der Region. Doch nach anfänglichem Widerhall in großen Teilen der armen Bevölkerung haben die in verschiedene Fraktionen aufgespaltenen Naxaliten längst nicht mehr den Ruf von edlen Robin Hoods. Spätestens mit der Sprengung eines Busses und dem Angriff auf eine Bahnstation im Norden Andhra Pradeshs im November haben sie fast allen Kredit verspielt.

In dem Distrikt, in dem Pastapur liegt, hat es in den letzten Jahren keine größeren naxalitischen Angriffe gegeben, versichert uns Landrat Premacherandra Reddy in einer Audienz in seinem Amtssitz in der Distrikthauptstadt Sangareddy. Das hat vielleicht auch etwas mit Guru Satheesh und den 5.000 Frauen um Manemma und Anjamma zu tun, die einen anderen, unspektakulären Weg aus der Armut gehen.

Quelle: Dieser Artikel erschien am 24. Dezember 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland"

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