Inhalt

03. März 2015. Analysen: Südasien - Wirtschaft & Soziales Die "Bedes"

Darstellung und Kategorisierung nicht-sesshafter Gruppen in Bengalen

In vielen Teilen der Welt standen bzw. stehen Servicenomaden — Gruppen, die in Familienverbänden von Ort zu Ort ziehen, um der sesshaften Bevölkerung ihre Dienstleistungen oder/und Waren anzubieten — aufgrund ihrer "anderen" Lebensgewohnheiten häufig im Mittelpunkt literarischer Werke, aber auch der kritischen Aufmerksamkeit von Behörden. Sowohl die oftmals "exotischen" Erwerbstätigkeiten als auch die temporäre oder permanente Nicht-Sesshaftigkeit beflügeln nicht nur die Fantasie von Autoren, sondern stellen auch staatliche Einrichtungen vor administrative Schwierigkeiten.

Während die Darstellung und Kategorisierung von Dienstleistungsnomaden in Europa - den sogenannten "Zigeunern", "Gypsies" etc. - in zahlreichen Studien bereits untersucht wurden, ist die Forschung zu Servicenomaden in Südasien im Allgemeinen überschaubar (siehe z.B. Rao; Casimir 2003). Ziel meiner Dissertationsschrift, deren wichtigste Erkenntnisse hier vorgestellt werden, war es, diese Forschungslücke für die bengalische Region, vornehmlich dem heutigen Bangladesch und dem indischen Bundesstaat Westbengalen, zu schließen. Neben der Analyse bengalisch-sprachiger Literaturwerke waren vor allem nicht-fiktionale Quellen verschiedener Formate ab Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute Gegenstand der Unter-suchung, die durch qualitative Interviews in Bangladesch und Westbengalen mit Mitgliedern nicht-sesshafter Gruppen, der sesshaften Bevölkerung und Personen aus Entwicklungspolitik und Wissenschaft ergänzt wurden.

Der Begriff bede

Wie in anderen Regionen werden auch im heutigen Bengalen verschiedene nicht-sesshafte Gruppen zumeist als eine Gemeinschaft wahrgenommen und unter einem einzigen Namen subsumiert: dem bengalischen Begriff bede bzw. einem seiner verschiedenen Varianten bādiẏā, bediẏā, bāidyā usw. Diese Bezeichnung ist Dreh- und Angelpunkt der Darstellung und Kategorisierung von nicht-sesshaften Gruppen in Bengalen und mit den Begriffen "Zigeuner" und "Gypsy" vergleichbar, die oftmals lediglich als Fremdbezeichnungen für unter-schiedliche Gruppen verwendet werden. Für wen der Name "Bede" zum ersten Mal verwendet wurde und was er ursprünglich bedeutet hat, konnte auch mit Hilfe einer etymologischen Analyse nicht eindeutig geklärt werden. Mittel-bengalische Quellen (vgl. z.B. Śarīph 1976: 27) deuten jedoch darauf hin, dass mit der älteren Variante des Begriffs (bādiẏā) vornehmlich Schlangenbeschwörer bezeichnet wurden. Diese Bedeutung deckt sich größtenteils mit seiner heutigen in Westbengalen, steht aber im starken Kontrast zur dominanten Verwendung im gegenwärtigen Bangladesch: Während in Westbengalen "Bedes" überwiegend mit Schlangen assoziiert werden, wird der Begriff bede in Bangladesch, das im Gegensatz zu Westbengalen über ein weites Netzwerk an Wasserwegen verfügt, oftmals mit "River Gypsy" gleichgesetzt.

 

bedes1
Abb. 1: Ein typischer Anblick von "Bede"-Booten in Bangladesch Foto: Carmen Brandt

 

Die Kategorisierung der "Bedes"

Die sogenannten "River Gypsies" Bangladeschs zeichnen sich gemäß der Bedeutung des englischen Begriffs durch ein Leben und das Umherreisen auf Booten in Gruppenverbänden aus und können im Gegensatz zu den "Bedes" in Westbengalen mit den unterschiedlichsten Berufen ihren Lebensunterhalt verdienen: mit dem Fangen oder/und Vorführen von Schlangen oder anderen Unterhaltungskünsten, dem Verkauf von Heilmitteln, Haushaltsutensilien, Kosme-tikartikeln und Schmuck, dem Behandeln von Rheuma- und Zahnschmerzen etc. Entsprechend ihrer Tätigkeiten verfügen diese Gruppen jedoch über Eigenbezeichnungen, z.B. Lāuẏā, Māl, Sāndār, Sāpuṙe, 1 lehnen den Namen "Bede" für sich vehement ab und pflegen in der Regel keine Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen "Bede"-Gruppen. Es handelt sich vielmehr um endogame Gruppen, die lediglich aufgrund ihrer "exotischen" Gemeinsamkeit - dem Umherziehen auf Booten - als eine Gemeinschaft wahrgenommen werden. Dass verschiedene Gruppen vermeintlich die "Bede"-Gemeinschaft bilden, wurde hingegen bereits in Publikationen britischer Kolonialbeamter (vgl. z.B. Wise 1883: 212-221) festgehalten, die beeinflusst von der Idee, dass die "Zigeuner" Europas aus Indien stammen, oft Vergleiche zu einheimischen Bevölkerungsgruppen, die eine ähnliche sozioökonomische Rolle inne hatten, zogen und diese unter einem Begriff subsumierten. Darauf, welche Art von Gemeinschaft die "Bedes" bilden, können sich die einschlägigen Autoren bis heute nicht einigen, was bereits an den widersprüchlichen Termini deutlich wird: caste, community, class, ethnic group, race und tribe. Im Anhang der indischen Verfassung werden die "Bedes" (hier: Bediā, Bediyā [Hindi] bzw. Bedia, Bediya [Englisch]) heute als Scheduled Tribe aufgeführt (Government of India 2007), obwohl sie bis 1976 eine Scheduled Caste waren, während sie in Bangladesch keine offizielle Kategorisierung erfahren haben. Für diesen Widerspruch gibt es mehrere Gründe, von denen die kritiklose Übernahme der kolonialen Kategorisierung der einheimischen Bevölkerung im unabhängigen Indien der wichtigste ist. Die Darstellung unterschiedlicher nicht-sesshafter Berufsgruppen als "Bedes" auch in literarischen Werken bengalischer Autoren legt jedoch nahe, dass diese Kategorisierung von außen nicht eine Erfindung der Kolonialbeamten war, sondern lediglich durch diese gefestigt wurde.

 

bedes2
Abb. 2: Eine sogenannte "Bede"-Frau beim Verkauf von Glasarmreifen auf Dhakas Straßen Foto: Carmen Brandt

 

Die Darstellung der "Bedes" in literarischen Werken

Sogenannte "Bedes" stehen häufig im Zentrum von Romanen, Kurzgeschichten, Dramen und Gedichten, auch bekannter ost- und west-bengalischer Autoren, z.B. Tarashankar Bandyopadhyay, Kazi Nazrul Islam, Al Mahmud, Balaichand Mukhopadhyay (Banaphul), Shamsur Rahman, Jasim Uddin u.a. Ähnlich der Darstellung nicht-sesshafter Gruppen und Individuen in der europäischen Literatur (vgl. z.B. Brittnacher 2012: 93-125) fällt insbesondere die Stereotypisierung der "Bede"-Frau auf: Sie steht im Mittelpunkt fast aller Werke, in denen sie zumeist sesshaften Männern bewusst oder unbewusst den Kopf verdreht, ohne je ein glückliches Ende zu finden. Die überdurchschnittlich häufige Darstellung der nicht-sesshaften Frau im Vergleich zu ihrem männlichen Pendant reflektiert die tatsächlich wichtige Rolle von "Bede"-Frauen für die Einkommensgenerierung, bei der sie häufig selbstbewusst mit fremden Männern in Kontakt treten müssen. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass sesshafte Männer, wie z.B. auch die Autoren der Literaturwerke, von diesen "anderen" Frauen fasziniert und inspiriert waren. Neben erotisch aufgeladener Porträts von "Bede"-Frauen und der Romantisierung des nicht-sesshaften Lebens wird der Leser jedoch auch mit dem harten Lebensalltag der "Bedes" konfrontiert. Die Darstellung des Lebens der "Bedes" am Rande der Gesellschaft entspricht der Realität vieler sogenannter "Bede"-Gruppen. Der sozioökonomische Status zahlreicher solcher Gruppen ist mit dem sogenannter "Unberührbarer" vergleichbar, weshalb sie seit den 1990er Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit von Entwicklungsorganisationen auf sich ziehen konnten.

 

bedes3
Abb. 3: Eine wahrsagende "Schlangenbeschwörerin" mit einem Kunden Foto: Carmen Brandt

 

Die "Bedes" als Zielgruppe von Entwicklungsorganisationen

Parallel zu Studien von einheimischen Wissenschaftlern (vgl. z.B. Huq Choudhury 1998 und Rahman 1990) werden auch in Berichten von Entwicklungsorganisationen (vgl. z.B. Maksud; Rasul 2007: 2) die Quellen aus der Kolonialzeit kritiklos zitiert und die Idee, dass die verschiedenen "Bede"-Gruppen eine Gemeinschaft bilden, sogar forciert, indem vor allem in Bangladesch immer öfter von einer Ethnie die Rede ist (ebd.: 3). Ob dies intentional passiert, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Allerdings stellt eine ethnische Minderheit in einem Land, in dem zirka 98 Prozent der Bevölkerung Bengalen sind und fast die Hälfte unter der Armutsgrenze lebt, eine attraktivere Zielgruppe für internationale Geldgeber dar als eine "lediglich" sozial marginalisierte Gruppe von Bengalen. Eine Exotisierung und Ethnisierung der "Bedes" bzw. "River Gypsies" und die vermeintliche Bedrohung des bevorstehenden Kulturverlusts haben deshalb in den letzten Jahren die Medienberichterstattung zu den "Bedes" in Bangladesch dominiert. Dieser Trend steht jedoch im starken Kontrast zu den Bemühungen der verschiedenen nicht-sesshaften Gruppen selbst.

Die soziokulturelle Anpassung von "Bedes"

Im Gegensatz zu dem von Entwicklungsorganisationen und Medien vermittelten Eindruck, dass die "Bedes" befürchteten, ihre vermeintlich "andere" Kultur, in deren Zentrum ein Leben auf dem Boot stehe, zu verlieren, werden immer mehr "Bede"-Gruppen permanent sesshaft und versuchen, sich auch soziokulturell der Mehrheitsbevölkerung anzupassen. Dies betrifft zum Beispiel die Rolle der Frau: Während nicht-sesshafte "Bede"-Frauen eine aktive Rolle bei der Einkommensgenerierung spielen und Dienstleistungen oder/und Waren auch fremden Männern anbieten, praktizieren permanent sesshaft gewordene "Bede"-Gruppen verstärkt Geschlechtertrennung und untersagen ihren Frauen das Arbeiten außerhalb des Hauses (vgl. z.B. Huq Choudhury 1996: 77f.). Diese Strategie der soziokulturellen Anpassung geht einher mit Ursprungsnarrativen, in denen "Bede"-Gruppen eine Herkunft in Arabien, der Ursprungsregion des Islams, proklamieren, um sich somit innerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaft soziale Anerkennung zu sichern. Interessanterweise ist ein wesentliches Element dieser Herkunftstheorien die volksetymologisch hergestellte Verwandtschaft der Begriffe bede und beduin, die auf der einen Seite für viele Menschen in Bangladesch eine glaubhafte Verbindung zu den arabischen Beduinen konstatiert, aber auf der anderen Seite sogenannte "Bedes" dazu zwingt, die Fremdbezeichnung "Bede" für sich zu akzeptieren. Da Letzteres selbst für "Bedes", die diese Volksetymologie verbreiten, nicht der Fall ist, macht deutlich, dass die Idee einer Verwandtschaft zwischen den "Bedes" und Beduinen neueren Ursprungs ist. Somit sind die "Bedes" ein weiteres Beispiel für das heutige Bangladesch auf der Suche nach seiner Identität zwischen Bengalentum und Islam: Obwohl von mir interviewte  "Bedes" ihre bengalische Identität betonen, sehen sie sich gleichzeitig motiviert, einen Ursprung in Arabien zu suchen, um einen besseren Status innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu erlangen.

 

bedes4
Abb. 4: Eine Gruppe von "Bedes" beim Begehen des muslimischen Opferfestes Foto: Carmen Brandt

 

Ausblick

Auch wenn der sozioökonomische Status sogenannter "Bedes" in West-bengalen wohl kaum besser ist als der ihrer Pendants in Bangladesch, so sehen sie sich in einem Staat, der sowohl ethnisch als auch religiös wesentlich heterogener ist, weniger mit Identitätskonflikten konfrontiert. Während in Indien der Status als Mitglied einer der zahlreichen Scheduled Castes und Tribes vor allem direkte sozioökonomische Vorteile verspricht, weshalb einige "Bedes" in Westbengalen kein Problem damit haben, sich als Mitglieder eines Scheduled Tribe registrieren zu lassen, bedeutet eine weitere Verfestigung der Kategorie "Bede", d.h. die Ethnisierung der "Bedes", in Bangladesch automatisch eine soziokulturelle Marginalisierung. Auch wenn diese kurzfristig vermehrt Gelder entwicklungspolitischer Akteure anziehen könnte, so wären die "Bedes" als nicht-bengalische Ethnie in Bangladesch, dem Land der Bengalen, längerfristig Staatsbürger zweiter Klasse. Die oben erwähnten Anpassungsstrategien verschiedener "Bede"-Gruppen machen deutlich, dass jene genau dies verhindern wollen. Es bleibt also abzuwarten, ob nationale und transnationale Institutionen auf Bestrebungen vereinzelter Akteure eingehen und den zur britischen Kolonialzeit administrativ eingeschlagenen Weg der Kategorisierung der verschiedenen nicht-sesshaften Gruppen als eine Gemeinschaft weitergehen oder diesen Gruppen erlauben, Teil der Mehrheitsgesellschaft zu werden.

 

Literatur

BRITTNACHER, HANS RICHARD. 2012: Leben auf der Grenze: Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen: Wallstein Verlag.

GOVERNMENT OF INDIA. 2007: Census of India: List of notified scheduled tribes (<http://censusindia.gov.in/Tables_Published/SCST/ST%20Lists.pdf>, Zugriff: 05.01.2015).

HUQ CHOUDHURY, JAHANARA. 1996: "The effect of sedentarization on a nomadic people", in: Journal of the Asiatic Society of Bangladesh 41,1: 69-83.

HUQ CHOUDHURY, JAHANARA. 1998: Pearl-women of Dhaka. Dhaka: Bangla Academy.

MAKSUD, A.K.M.; RASUL, IMTIAJ. 2007: The nomadic Bede community and their mobile school program. Paper presented at the conference "What works for the poorest: Knowledge, policies and practices"; December 2-5, 2006. Dhaka: GramBangla Unnayan Committee
    (<http://research.brac.net/publications/bede_school.pdf>,
Zugriff: 05.01.2015).

RAHMAN, MD. HABIBUR. 1990: The Shandar-Beday community of Bangladesh: A study of social change of a quasi-nomadic people. Dhaka: Department of Sociology, University of Dhaka. (Unveröffentlichte Dissertationsschrift.)

RAO, APARNA; CASIMIR, MICHAEL J. (Hrsg.). 2003: Nomadism in South Asia. (Oxford in India Readings in Socioloy and Social Anthropology.) New Delhi (u.a.): Oxford University Press.

ŚARĪPH, ĀHꞋMAD. 1976: Saoẏāl sāhitya. Ḍhākā: Bāṃlā Ekāḍemī.

WISE, JAMES. 1883: Notes on the races, castes and trades of Eastern Bengal. London: Harrison and Sons.

 [ 1 ] Interessanterweise sind einige dieser Gruppen, z.B. Lāuẏā und Sāndār, nur aus Ostbengalen bekannt, was vermuten lässt, dass hier mehr Gruppen unter der Bezeichnung "Bede" subsumiert wurden als in Westbengalen. Es ist auch zu vermuten, dass im unwegsameren Ostbengalen Servicenomaden Nischen besetzt haben, die in Westbengalen entweder nicht vorhanden waren oder von anderen Gruppen, z.B. Einzelhändlern, gefüllt wurden.

Quellen

Der Artikel erschien im Original in Masala-Newsletter Virtuelle Fachbibliothek, Bd. 10, Nr.1 (2015), S. 5-11.

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.