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13. September 2003. Analysen: Geschichte & Religion - Indien Stimmen der Nacht

Gesangsrituale im Stammesgebiet Orissas

In ihrer Forschung zur "Askese und Ekstase einer Religion im Werden" hat Lidia Guzy die Ausbreitung einer neuen asketischen Lehre (Mahima Darma) in Orissa untersucht. Auf Reisen mit zwei Asketen konnte sie einerseits den Alltag von Asketen und die Struktur eines asketischen Ordens ergründen. Andererseits konnte sie durch das Leben bei Neukonvertiten in stammesgesellschaftlichen Missionsgebieten das ekstatische Profil der Lehre studieren. Um dieses ekstatische Profil wird es im folgenden Artikel gehen.

Die asketische Lehre wird im Stammesgebiet durch Gesangsrituale populär. Beim Klang eines einsaitigen Instrumentes versetzten sich in nächtlichen Zusammenkünften Schamaninnen der neuen Religion in Ekstase. Sie lassen mit Worten, Klängen und Dichtungen "Stimmen der Götter" ertönen. Die dabei entstehenden Poesien, Gebete und Erzählungen zeigen die Vielfalt und Schönheit lokaler Dichtung.

Konversion

Um ein Anhänger der neuen Religion (alekh) zu werden, ist eine Weihe (dikhya) in die Lehre notwendig. Die Weihe ist eine Initiation in die neue Religionsgemeinschaft und sie besteht aus zwei Phasen:

Zunächst nehmen die Novizen eine von Asketen gefärbte orange-rötliche Kleidung an. Seit diesem Zeitpunkt werde sie nur noch diese Kleider tragen. Die orange-rötliche Farbe ist das Zeichen ihrer neuen religiösen Identität.

Die Novizen müssen den Lehrreden der Asketen zuhören, um danach ihr Gelübde abzulegen. Einundzwanzig Mal werden sie zu Boden fallen und den Schwur leisten, nie mehr von den Regeln der Lehre abzuweichen. Die Regeln heißen ein strikter Verzicht auf Alkohol und Fleisch. Diese Verzichtsregeln kennzeichnen somit den selbstgewählten und selbst erschaffenen Sonderstatus der Neukonvertiten innerhalb der Stammensbevölkerung. Denn diese schätzt den Fleischverzehr und Alkoholgenuss, die unverzichtbare Elemente der sozialen Interaktionen darstellen.

Eine zweite Weihe ist nur einigen weinigen vorbehalten: Es ist die spirituelle Heirat, die dagegen später erfolgt und sich auf wenige begrenzt, die sich besonders zur Kommunikation mit dem Heiligen auserwählt fühlen. Diese Auserwählten, meist Frauen werden zu Schamaninnen der neuen Religion in den Stammesgebieten. Seit ihrer spirituellen Heirat mit einem ihrer Lieblingsgötter, werden sie mit ihrem spirituellen Gatten und Geliebten während ihrer Gesangsekstase sprechen.

Was sind die Gründe für eine Bekehrung zur neuen asketischen Religion? Krankheit, Armut und wiederholtes Unglück in der Familie sind häufige Gründe für die Weihe in die asketische Lehre. Mit einem Verzichtsgelübde erhofften sich die Betroffenen eine Milderung ihrer Leiden und die Verbesserung ihrer Lebenssituation.

Verbreitung der neuen Lehre in Koraput

Die Zahl der Neubekehrten lässt sich auf 10% der Stammesbevölkerung in Koraput einschätzen. Die Popularisierung der neuen Lehre basiert vor allem auf der Wirkung der ekstatischen Überzeugungskraft der Schamaninnen der neuen Religion.

Gesangsextase der Schamanin der neuen Religion

Das Szenario

Eine Schamanin der neuen Religion erkennt man an dem verzerrten, manchmal auch melodischen Klang ihrer Stimme. Dieser spezifische Klang setzt nur in der Nacht ein, wenn die Schamanin anfängt, ihr einsaitiges Instrument zu zupften. Ein immer wiederkehrender Ton schreibt sich eintönig in die Nacht ein. Die Ein-Tönigkeit lässt dabei die Zeit stehen bleiben. Die Schamanin beginnt zu singen. Ihre Stimme entwirft zuerst unsystematisierte Klang-Sprech-Fragmente, Wortfetzen, dann verständliche Dialoge.

Langsam füllt sich der Raum an Zuhörern. Die Verfremdung und Ein-Tönigkeit der Stimme werden als Ausdruck der Anwesenheit des Göttlichen verstanden. Die verfremdete Stimme der Schamanin wird für die Zuhörer zur Verortung des Göttlichen. Im Zustand der Verzückung wird die Stimme zum göttlichen Instrument.

Viele Dorfangehörige versammeln sich um die singende Schamanin. Die rhythmisierte Sprache und die gleichzeitigen Übergänge zwischen Gesang und Schrei werden von den Zuhörern als nicht erlernbare Gesangstechniken betrachtet. Sie gelten stets als göttliche Eingebungen.

In ihrer Entrücktheit werden Schamaninnen zu Sprachrohren, Sängerinnen und Stimmen des Göttlichen.

Für die Zuhörer zeigt dabei die Hingabe sprachlicher und stimmlicher Darbietungen einen Indiz für die religiöse Glaubwürdigkeit. Schamaninnen der neuen Religion sind Sängerinnen des Göttlichen aus Hingabe. Stets betonen die Schamaninnen, dass sie sich an keine Aussagen erinnern, die während des Zustands der Ekstase (baya) von ihnen geäußert wurden. Sie waren "außer sich", und diese Tatsache macht sie für die Zuhörer wahrhaftig.

Eine Anhängerin der neuen Religion kann nur dann zur Gottessängerin werden, wenn sie über eine Leidensgeschichte verfügt. Das individuelle Leid macht sie empfänglich für eine Kommunikation mit den Göttern.

Entrücktheit von den Neukonvertiten als eine gute "Verrücktheit" bezeichnet. Verrücktheit kann zwei unterschiedliche mentale Zustände beschreiben: eine "schlechte Verrückheit ", die eine ungesunde, da permanente Verrücktheit andeutet, und eine "gute Verrückheit ", die nur während eines kurzzeitigen Hineintretens in die außerweltliche Sphäre auftritt. Die gesangssprachlichen, musischen und auch tänzerischen Ausdrucksformen der guten Verrücktheit sind das sog. göttliche Spiel. Das Spiel der guten Verrücktheit äußert sich durch ekstatische Gesänge, Klangschreie und Dialoge mit dem Außermenschlichen.

Die Sprache der Gesangsekstase bedient sich dabei der Begleitung durch das einsaitige Musikinstrument dudunga. Dieses Instrument besteht aus einer Melonenschale und einer bezogenen Schlangehaut. Der Klang des Instruments begleitet stets die Gesangsrituale der Schamaninnen. Der Seitenklang leitet den anderen Bewusstseinszustand ein, er begleitet ihn und beendet schließlich die Entrücktheit.

Das Instrument gehört nur der Schamanin, darf nur von ihr berührt und gezupft werden.

Hier wird die Verwobenheit von Musik, Gesang, Sprache, Klang und der Vorstellung von der Göttlichkeit deutlich.

Die Gesangsekstase, die aus dem Ton, der Stimme und der verzückten Sprache besteht, wird als ein Mittel der Kommunikation mit dem Göttlichen verstanden. Das Göttliche vermittelt sich für die Menschen in der wilden poetischen Sprache während der rituellen Gesangsekstase.

Ritualsprache während der Gesangsextase

Zur Veranschaulichung der sprachlichen dialogischen Struktur der Kommunikation mit dem Heiligen sei beispielhaft eine Gesangsekstase einer Schamanin angeführt. Diese Gesangsekstase (baya) entstand im Zusammenhang mit einer schweren Krankheit eines Kindes. Die verzweifelten Verwandten des Kindes benachrichtigen die Schamanin, die sich daraufhin in den heiligen Raum ihres Hauses begab, wo vor zwei Jahren ein Termitenhügel aus der Wand gewachsen ist. Termitenhügel gelten in Koraput als Manifestationen der Erdgöttin. Orte, an denen die Erdgöttin in Form des Termitenhügels erwächst, werden verehrt.

Am Termitenhügel ihrer Lehmhütte führt die Schamanin sonntäglich und nach Bedarf ihren Opfer-Gottesdienst durch, wie sie es auch in diesem Notfall getan hat.

Die Schamanin löste ihre Haare, setzte sich in einen Schneidersitz, schloss ihre Augen und fing an, ihr Instrument zu zupfen. Bald darauf erklang ihre Stimme. Bei gleichmäßigen Schaukelbewegungen ihres Kopfes klangen ihre Worte immer schneller. Nach dem Ende der Gesangsekstase opferte die Schamanin der Erdgöttin und dem Gott der neuen Religion eine Kokosnuss, die von den Ratsuchenden gebracht wurde.

Transkription einer Gesangsekstase (Sprache: Desya-Oriya, die Sprache der lokalen Bevölkerung in Koraput.)

"Hey Mutter, Hey Vater "

"Mein Vater ist Mahima Guru
Almosen für meinen Meister und Brahma!
Hey Guru, du großer Meister, du unsichtbarer allmächtiger Meister!
Du Allmächtiger!
Stirn des unsichtbaren Gottes!
Du sprichst keine Lügen, du bist nicht die Illusion."

"Meine Tür ist für Euch offen.
Befehlt mir!"

"Ich sage dir nur die Wahrheit, ich gebe dir nur Wahrhaftiges zum Ausdruck."

"Göttin Lamunda, Göttin Chamunda, Altar der Chamunda!
Gott und das Nichts, unsichtbarer Gott,
du heilst Krankheiten und Leid, du Unsichtbarer, Allmächtiger, Unbegreiflicher!
rette ihn und mich."

"Zweiunddreißig Dornen!
Dein Fuß ist wie die Lotusblume.
Ich diene dir!"

"Wer weiß, oh Mutter?
Wer weiß, oh Vater?"

"Hab' Erbarmen mit mir, oh Meister !"

"Mein Lehrer, mein Vater!
Wer weiß schon, wie ich Dich ehren, wie ich für dich fasten sollte?"

"Oh du Yosuda Doimoti!
Du Göttin der sieben Schwestern des Palastes!"

"Heilige Mutter, heiliger Vater
Dein Herz ist groß, ich bete zu dir!
Du Unbeschreibliche, du heilige Erde Basmati!
Du hast keine Form, du hast keine Gestalt."

"Geht weg, ihr dreiunddreißig Millionen Götter!
Ich befehle euch, geht weg!"

"Heiliger Großer Gott Narayan!
Oh du heiliger größter Allmächtiger Gott Mahima!
Du Unbegreiflicher!"

"Wie der Gott der Winde, der über die Erde weht, spreche ich zu dir, dich nie zu sorgen, warum sorgen wofür? Warum?"

"Du dreiteiliger unbeschreiblicher Gott,
Beschützer der Mutter!"

"Oh Mutter, du dienst im Himmel."

"Zwölf Jahre erinnerte ich den Namen Gottes
Zwölf Jahre meditierte ich."

"Oh heilige Göttin der Keuschheit!
Höre meine Worte!
Oh du Göttin Mayabati, Chagabati!
Beschütze uns vor der Zerstörung!"

"Ich suche die Zuflucht in deinen Füßen,
oh Mutter, oh Vater!"

"Über die ganze Welt verkünde ich diese Worte!
Spreche ich Lügen oder Wahrheit?"

"Ich spreche nur Wahrhaftiges und schwöre dir dreimal.
Ich spreche, ohne Dich zu betrügen, du weißt es
Du hast mein Wort, oh Gott."

"Ich trage die Kleider der Asketen!"

"Oh Mayabati, Chayabati, Ishwara, Parvati, Jagannath, oh Mahima,
Oh unsichtbarer Gott, ich halte den Zauberstock in meiner Hand und die ganze Welt darin."

"Oh heiliger Ort Kotinmala.
Ein Tempel ist dort gebaut für dich!
Millionen von Früchten und Blumen geben die Menschen dir dort."

"Ich spreche zu dir!"

"Ich diene zu deinen Füßen."

"Ich bin nicht gewöhnlich, ich bin die Erde Basudha."

"Ich aber bin nicht keusch und bin keine Göttin."

"Wer kennt die Mutter, wer kennt den Vater, wer kennt die Erde?"

"Mein Name ist die erste Mutter,
ich bin die allumfassende Schönheit,
die Schönheit des Universums,
ich bin Basudha, die Erde."

"Ich befehle der Erde und Millionen der unglücksbringenden Götter und Göttinnen!
Geht!
Mit Feuer!"

"Kümmere Dich um nichts, ich gebe Dir mein Versprechen."

[Ende der Gesangsekstase]

Die Transkription macht die dialogische Struktur der Gesangsekstase deutlich. Die Gesänge haben einen Psalmcharakter. Unterschiedliche Herbeirufungen verschiedener göttlicher Namen und der heiligen Orte weisen darauf hin, dass das vorgestellte Heilige mit einem Ort in Verbindung steht. Heiligkeit ist demnach lokal. Die Tatsache, dass Gott als Erdgöttin Basudha oder Basmati gleichzeitig angerufen wird, aber auch als Narayana oder Mahima Alekh, illustriert die unterschiedlichen Begriffe und Vorstellungen, die in einer Vielfalt von Ideen über das Heilige existieren. Gott ist männlich, aber auch weiblich und gleichzeitig die Ganzheit des Universums. Die Herbeirufungen der unterschiedlichen Namen der Götter erinnern an Unheil abwehrende Beschwörungen.

"Meine Sprache hat Macht (shakti)!", sagte die Schamanin nach dem Ende ihrer Gesangsekstase. Für sie und ihre Zuhörer vermitteln ihre Stimme, ihre Worte und die Rhythmen ihrer Melodieführung die Kraft und die Stimme des Außermenschlichen.

Es besteht während der Gesangsekstase der Schamanin keine Kommunikation mit dem weltlichen Publikum. Die Gesangsekstase der Schamanin wird dabei von den Zuhörern als das Spiel der Götter, nicht als das der Menschen interpretiert. Besonders deutlich wird dies an dem Einsatz und der Wirkungsweise des einsaitigen Instrumentes. Im Gegensatz zu Instrumenten, die im Kontext der Dorfrituale von Dorf-Musikern gespielt werden, um eine Kommunikation zwischen Publikum, Musik, und Ritual herzustellen, wirkt die Begleitung des einsaitigen Musikinstrumentes nur allein auf die Schamanin. Die Musik des einsaitigen Instruments entzieht sich einer Interaktion und Kommunikation der Menschen untereinander. Sie ist vor allem für die Kommunikation mit den Göttern bestimmt. Ihr Klang soll nicht etwa die Zuhörer zum Tanzen oder Singen veranlassen, sondern ist nur für die Schamanin bestimmt. Nur sie spielt darauf und gerät durch ihren Klang in Ekstase. Nur sie spricht dialogisch mit den Göttern. So geschlossen für andere die Ritualpoesie der Schamanin sein mag, so innerlich ist sie für die Sängerin.

Die Ritualpoesie die als ein innerliches Gebet verstanden werden kann, zeigt die Vielfalt und Schönheit lokaler Dichtung und Gebete aus Koraput.

Mit einem weiteren Zitat aus dieser lokalen Dichtung soll der Artikel enden:

"Wer kennt schon Gott?
Wer kennt den Erschaffer?
Wer weiß, wie all dies entstanden?
Dein und mein Schicksal,
Gott wird uns zusammenbringen.
Weine nicht, oh weine nicht!
Oh, Größe und Länge der Erde!
Dich werde ich halten
und Dich mit dem Staub der Erde
reinigen!"

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