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20. Mai 2011. Analysen: Indien - Forschung & Technik Dreitausend Sicherheitsmängel

Im westindischen Jaitapur soll mitten im Erdbebengebiet das weltgrößte AKW entstehen

Noch im abgelegensten Dorf kennt man den französischen Kernkraftkonzern Areva - er ist mit 9,5 Milliarden Euro Jahresumsatz der weltweit größte Atomkonzern - und seinen Europäischen Druckwasserreaktor (EPR). In den Bergen der Westghats, die sich südlich von Mumbai entlang der indischen Westküste erstrecken, sind Begriffe wie Radioaktivität, Plutonium und giftiger Atommüll jedem geläufig. Die atemberaubend schönen Dörfer im Hinterland von Jaitapur im Bundesstaat Maharashtra liegen innerhalb eines "Biodiversitätszentrums", das zu den zehn wichtigsten der Welt zählt. Genau hier sollen demnächst sechs 1.650-Megawatt-Reaktoren von Areva stehen.

Die staatliche Nuclear Power Corporation of India (NPC) hat beschlossen, dass ihr französischer Partner Areva in Jaitapur die größte Atomkraftanlage der Welt errichten soll. Auch wenn das die Entwurzelung von 40.000 Menschen bedeutet, deren Lebensunterhalt auf den natürlichen Ressourcen und Produkten des Ökosystems beruht: Reis, Hirse, Linsen, Gemüse, Kräuter, Fische und Früchte, zu denen auch die unglaublich köstliche Mangosorte Alphonso gehört.

Die Regierung des Bundesstaats Maharashtra unterstützt das Projekt, wie sie nur kann. Ministerpräsident Prithviraj Chavan war bis vor kurzem als Staatsminister in der indischen Zentralregierung für Nukleartechnologie zuständig und sitzt nach wie vor in der indischen Atomenergiekommission, die auch die politische Aufsichtsinstanz der NPC ist.

Am 27. Februar reiste Chavan nach Jaitapur, um auf einer öffentlichen Versammlung die Vorzüge des Projekts anzupreisen. Unter den rund 8.000 Anwesenden fand sich nur ein einziger Befürworter - ein Grundbesitzer, der schon lange in Mumbai wohnt. Kurz nach Chavans Besuch verhaftete die Polizei 22 Aktivisten, denen verschiedene Straftaten - bis hin zu versuchtem Mord - angelastet werden.

In Wahrheit verliefen die Proteste bisher vollkommen friedlich. Die Festnahmen hatten allein den Zweck, die Aktivisten einzuschüchtern und durch langwierige juristische Prozeduren von ihrer regulären Arbeit abzuhalten. Um das Projekt durchzudrücken, arbeitet die Regierung mit allen möglichen Methoden, von der Überredung über finanzielle Anreize und Bestechung bis hin zu Schikanen, Zwangsmaßnahmen und nackter Gewalt.

Doch die Bevölkerung von Jaitapur ist genauso fest entschlossen, das Vorhaben zu verhindern. Sie bekämpft es seit vier Jahren mit Plakaten, Kundgebungen, Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Bei meinem jüngsten Besuch war ich von der Stärke der Bewegung beeindruckt: "Sie werden das Atomkraftwerk nicht bauen, nur über meine Leiche", erklärte mir Milind Desai, ein Ayurveda-Arzt aus dem Dorf Mithgavane. "Niemals werde ich meine Heimat, mein Volk und das wunderbare Land hier aufgeben. Ich fühle mich diesem Boden verbunden und werde keiner noch so starken Macht erlauben, diese vitale Gesellschaft zu zerstören."

Mehr als 95 Prozent der Leute, deren Land die Regierung mit Hilfe des aus der Kolonialzeit stammenden Enteignungsgesetzes übernommen hat, lehnten die angebotene Entschädigung ab. Von denen, die das Geld annahmen, wohnen die meisten nicht in der Gegend. Die Regierung hat die Entschädigungsangebote inzwischen um das Siebenfache auf 2,5 Millionen Rupien (zirka 40.000 Euro) pro Hektar erhöht. Vergeblich. In keinem der Dörfer, die ich besuchte, war auch nur eine einzige Person aufzutreiben, die das Projekt für annehmbar hält oder glaubt, dass es im Interesse der Allgemeinheit sei.

Der Widerstand der Menschen rührt von ihrer Überzeugung, dass das AKW nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hat, dass es ein nicht vertretbares Risiko darstellt, dass die Gefahr von radioaktiven Emissionen bereits im Normalbetrieb besteht und dass auch ein katastrophaler Atomunfall wie in Tschernobyl oder Fukushima nicht auszuschließen ist. Sie wissen aufgrund der Daten, die unabhängige Forscher wie Surendra Gadekar publiziert haben, dass in der Umgebung der Atomreaktoren in Rajasthan (im Nordwesten Indiens) und der Uranminen im Bundesstaat Jharkhand (im Osten) überdurchschnittlich viele Krebserkrankungen und Missbildungen auftreten.

Sie befürchten außerdem, dass der im Kraftwerk produzierte radioaktive Müll vor Ort gelagert wird und auf Jahrhunderte die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet. "Ich will nicht, dass meine Kinder oder Enkel mit einem Schrumpfkopf oder verkümmerten Gliedmaßen auf die Welt kommen", sagt Praveen Gavankar aus dem Dorf Madban. Für ihn ist Widerstand "die einzige Möglichkeit, Leib und Leben zu retten". In den letzten Jahren hat er sich über Risiken und Kosten der Atomenergie schlaugemacht.

Wo die Pfanzenvielfalt Indiens am größten ist

Gavankar weiß zum Beispiel, dass Areva bei seinem Druckwasserreaktor in Finnland mit großen Problemen zu kämpfen hat. Dort entsteht mit Olkiluoto 3 der erste westeuropäische Reaktor seit Tschernobyl. Der Bau hat sich bereits um 42 Monate verzögert, das Budget ist schon jetzt um 90 Prozent überzogen, und die Fertigstellung wird durch einen erbitterten Rechtsstreit zwischen Areva und dem finnischen Betreiber blockiert. Ursprünglich war Olkiluoto 3 als Europas erster "nach marktwirtschaftlichen Prinzipien betriebener" Reaktor gedacht, zum Festpreis von knapp 3 Milliarden Euro. Wer die aufgelaufenen Mehrkosten übernimmt, ist unklar. Gavankar findet skandalös, dass Indien einen Reaktortyp importiert, "der nirgendwo zugelassen ist und bei dem die Aufsichtsbehörden Finnlands, Großbritanniens, der USA und selbst Frankreichs in mehr als 3.000 Punkten Sicherheitsbedenken angemeldet haben".

Ähnlich große Bedenken äußert A. Gopalakrishnan, der ehemalige Vorsitzende der mit der Sicherheitsüberwachung ziviler Atomanlagen betrauten Aufsichtsbehörde (AERB): "Beim EPR ist wegen seiner Dimensionen der Neutronenfluss und Abbrand besonders groß. Er produziert viel mehr gefährliche Radionuklide als normale Reaktoren mit ihren 500 bis 1.000 Megawatt. Das hat negative Folgen für die Sicherheit der Brennstäbe und im Falle des Austritts von Radioaktivität für die menschliche Gesundheit. Die Sicherheitsprobleme im EPR sind offenbar gravierend. Ich fürchte, dass es in Indien keine Behörde gibt, die diesen Reaktortyp evaluieren und für sicher erklären könnte. Die AERB hat die nötige Kompetenz ganz sicher nicht."

Das indische Atomenergieprogramm sieht Reaktoren und Baureihen vor, die aus den USA, Kanada und neuerdings aus Russland importiert sind. Gopalakrishnan weist zudem darauf hin, dass die Baukosten für einen EPR (vorausgesetzt, die Kosten des finnischen Olkiluoto 3 laufen nicht weiter aus dem Ruder) bei über 200 Millionen Rupien pro Megawatt liegen, für einen indischen Atomreaktor dagegen bei nur 80 bis 90 Millionen Rupien und für ein Kohlekraftwerk bei 50 Millionen. Seine Schlussfolgerung: "Der EPR wird vergoldeten Strom produzieren und die mit ihm belieferten Unternehmen ruinieren. Schlimmer noch, er wird zulasten des ursprünglichen Atomenergieprogramms gehen, das auf einer indischen Version des kanadischen Natururan-Schwerwasser-Reaktortyps beruht. Jetzt auf EPR zu setzen, ist unsinnig und unvernünftig." Ähnliche Ansichten vertreten auch andere Mitglieder des indischen Atomestablishments wie der frühere Vorsitzende der Atomenergiekommission P. K. Iyengar.

Fatal ist auch die Entscheidung, dieses Projekt in einer Gegend zu realisieren, die Botaniker als eines der Ökosysteme mit der größten indigenen Pflanzendichte Indiens ausgemacht haben. Die Bedeutung der Region liegt aber nicht nur in ihrer Biodiversität, sondern auch in der darauf beruhenden Land-, Garten- und Fischwirtschaft. In den Westghats entlang der Konkan-Küste zwischen Mumbai und Goa Ghats sind über 5.000 Blütenpflanzenarten, 139 Säugetierarten, 508 Vogelarten und 179 Amphibienarten zu Hause; 325 von ihnen stehen auf der Roten Liste weltweit gefährdeter Arten. In diesem Bergland entspringen auch zwei größere Flüsse, der Krishna und der Godavari, die nach Osten in den Golf von Bengalen fließen. Die ganze Region ist ökologisch so einzigartig, dass man denen, die sie gefährden wollen, eine fast teuflische Zerstörungswut unterstellen muss.

Jaitapur liegt in einer seismologisch kritischen Zone der Kategorie IV. Das bedeutet, dass hier Erdbeben bis Stärke 7 auf der Richterskala für möglich gehalten werden. "Allein in den letzten zwanzig Jahren wurde die Region von drei Erdbeben der Stärke 5 und darüber erschüttert", schreibt die Umweltorganisation Greenpeace. "1993 gab es hier ein Erdbeben der Stärke 6,3, bei dem etwa 9.000 Menschen ums Leben kamen. Und 2009 stürzte bei einem Erdbeben die Brücke vor Jaitapur ein. Diese Umstände wurden bei der Standortwahl überhaupt nicht berücksichtigt."[fussnote:2958:9:l:1] Unklar ist auch, ob die NPC den Reaktor durch irgendwelche baulichen Maßnahmen "erdbebensicherer" gemacht hat.

Die Fischereiflotte der Region besteht aus rund 5.000 Booten. Amjad Borker, ein Fischer aus dem überwiegend muslimischen Dorf Nate, macht sich Sorgen: "Heute sind wir in der glücklichen Lage, unseren Tagelöhnern das Drei- bis Vierfache des Mindestlohns in vielen indischen Bundesstaaten zu bezahlen. Aber das Atomkraftwerk wird uns unsere Lebensgrundlage nehmen. Außer Fischfang haben wir doch nichts gelernt. Wir werden einfach ruiniert, wie die Fischer in der Umgebung von Tarapur 2 , wo das erste indische Atomkraftwerk gebaut wurde. Deswegen kämpfen wir gemeinsam mit den Bauern von Jaitapur gegen das Projekt." Die Fischer wissen genau, dass ihnen die strengen Sicherheitsvorkehrungen und die Stationierung der Küstenwache in der Umgebung der Nuklearanlage den Zugang zum Meer erschweren werden. Die Reaktoren sollen pro Tag 52 Milliarden Liter Wasser ins Meer leiten, das fünf Grad wärmer ist als die Meerestemperatur. Die Bombay Natural History Society warnt, dass bereits ein Temperaturanstieg um 0,5 Grad zu vermehrtem Fischsterben führen könnte.

Seit Neuestem spielt die Regierung von Maharashtra die religiöse Karte aus und versucht den Widerstand gegen das Projekt zu brechen, indem sie einen Keil zwischen Hindus und Muslime treibt und insbesondere die religiösen Führer und Prediger der Muslime zu vereinnahmen versucht.

Wenn es sein muss, kommen auch Zwangsmittel zum Einsatz. Vor kurzem untersagte die Regierung einer Gruppe namhafter Bürger, darunter ein ehemaliger Bundesrichter, ein früherer Chef der Kriegsmarine, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens und mehrere bedeutende Sozialwissenschaftler, die Gegend zu besuchen. Verboten wurde auch ein Volkstribunal über das Projekt, das am 6. und 7. März stattfinden sollte, etliche Aktivisten wurden aus der Provinz ausgewiesen.

"Jaitapur ist für das Überleben von Areva entscheidend", meint Vivek Monteiro, ein Physiker und Aktivist aus Mumbai, der sich eingehend mit der Geschichte des französischen AKW-Konzerns beschäftigt hat. "Areva steckt tief in der Krise und benötigt eine gewaltige Kapitalspritze. Wenn Jaitapur durchfällt, wird sich diese Krise weiter verschärfen. Deshalb versuchen sie die indische Regierung mit allen Mitteln dazu zu bringen, das Projekt gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen."

Doch in Jaitapur geht es um mehr als nur die Profite von Areva. Inzwischen sind Indien und China mit ihren Plänen, die Atomenergieproduktion zu verdrei- oder zu vervierfachen, weltweit zum entscheidenden Expansionsmotor der Atomindustrie geworden. Wenn sie mit ihren Plänen scheitern, wird sich der Niedergang der globalen Nuklearindustrie beschleunigt fortsetzen. Dass diese Industrie sich weder mit den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung noch mit den basisdemokratischen Prinzipien verträgt, wird derzeit nirgends deutlicher als in Jaitapur.

 

Fußnoten:

[ 1 ] Siehe www.greenpeace.org/international/Global/international/publications/nuclear/2010/Jaitapur media briefing headed.pdf.

[ 2 ] Das AKW Tarapur liegt etwa 100 Kilometer nördlich von Mumbai und wird ebenfalls von NPC betrieben. 1969 gingen hier die beiden ersten Siedewasserreaktioren Asiens ans Netz. 2006 kamen zwei Druckwasserreaktoren dazu, entwickelt von den indischen Firmen L & T und Gammon India.


Aus dem Englischen von Robin Cackett

 

Quelle: Dieser Artikel erschien im Original in: Le Monde diplomatique Nr. 9466 vom 8.4.2011.

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