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02. Juni 2010. Analysen: Indien - Wirtschaft & Soziales Die sprachlichen Minderheiten Indiens

Indien wird seiner Verantwortung für den Schutz der Minderheitensprachen nicht gerecht

In der allgemeinen Vorstellung liefert Indien oft das Bild einer unentwirrbaren Gemengelage von Religionen, Kulturen und Kasten, einer Gesellschaft, die von sozialen und vordergründig religiösen Konflikten zerrissen ist. Zu dieser typisch indischen Vielfalt – Hunderte von Kasten und Tausende von Subkasten – gesellt sich die sprachliche Vielfalt: in Indien gibt es 114 Sprachen, die als solche anerkannt sind, doch bei weitem nicht alle offiziellen Rechtsstatus haben.

In der allgemeinen Vorstellung liefert Indien oft das Bild einer unentwirrbaren Gemengelage von Religionen, Kulturen und Kasten, einer Gesellschaft, die von sozialen und vordergründig religiösen Konflikten zerrissen ist. Zu dieser typisch indischen Vielfalt - Hunderte von Kasten und Tausende von Subkasten - gesellt sich die sprachliche Vielfalt: in Indien gibt es 114 Sprachen, die als solche anerkannt sind, doch bei weitem nicht alle offiziellen Rechtsstatus haben.

Naga-Studentinnen in Nagaland
Naga-Studentinnen in Nagaland Foto: Thomas Benedikter

Indien ist sprachlich gesehen noch stärker ausdifferenziert als Europa, und deshalb nicht nur unvermeidlich mit allen Aspekten des Multilingualismus konfrontiert, sondern auch mit der Herausforderung, die sprachlichen Minderheiten zu schützen. Da der politische und kulturelle Gesamtkontext wenige große Sprachen - zum Beispiel Hindi, Bengali, Marathi, Tamil - begünstigt, die allesamt in einem oder mehreren indischen Bundesstaaten als "Staatssprache" anerkannt sind, fühlen sich viele Sprecher einer kleineren Sprache bedroht und durch die offizielle Sprachenpolitik diskriminiert. Doch auf dem Hintergrund der täglich in der öffentlichen Debatte dominanten Probleme geht die Sprachenfrage meist unter oder verbleibt im Schatten der Religions- und Kastenkonflikte. So erfahren die Sprecher kleinerer Sprachen tagtäglich, dass ihre Sprache wenig mehr als das Prestige eines x-beliebigen Dialekts genießt, ohne kulturellen oder wirtschaftlichen Wert. Offensichtlich befinden sich viele dieser Sprachen in den meisten Sprachdomänen auf dem absteigenden Ast. Verschiedene Minderheitensprachen Indiens, vor allem Sprachen indigener Völker, sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden oder stehen am Rand des Aussterbens. Ist dies der Preis, den Indien ganz fraglos für die kulturelle Integration der Nation und die wirtschaftliche Modernisierung zu zahlen bereit ist.

Welche sind eigentlich die "wahren" Minderheitensprachen Indiens, wer sind die Sprachminderheiten? 97 Prozent der heute mindestens 1,15 Milliarden Bürger/innen sprechen eine der 22 verfassungsmäßig anerkannten (scheduled) Sprachen. Rund 3 Prozent hingegen sprechen eine jener 92 Sprachen, die zwar als Sprachen registriert werden, aber keine amtliche Anerkennung erfahren haben. Sprachen, die von weniger als 10.000 Inder/innen gesprochen werden, werden gar nicht mehr als Sprachen erfasst. Die verfassungsmäßige Anerkennung bedeutet nicht, dass eine Sprache auch tatsächlich durch bundesstaatliches oder staatliches Recht geschützt wird, oder etwa als Amtssprache im jeweiligen Hauptsiedlungsgebiet ihrer Sprecher anerkannt ist. Dabei gibt es in Indien nicht verfassungsmäßig anerkannte Sprachen, die von 5, 6 oder gar 9 Millionen Bürgern als Muttersprache gesprochen werden, also mehr als die mittelgroßen europäischen Sprachen. Die Mehrheit dieser Sprachen ist den über 80 Adivasi-Völker zuzuordnen, den Ureinwohnern des Subkontinents.

Tabelle zu Indiens Sprachen
Tabelle: Indiens Sprachen Foto: Thomas Benedikter

Gibt es eine nationale Sprache Indiens? 2004 sprachen 42 Prozent der Inder Hindi in Kombination mit einem der vielen Hindi-Dialekte oder Varianten als erste Sprache, also mindestens 440 Millionen Inder. Insgesamt kann sich rund die Hälfte der Einwohner des Riesenstaats auf Hindi verständigen. Als überregionale Verkehrssprache ist jedoch Englisch weit bedeutender als Hindi, vor allem weil es für den sozialen Aufstieg und das Bildungswesen Schlüsselfunktion hat und immer mehr Domänen besetzt: die Politik, das Management größerer Unternehmen und Wirtschaftsbeziehungen auf gesamtstaatlicher Ebene, das Bildungswesen, die Forschung und Technologie. Aufgrund seiner Kolonialgeschichte hat das Englische in Indien eine weit dominantere Rolle als in Europa, obwohl laut EU-Statistik auch die Hälfte der Europäer angibt, sich auf Englisch unterhalten zu können. Der Vormarsch des Englischen in allen Lebensbereichen entspricht der heutigen Phase der verstärkten inneren Integration und Öffnung des Landes nach außen, was aber den Minderheitensprachen durchaus nicht immer zum Nutzen gereicht.

Im Kontext der Sprachenwelt Indiens muss der Begriff "Sprachminderheit" sehr gut definiert werden. Da auf Bundesebene ein einheitliches Grundprinzip der Anerkennung von Sprachen und konsequente Vorgaben zur Regelung der Sprachenrechte durch die Bundesstaaten fehlen, hängt der Status einer Sprache und die wesentlichen Rechte ihrer Sprecher von den 28 Bundesstaaten ab, die für den amtlichen Sprachgebrauch zuständig sind. In den 1950er und 1960er Jahren ist die bundesstaatliche Gliederung auch primär nach sprachlichen Kriterien erneuert worden. Was hingegen im indischen Staatsaufbau im Unterschied zu Europa fehlt, sind Regionen (in der Größenordnung der deutschen Bundesländer, der spanischen Autonomen Gemeinschaften, der Regionen Italiens), die mit einem Mindestmaß an legislativen und vor allem auch sprachenpolitischen Kompetenzen ausgestattet wären. Diese substaatlichen Einheiten wären - wie in Europa - am besten geeignet, einen Rechtsrahmen für Schutz und Anerkennung kleinerer, regionaler Sprachen, indigener Sprachen und anderer Sprachminderheiten herzustellen. So genießen in Indien nicht nur die nicht verfassungsmäßig anerkannte Sprachen (92 von 114 derzeit) wenig Aufmerksamkeit, sondern auch einige größere Sprachen haben mitunter erstaunlich wenig Rechte, die in einem Staat offizielle Amtssprache sind und in einem oder mehreren Nachbarstaaten von einer Minderheit gesprochen werden. Konkani ist zum Beispiel in Goa anerkannt, wird aber in den angrenzenden Staaten nicht geschützt. Die Sprachen Maithili, Santali, Kashmiri, Sindhi, Dogri und Bodo sind zwar im 6. Anhang der Bundesverfassung anerkannt, doch sind sie in keinem Bundesstaat offizielle Amtssprache.

Khasi in Sohra
Alte Frau und Kind: Khasi in Sohra, Bundesstaat Meghalaya Foto: Thomas Benedikter

Um eine Größenordnung der Sprachminderheiten vorzugeben: rund 120 Millionen Bürger/innen Indiens sprechen als Hauptsprache ihrer Familie eine Sprache, die in ihrem Wohnsitz eine Minderheit bildet. Mindestens 31 Millionen Inder sprechen als Hauptsprache eine "absolute Minderheitensprache", die überall in der Minderheit ist. Das sind vor allem die Sprachen der Ureinwohner des Subkontinents, der Adivasi. Warum nur 31 Millionen, obwohl in Indien mindestens 70 Millionen Menschen zu den Adivasi gehören? Auch dies ist eine gravierende Auswirkung jahrhundertelanger Diskriminierung: weit mehr als die Hälfte der Adivasi fühlen sich zwar noch als solche, sprechen aber keine Adivasi-Sprache mehr. So sind die Adivasi die Hauptbetroffenen des Sprachenschwunds in Indien. Sie stehen in jedem Lebensbereich, vom Bildungssystem bis zur Verwaltung, von den Medien bis zum modernen Wirtschaftsleben, unter starkem Assimilationsdruck.

Andererseits muss man anerkennen, dass das vielsprachige Indien einen weit höheren Aufwand als etwa die EU betreibt, um seine interne Sprachenvielfalt zu bewältigen. In Europa wird als mittelfristiges Bildungsziel die Beherrschung von drei europäischen Sprachen vorgegeben, dennoch ist die Mehrheit der Bevölkerung der EU noch einsprachig. In Indien ist dies zwar auch so, doch der Anteil der zwei- und mehrsprachigen Bürger (dies wird bei den Volkszählungen erfasst) steigt sehr rasch, auch als Folge des seit 30 Jahren offiziellen Bildungsleitbilds der "Three-Language-Formula". Demgemäß soll jedes indische Kind seine Muttersprache lernen können und dann weitere zwei größere Verkehrssprachen (meist Hindi oder die Bundesstaatssprache und Englisch) Wenn ein Kind in der komplexen Sprachenwelt Indiens eine "absolute", nicht geschützte beziehungsweise anerkannte Minderheitensprache spricht und am öffentlichen Leben und modernen Medien teilhaben will, muss es nicht nur zwei, sondern drei weitere Sprachen sprechen, nämlich die Amtssprache des Bundesstaats und die zwei nationalen Verkehrssprachen Hindi und Englisch. Das bedeutet für die Sprecher der Minderheitensprachen Viersprachigkeit. Kein Leichtes, wenn man bedenkt, dass fast 40 Prozent der Inder Analphabeten sind und ein Viertel der Bevölkerung zu arm ist, um sich ausreichend ernähren zu können.

 

 

Weiterführende Literatur

Thomas Benedikter: Language Policy and Linguistic Minorities in India
An appraisal of the linguistic rights of minorities in India
Reihe: Asien: Forschung und Wissenschaft/LIT Studies on Asia
Bd. 3, 2009, 232 S., 29,90 EUR, br., ISBN 978-3-643-10231-7

India not only is concerned with inevitable multilingualism, but also with the rights of many millions of speakers of minority languages. As the political and cultural context privileges some major languages, linguistic minorities often feel discriminated against by the current language policy of the Union and the States. They experience on a daily basis that their mother tongues are deemed worthless dialects that have little utility in modern life. Many such languages have definitively disappeared, and several more are on the brink of extinction. Is this the inevitable price to be paid for economic modernization, cultural homogenisation and the multilingual fabric of India's society at large?

This book is an effort to map India's linguistic minorities and to assess the language policy towards these communities. The author, a senior researcher in South Tyrol (Italy), assuming linguistic rights as a component of fundamental human rights, codified in number of international covenants and in the Indian Constitution, provides an appraisal of the extent to which language rights are respected in India's multilingual reality, which takes into consideration the experiences of minority language protection in other regions.

 

 

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