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22. Juli 2001. Analysen: Politik & Recht - Indien George Fernandes

Ein Kurzporträt des ehemaligen indischen Verteidigungsministers

George Fernandes schien nach dem Tehelka-Schmiergeld-Skandal dem politischen Knock-out nahe. Premierminister Atal Behari Vajpayee holte ihn jedoch, bevor die Untersuchungskommission ihre Ergebnisse vorlegte, Anfang Oktober 2001 trotz starker Proteste der Opposition in sein bis dahin von Außenminister Jaswant Singh betreutes Amt zurück. Ein außerhalb der Regierung schmorender Fernandes, ein "enfant terrible" der indischen Innenpolitik, hätte für den Zusammenhalt der Regierungskoalition gefährlich werden können.

Ein erneuter Skandal im Verteidigungsministerium wegen überteuerter Zinksärge aus den USA für die Opfer des Kargil-Grenzkrieges mit Pakistan, führte zum Boykott seiner Person durch die Opposition in der Wintersitzungsperiode des indischen Parlaments. Nach dem Angriff auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 und der allgemeinen Mobilmachung der indischen Streitkräfte stieg George Fernandes allerdings wie ein Phoenix aus der Asche.

Fernandes zählt zu den wenigen im Parlament (Lok Sabha) verbliebenen Urgesteinen der indischen Politik. Fernandes, der durch den 1974 von ihm organisierten Eisenbahnerstreik maßgeblich dazu beitrug, daß Indira Gandhi den Ausnahmezustand (1975-77) ausrief, warf nach ihrer massiven Wahlniederlage 1977 danach als Industrieminister sowohl IBM als auch Coca Cola aus dem Land.

Der Advokat des Swadeshi (wirtschaftliche Unabhängigkeit), Anti-Nuklearist und Tibet-Freund amtierte 1989/90 als Eisenbahnminister und Sonderbeauftragter für Kashmir (1990) in der Minderheitsregierung des Reformpremiers V. P. Singh. In den 90er Jahren kritisierte er im Parlament als einer der führenden Oppositionspolitiker vehement die Liberalisierungspolitik des Congress(I)-Premiers P. V. Narasimha Rao.

Der 1930 geborene Gewerkschafter und Sozialist - der in seiner Jugend ein Priesterseminar besuchte - machte alle parteipolitischen Irrungen und Wirrungen der sozialistischen Bewegung Indiens mit, bis er, vorläufig wohl zum letzten Mal, 1995 seine eigene, faktisch nur auf das Armenhaus Bihar (83 Mio. Einwohner) beschränkte Samata Party ("Gerechtigkeitspartei") gründete.

Fernandes, lebenslang ein ausgesprochener Gegner der Congress-Partei und ihrer gesellschaftspolitischen Kultur, machte die bis dahin isolierte hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) in dem durch den Niedergang des Congress (I) bewirkten politischen Vakuum hoffähig und leitete durch seine 1995 vollzogene Allianz mit der BJP endgültig seit den Wahlen 1998 den Prozeß der Koalitionsbildung zahlreicher Regionalparteien mit der BJP ein. Er fungierte in der zweiten Regierung von Premierminister Atal Behari Vajpayee 1998/99 auch als maßgeblicher Verbindungsmann zu den schwierigsten Koalitionspartnern der im Frühjahr 1999 dann durch ein Mißtrauensvotum gestürzten Regierung.

Nach seinem Amtsantritt als Verteidigungsminister brandmarkte Fernandes 1998 in einer öffentlichen Rede die Volksrepublik China als "Hauptfeind Indiens" und löste kurz vor den indischen Nuklearversuchen eine schwere diplomatische Krise mit Indiens mächtigem Nachbarn im Norden aus. Auch heute noch vertritt Fernandes die These, daß China bestrebt sei, "Indien zu umzingeln" (Juni 2000).

Der "Saffron-Sozialist" Fernandes - der öffentlich die Massenarbeitslosigkeit als das Grundübel der indischen Gesellschaft geißelt - dürfte nach einer langen politischen Karriere immer noch Hoffnungen hegen, in einer denkbaren, unübersichtlichen innenpolitischen Krise (Scheitern der wirtschaftlichen Reformpolitik bzw. angeschlagener Gesundheitszustand Vajpayees) mit Duldung durch die BJP und der sie maßgeblich steuernden Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, "Nationales Freiwilligenkorps") das Amt des Premierministers zu übernehmen, obwohl seine schmale parteipolitische Basis und in letzter Zeit eine gewisse Zurückhaltung der RSS/BJP ihm gegenüber dieses Szenario im keineswegs ganz auszuschließenden Eventualfall zumindestens gegenwärtig mehr als unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Quelle: Der Artikel ist die leicht überarbeitete Fassung eines Textes, der im Original im Juni 2001 in einer Reihe von Kurzanalysen der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro New Delhi erschien.

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