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28. Februar 2003. Analysen: Politik & Recht - Indien Reise-Reportage aus Assam

Mutter Indiens aufständische Kinder am Brahmaputra

Seit einem halben Jahrhundert zerreißen Kriege den indischen Nordosten – grausame Konflikte mit tausenden Toten, von denen die Welt kaum etwas weiß. Auch im Unionsstaat Assam ist der Friede noch nicht vollends eingekehrt.

Langsam schiebt sich der Zug in den Bahnhof. Mehr als dreißig Stunden Fahrt von Delhi quer durch die Ebenen Nordindiens liegen hinter. Wir sind in Guwahati, der größten Stadt des indischen Nordostens, angekommen. Der gewaltigen Brahmaputra, der sich 725 Kilometer durch das fruchtbare Assamtal wälzt, die sanften Hügelketten im Süden und Osten, die Ausläufer des Himalaja im Norden prägen die Landschaft dieser Region. "Land der Goldenen Gärten" nannten es die Ahom, deren Dynastie das alte Assam 600 Jahre lang einte. Eingeklemmt zwischen Bhutan, China, Myanmar und Bangladesch war es immer Schmelztiegel der Kulturen, Ethnien und Religionen, eine Brücke zwischen Südostasien und indischem Subkontinent.

Doch vom einstigen Paradies ist nicht viel geblieben. Seit einem halben Jahrhundert zerreißen Dutzende Kleinkriege den Nordosten. Mehr als 30 Rebellengruppen kämpfen hier, selten mit-, meist gegeneinander, aber immer gegen die Zentralregierung in Delhi.

Nach Ende der Kolonialzeit entstanden nach und nach sieben Unionsstaaten – Assam, Meghalaya, Tripura, Mizoram, Manipur, Nagaland und Arunchal Pradesh. Liebevoll werden sie die "Sieben Schwestern" genannt. Doch "Mutter Indien", so sagen viele, vernachlässige und bevormunde ihre Töchter fernab der politischen und wirtschaftlichen Zentren des Landes. Schon 1947, im Jahr der Unabhängigkeit, griffen in den Naga-Bergen die ersten Gruppen zu den Waffen, um sich gegen die neuen "Besatzer" zu wehren. Mit der Teilung Britisch-Indiens setzen zudem nicht gekannte Bevölkerungsbewegungen ein. Aus Ostpakistan strömten 1,5 Millionen Menschen ins Land. Während des Bangladesch-Krieges 1971 kamen Hunderttausende hinzu. Das soziale Gleichgewicht der Region geriet ins Wanken.

Ende der 70er Jahre radikalisierte sich in Assam eine Studentenbewegung, die einen Stopp der Einwanderung und die Ausweisung aller Flüchtlinge forderte. Die Vereinigte Befreiungsfront von Assam (ULFA) wurde gegründet. Sie warf der indischen Regierung vor, Assams natürliche Ressourcen – vor allem Erdöl und Tee – auszubeuten, die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Region jedoch zu vernachlässigen. Mit Waffengewalt sollte ein "unabhängiges und sozialistisches Assam" geschaffen werden. Schnell wurde die ULFA zu einer der mächtigsten Rebellengruppen im Nordosten. Bis Ende der 80er Jahre war sie in unzählige Morde und Entführungen verwickelt. Zudem etablierte sie in ländlichen Regionen soziale Hilfsprogramme, was ihr den Rückhalt in der Bevölkerung sicherte. Auch Teile von Polizei und Bürokratie wurden unterwandert, Parallelverwaltungen entstanden.

Anfang der 90er Jahre schlug der indische Staat zurück. Großoffensiven mit über 30.000 Soldaten ließen den ULFA-Kadern keine Chance. Doch die Operationen waren von massiven Menschenrechtsverletzungen begleitet, denn Armee und Paramilitärs nahmen keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Vergewaltigung, Verschleppung und Mord waren an der Tagesordnung. Hunderte Frauen und Männer gelten noch immer als vermisst, auch Menschenrechtsaktivisten und Journalisten sind darunter.

"Heute ist die ULFA keine bedeutende Kraft mehr", sagt Rajesh Das, Redakteur der Tageszeitung "Times of India". Zwar sei sie noch immer aktiv, aber dezimiert und zerfressen von inneren Querelen. Doch aufgrund der schlechten Wirtschaftslage hätten Rebellengruppen weiterhin Zulauf, vor allem in Nagaland und Manipur. Statistiken, so ergänzt er, würden belegen, dass ein Großteil der Rekruten aus armen Verhältnisse stamme. Denen müsse man nur Arbeit geben, und das Problem hätte sich erledigt. Und die Ideologie? "Jede Bewegung startet mit einer Ideologie", erklärt Das lakonisch. Aber nach einer gewissen Zeit gehe die eben verloren.

Eine einfache Erklärung. Zu einfach, doch der Mittvierziger erzählt lieber von den Veränderungen in Guwahati, der Aufbruchstimmung, den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Und tatsächlich, in Guwahati, der assamesischen Metropole, pulsiert das Leben. Riesige Reklametafeln werben für Mobiltelefone und Direktflüge ins thailändische Bangkok. Unternehmen entdecken das Potential der Region und beginnen sich anzusiedeln. "Allmählich realisieren die Leute, dass der Krieg niemandem weiterhilft", sagt Das.

Doch diese Ansicht hat sich noch nicht in allen Teilen Assams durchgesetzt, wie wir auf dem Weg nach Bongaigaon erleben, einer Kleinstadt fünf Autostunden westlich von Guwahati. In dieser Region kämpfen seit Ende der 80er Jahre Angehörige des Volkes der Bodo für ein unabhängiges "Bodoland". Sie fühlen sich von den Assamesen unterdrückt. Und auch sie verlangen ein Ende des Stroms von Zuwanderern. Seit Beginn der 90er Jahre verloren allein in diesem Konflikt mehr als 1.500 Menschen ihr Leben.

Südlich des Brahmaputra fahren wir durch Bodo-Territorium. Auf der Straße sind nur wenige Autos unterwegs. Aus dem Radio dudelt indischer Pop und Maina Basumatary, unser Fahrer, schwärmt von den Schönheiten der Landschaft. Nach einer Stunde haben wir fast vergessen, dass die Reise durch unsicheres Gebiet führt. "Wenn wir angehalten werden", sagt Basumatary plötzlich, "erzählen sie den Soldaten einfach, dass das ihr Wagen ist." Und während der junge Mann im Rückspiegel noch unsere fragenden Gesichter beobachtet, ergänzt er: "Bei Privatautos lassen die manchmal mit sich reden." Es ist nicht selten, dass indisches Militär Fahrzeuge für Einsätze gegen Rebellen beschlagnahmt. Die Besitzer bekommen sie nach ein paar Wochen zurück, nur funktionieren sie dann meist nicht mehr. Doch an den vier Kontrollpunkten, die wir passieren, wird an diesem Tag kein zusätzlicher Einsatzwagen benötigt.

Je näher wir Bongaigaon kommen, desto öfter sehen wir in den Dörfern die Wandbilder der Rebellengruppen. "Verhandlungen mit der BLT sind die Lösung des Bodo-Problems" steht da geschrieben. Die Bodo Befreiungstiger (BLT) sind eine der beiden großen Organisationen in der Region. Sie hatten sich 1996 von der Nationaldemokratischen Front von Bodoland (NDFB) abgespalten, um in den folgenden vier Jahre allein für die Unabhängigkeit ihres Territoriums zu kämpfen. Im März 2000 vereinbarten die Tiger einen Waffenstillstand mit der Landesregierung. Wenig später begannen erste Gespräche. Doch während BLT-Funktionäre schon an den Verhandlungstischen saßen, setzten die NDFB-Kader ihre Aktionen fort. Erst im Oktober griffen sie ein Dorf Nahe der indisch-bhutanesischen Grenze an und töteten 21 Einwanderer aus Nepal und Bihar. Wenige Tage später erschossen sie vier BLT-Mitglieder.

Als Rückzugsgebiet dienen den Rebellen die schwer zugänglichen Wälder im benachbarten Bhutan. Und obwohl sich das Himalaja-Königreich verpflichtet hat, gegen die Gruppen vorzugehen, bleibt die 699 Kilometer lange Grenze porös. Indien wird daher nicht müde, das kleine Nachbarland für seine mangelnden Bemühungen im Kampf gegen den "grenzüberschreitenden Terrorismus" zu geißeln. Auch Bangladesch sieht sich mit derartigen Vorwürfen konfrontiert. Dort soll es über 100 Lager geben.

Bei Goalpara überqueren wir den Brahmaputra. Ein gigantische Brücke überspannt den Fluss, der an dieser Stelle mehrere hundert Meter breit ist. Wenig später erreichen wir Bongaigaon. Die Kleinstadt, Standort einer der größten Erdölraffinerien des Landes, wirkt verlassen. Auch die Stimmung scheint hier weniger optimistisch als in Guwahati. Bongaigaon liegt mitten im Operationsgebiet der Bodo-Rebellen und ist immer wieder Schauplatz von Bombenanschlägen. "Der Krieg hat die Menschen müde gemacht", sagt Gayatri Devi. Zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, lebt die vierfache Mutter in einer schwer bewachten Wohnanlage der Raffinerie. "Vor zehn Jahren sind wir hierher gezogen", sagt sie traurig, "denn außerhalb des Komplexes war das Leben zu gefährlich geworden." Die drei Töchter sind weggezogen. Auch den jüngsten Sohn haben die Eltern zum Studieren nach Südindien geschickt. "Gern hätten wir ihn hier behalten, aber die junge Männer geraten schnell zwischen die Fronten." Später wird sie von der brutalen Ermordung ihres Neffen erzählen.

"Als die Kinder klein waren, sind wir mit ihnen immer zum Picknick in die Berge gefahren", erinnert sich Devi. Aber heute müsse man vor allem im Grenzgebiet Angst um sein Leben haben. Auch die großen religiösen Feste, die Hindus, Muslime und Christen früher gemeinsam feierten, gehören der Vergangenheit an. Nach Jahren gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten sich auch Freunde voneinander entfernt, sagt Devi.

Doch seit Anfang Februar gibt es für das "Bodoland" neue Hoffnung. Die Befreiungstiger haben die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit fallen gelassen und ein Abkommen mit der indischen Regierung unterzeichnet. Es sichert über 3000 Dörfern mit Bodo Bevölkerungsmehrheit die Autonomie zu. Auch die NDFB scheint das Abkommen nicht vollständig abzulehnen. Assams Chiefminister Tarun Gogoi nannte den Vertrag ein Geschenk, denn 1,6 Millionen Bodos könnten nun unter eigener Verwaltung leben, ohne sich vom Unionsstaat lösen zu müssen. Doch die Ängste bleiben. "Wir sind keine Bodos", sagt Gayatri Devi. "Was wird mit uns passieren?" Noch gibt es auf diese Frage keine Antwort.

Ein paar Tage später warten wir am Bahnhof von Bongaigaon auf den Express nach Delhi. Ein Militärzug steht auf dem Nebengleis. Die junge Soldaten, die den zerbrechlichen Nordosten zusammenhalten müssen, wirken müde. Woher sie kommen, wollen wir wissen. "Kaschmir", sagt einer, aber das ist eine andere Geschichte.

Quelle: Die Reportage erschien in leicht gekürzter Fassung am 28. Februar 2003 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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