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21. August 2010. Analysen: Geschichte & Religion - Indien Die Entstehung eines Parteiensystems in der Indischen Union (II)

3. Der Prozess der Urbanisierung

Keine westeuropäische Partei - und auch nicht der Congress - verfolgten ein Programm der Urbanisierung. Aber die Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik des Congress kann - vergleichbar zur europäischen Parteiengeschichte - gar keine andere Konsequenz als diejenige einer finanziellen Förderung, kulturellen Aufwertung und sozialen Durchsetzung städtischer Wirtschaftstätigkeit und Lebenslagen haben. Der Congress fördert im Rahmen von 5-Jahresplänen die Entstehung eines dieser regionalen Großmacht entsprechenden Industriesektors. Es entstehen eine überwiegend staatlich kontrollierte Grundstoff- und verarbeitende Industrie. Der Energie-, Transport-, Chemie- und Maschinengütersektor werden im Rahmen einer "mixed economy" beschleunigt ausgebaut, es entsteht ein eigenständiger indischer "militärisch-industrieller Komplex". Sozialprogramme und die Entwicklung des Agrarsektors finden im Kern bis heute keine angemessene Förderung. Dies wirft zunächst theoretisch, seit Beginn der 70er Jahre praktisch, die Frage auf, ob der Congress, der seine Wähler nicht nur bei einer Minderheitenkoalition, sondern auch bei den dominanten Agrarkasten finden muss, in der Lage ist, diese jetzt artikulations- und organisationsfähigen Agrarschichten an sich zu binden.

Die nach der Unabhängigkeit vor allem in Nordindien durchgeführte "Zamindari-Abolition", Auflösung der (größten) Steuerpachten - de facto die Aufteilung des ausgedehntesten Großgrundbesitzes - kam einer gigantischen Umverteilung der riesigen "estates" eines Prozentes der Agrarbevölkerung auf die oberen 20 % der Bauernschichten gleich. Auf die Unterstützung seitens dieser Großzamindare, "Raj Bahadurs" und Magnaten konnte der Congress verzichten. Auf die Unterstützung seitens dieses, die dominanten Kasten repräsentierenden Fünftels der Agrarbevölkerung, war dagegen der Congress seit den 30er Jahren angewiesen. Trotz dieses Geschenkes kann der Congress aber nicht hoffen, dass diese organisationsmächtigen Kasten und Kastenkoalitionen fortdauernd eine Politik und Partei unterstützen, die vorrangig auf die Industrialisierung und den städtischen Sektor setzen. Hinzu tritt aber, dass sich unterhalb der regional immer wieder anders gestalteten Kastenpyramide Kasten von mittleren oder niederem Rang befinden, die der Congress nur begrenzt erfassen konnte, die den Boden selbst bebauen und von der langsam einsetzenden "grünen Revolution" vorrangig profitieren. Diese Kasten wollen zudem ihre rituelle Degradierung gegenüber den dominanten Kasten - und den mit ihnen verbündeten Congresspolitikern - nicht mehr länger hinnehmen. Aus diesen, in Nordindien beheimateten Kastenkreisen entwickelt sich seit Ende der 60er Jahre der neue Typus einer spezifisch indischen Bauernpartei.

Die Entwicklung dieser Partei bzw. Parteien ist von "fission and fusion" geprägt, da sich jeweils andere mittlere und niedere Kasten mit unterschiedlichen Graden der Prosperität, des Unternehmergeistes und der sozialen Ausgrenzung regional zusammenfinden müssen und ihre prekäre Einheit wird oft durch interne Politiker- und Kastenrivalitäten oder von außen durch Congressintrigen wieder zerstört. Über Umwege der Spaltung und Neugründung führt diese ökonomische, soziale und rituelle Reform- und Protestbewegung zur Entstehung der Janata Dal Partei, die die meisten ihrer Mitglieder in Uttar Pradesh, Haryana und Bihar, später auch im Süden, in Karnataka findet. Obwohl vorrangig eine Agrarpartei der "Kulaken" und der marktwirtschaftlich orientierten Mittelbauern trägt die Partei - vor allem ihre jeweiligen Landessektionen - auch die Züge einer Regionalpartei. Darüber hinaus trägt sie die Züge einer sozialen und angesichts der Totalität der Kastenordnung unvermeidbar religiösen Reformbewegung. Die Führer der Partei fordern "faire Preise" und eine Aufhebung der Preiskontrollen für Agrarprodukte, sie verlangen mehr und billige Agrarkredite, Düngemittel, Stromversorgung, Vermarktungsmechanismen und eine Umorientierung der Wirtschaftspolitik. Sie fordern aber auch - wie bereits erwähnt - seit 1990 die Reservierung von Quoten für sich, also für die "other backward classes" - nicht nur für die Unberührbaren -, sie polemisieren gegen den Kastendünkel der "zweimal Geborenen" und gegen die sie als "Shudras" diskriminierende Kastenordnung. Die entsprechenden Kasten führen aber unausgesprochen vor Ort einen Zweifrontenkrieg: Sie formieren sich einerseits gegen die mit dem Congress verbündeten Agrareliten, denen sie Faulheit und Hochmut vorwerfen, andererseits gegen die immer noch mit dem Congress verbündeten Unberührbaren, die sie als Landarbeiter brauchen, deren Rechtlosigkeit ihnen nützt und deren rituelle Inferiorität ihnen willkommen ist. (R. Thakur: 252)

Die entscheidende, die ländliche Machtfrage wird damit von einer Agrarpartei gestellt, die gerade aufgrund des (Kasten) Systems, gegen das sie opponiert, regional und sozial brüchig ist und die zudem unglaubwürdig erscheint, weil sie sich mit den ärmsten, einem sozialen und rituellen "Lumpenproletariat" nicht solidarisieren kann. In den einzelnen Bundesstaaten repräsentiert die Janata Dal deshalb eine weitere Etappe in dem vom Congress angestoßenen, aber ihm entglittenen Prozess der tiefenwirksamen Demokratisierung, auf gesamtindischer Ebene bildet die Janata Dal eine wesentliche Variante der jetzt irreversiblen Regionalisierung indischer Politik. Eine qua Industrialisierung und Entwicklung notgedrungenermaßen verstärkte Urbanisierung und Aufwertung städtischer Lebenslagen und Interessen hat damit zu einer unvorhergesehenen Konsequenz geführt. Es entsteht keine geschlossene und von Aristokraten und Großagrariern dominierte Organisation oder eine vorrangig von dominanten Kasten getragene Partei, sondern eine eher instabile Kulaken- und Protestbewegung. Die verbliebenen überwiegend hinduorthodoxen Magnaten und Großgrundbesitzer wählen die BJP und die Unterstützung eines wesentlichen Teils der dominanten Kasten hat sich der Congress bewahren können.

Schließlich hat er seit mehr 60 Jahren die Autoritätsträger und Honoratioren dieser Kasten in seinem Apparat akkomodiert. Jene Teile, die aber ihre Loyalität aufgekündigt haben, wählen jetzt Regionalparteien oder aber sie unterstützen die Janata Dal und tragen dadurch zu ihrem internen Konfliktpotential und ihrer Unglaubwürdigkeit bei. In dem Maße, in dem die BJP ihren Hindunationalismus folklorisiert, ihren aristokratischen Kastendünkel abschwächt und ihrerseits mit regionalen Parteien koaliert, kann selbst sie Wähler oder besser Führer mittel- und niederrangiger Kasten gewinnen.

Eine zunehmende, wenn auch noch immer schwache Urbanisierung, dafür aber eine starke Aufwertung und Durchsetzung städtischer Lebenslagen - auch in den oberen Bauernschichten und dichtbesiedelten Landstrichen - am Ende die Rede von den neuen städtischen "middle classes" setzen damit keine spezifische parteipolitische Entwicklung frei. Angesichts einer immer noch überwältigenden Mehrheit ländlicher Wähler existiert vielmehr ein politischer Markt, auf dem, zunehmend weniger kastenspezifisch differenziert, fast alle Parteien konkurrieren müssen. Der Congress musste und muss sich hier neben den Stimmen der Unberührbaren und der "Stämme" diejenigen der großen dominanten Kasten sichern, wollte er ein Drittel und will er jetzt wenigstens ein Viertel der Wählerstimmen kontrollieren. Die BJP auf dem Wege zur Volks- und Zentrumspartei muss hier auf Dauer mehr als nur die Stimmen der ländlichen Elitekasten an sich binden und die Janata Dal und ihre Folgeorganisationen wollten und wollen hier den Block der mittleren und unteren Kasten als eine eigenständige Kraft in Konkurrenz zum Congress oder anderen Regionalparteien organisieren.

Aber auch die kommunistischen und sozialistischen Parteien waren - von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich - immer gezwungen, innerhalb dieser nach Kastenrang und ökonomischem Status - Groß- und Kleinbauern, Pächter und Halbpächter, Dorfhandwerker und Erntearbeiter - extrem differenzierten Bevölkerungsmehrheit eine Wählerklientel zu suchen. Diese Konkurrenz und insbesondere die Entstehung der Janata Dal förderten damit die politische Artikulations- und Organisationskompetenz auch der unteren Kasten und sie führten im Falle des größten Gliedstaates Uttar Pradesh - ca. 150 Millionen Einwohner - zur Entstehung einer ersten eigenständigen und zugleich korrupten und ineffektiven Partei der Unberührbaren - der Bahujan Samaj Party. Die Konkurrenz der sozialistischen und kommunistischen Parteien hinwiederum, verbunden mit der Entstehung außerparlamentarischer und maoistischer Splitterorganisationen, führte in Bihar, dem zweitgrößten Bundesstaat - ca. 90 Millionen Einwohner - zur Bildung von Guerilla- und Terrorgruppen, die sich auf einzelne Unberührbarenkasten stützen, die Vergeltungsschläge von Großgrundbesitzer "Milizen" provozierten und weite Teile Bihars unregierbar gemacht haben.

Beide Entwicklungen zeigen aber bereits, dass der Prozess der Urbanisierung und die Frage nach dem eventuellen Auftreten einer Partei der Agrarinteressen parallelisiert werden muss mit dem Prozess nachholender Industrialisierung und einer weiteren Frage: Diese Frage ist, ob sich in dieser immer noch bäuerlichen Gesellschaft der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht vorrangig im Agrarsektor einerseits politisch artikuliert, andererseits durch die Kastenordnung verzerrt wird? (R. Thakur: 248)

4. Der Prozess der Industrialisierung

Im Rahmen eines äußerst bescheidenen, von Hinduunternehmerinteressen getragenen Industrialisierungsprozesses waren seit der Jahrhundertwende kleine, oft kastenstrukturierte und zerstrittene Gewerkschaften entstanden. Das indische Unternehmertum dagegen hatte eigene, oft kastenspezifische und regionale Interessengruppen gebildet, darüber hinaus hatte es sich Dank seiner Mitgliedschaft in den "chambers of commerce and industry" eine indienweite und imperiale Interessenorganisation gesichert. Während der 20er Jahre wird die kommunistische Partei gebildet, während innerhalb des Congress eine vor allem auch von Nehru getragene sozialistische Fraktion entsteht. Der Congress und CPI bleiben aus unterschiedlichen strategischen Einsetzungen wechselseitig lange Zeit auf Distanz.

Das indische Unternehmertum sieht keinen Vorteil in der Gründung einer eigenen Partei. Im Maßstabe des Macht- und Respektzuwachses des Congress tritt es in immer stärkerem Maße auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegung. Nach der Unabhängigkeit lassen die umfassende Vormachtstellung des Congress und sein Wirtschaftsprogramm einer nachholenden Industrialisierung auf der Grundlage einer "mixed economy" die Bildung einer Unternehmerpartei als wenig aussichtsreich und zugleich als unnötig erscheinen. Das große und organisierte Industrieunternehmertum, getragen von wenigen, zumeist hinduorthodoxen Familien weiß, dass der Ausbau eines eigenen indischen Industrie-, Energie-, Grundstoff-, Finanz- und Rüstungskomplexes ihm trotz der Staatsvorherrschaft genügend Investitionsfelder beläßt. Vor allem schätzt es den Protektionismus dieses Programms, den Zugang zu staatlichen Krediten und die Sicherung von de facto Produktions- und Handelsmonopolen. Dafür ist es bereit, die "licence raj" und die auf Arbeitsplatzsicherung ausgerichtete Sozialgesetzgebung des Congress hinzunehmen.

Die nach Millionen zählenden, eher kleinstädtischen Basarunternehmer und Händler dagegen sind allenfalls in ihrer Kaste organisiert, lokal und regionalsprachig orientiert. Sie können sich nicht angesichts ihrer enormen Interessen-, Regional- und Kastenunterschiede indienweit organisieren. Sie wissen aber, dass sie bei den regionalen Congressapparaten und später bei den Regionalparteien ihren Einfluß geltend machen können. Unter diesen Umständen wundert es nicht, dass es in den zwei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit nur einmal zu der Gründung einer Unternehmerpartei, der Svatantra kommt, dass die Gründung sich vorrangig der Abspaltung eines führenden Congressveteranen, Raja Gopalachari verdankt und dass diese Partei geringe Wahlerfolge erzielt und von Anfang an den Charakter einer Regionalpartei aufweist.

Diese Rahmenbedingungen müssen sich ändern, wenn der Congress seine Macht, seine ausgreifende ideologische Mittelpunktstellung verliert, wenn eine erfolgreiche Industrialisierung neue Kräfte, Interessen und Ambitionen begründet und wenn das internationale Umfeld und eine wirtschaftstheoretische Zeitenwende neue Forderungen anmelden. Von ihrem ursprünglichen "sozialistischen" Wirtschaftsprogramm - "Tötet die Armut", 1970 - war Indira Gandhi selbst seit 1980 abgerückt. Ihr Programm, nicht mehr "slightly left but slighty right of self interest", setzt jetzt auf wirtschaftliche und technische Modernisierung. Aber weder sie noch ihr Sohn sind in der Lage, die von den congressfernen Händlerkreisen, vom Ausland und von indischen Wirtschaftsexperten gewünschte Liberalisierung beschleunigt und sichtbar voranzutreiben. Damit erschüttern die Nehru-Tochter und der Nehru-Enkel ein staats- und entwicklungspolitisches Grundelement des Congressprogramms, ohne einen parteipolitischen Nutzen, neue Wählerstimmen und Klienten zu sichern.

Die unter der "Kommandowirtschaft" und "licence raj" benachteiligten einheimischen Händler und Unternehmer sind aber inzwischen zahlreicher und organisationsfähiger geworden und sie finden seit den 80er Jahren in der BJP zum ersten Mal eine nationale Partei, die ihre Forderungen nach interner Liberalisierung bei fortdauernder Außenabschottung ebenso berücksichtigt wie ihre hinduorthodoxen oder -nationalistischen Neigungen. Die großen Industriekonglomerate dagegen, die im Schatten des Congress Banyanbaumes prächtig gediehen sind, müssen inzwischen eine Liberalisierung nicht mehr fürchten und politisch wollen und müssen sie mit der stärksten Kraft gehen. In dem Maße, in dem die BJP sich zur erfolgreichen, stabilen und außen- wie innenpolitisch moderaten "Volkspartei" wandelt, kann sie auch mit der Unterstützung dieser Industrie- und Konzernkreise rechnen. Erst der Ausbau und inzwischen die Liberalisierung eines spezifisch indischen Staatskapitalismus haben damit nicht zur Bildung einer Partei der Industrieinteressen und des Industriekapitals geführt. Statt dessen zeigt sich eine Entwicklung, bei der zunächst die großen Unternehmen bei dem All India Congress und die kleinen Händler bei den regionalen Congressapparaten ihre Interessen gesichert sahen, bis, parallel zur Durchsetzung von Liberalisierungsforderungen und der BJP, sich diese Interessen in immer stärkerem Maße auf diese neue nationale Alternative ausgerichtet haben.

Der Prozess der Industrialisierung löst neben dem Konflikt zwischen Industrie- und Agrarsektor, Industrie- und Agrarkapital, vor allem aber den Konflikt zwischen Industriekapital und Industriearbeit aus. Welchen Einfluß konnten die Gewerkschaften oder Parteien einer insgesamt immer noch geringfügigen Industriearbeiterschaft außerhalb oder innerhalb des Congress gewinnen? Die Interessen einer nach der Unabhängigkeit anwachsenden Industriearbeiterschaft werden vordergründig, programmatisch außerhalb des Congress seit langem von der CPI, innerhalb des Congress von einer sozialistischen Fraktion vertreten. CPI und Congress stützen sich bei ihren Bemühungen, die in vielerlei Industrieenklaven lokalisierten und sektoral und personell zersplitterten Gewerkschaften zu erfassen, auf gesamtindische Dachverbände, den AITUC (CPI) und INTUC (Congress). Die relative Bedeutungslosigkeit des Industrialisierungsprozesses, die Vorrang- und Mittelpunktstellung des Congress, die schiere Größe und Heterogenität Indiens, schließlich der Vorrang einer Kastenstruktur vor einer Klassenstruktur auf dem Lande, sie alle verhindern aber die Entstehung einer einheitlichen und breitenwirksamen sozialistischen oder kommunistischen Partei. (R. L. Hardgrave: 125-127)

Nehru kann die sozialistische Bewegung und Fraktion, die während des Unabhängigkeitskampfes dem Congress beigetreten war, nach der Unabhängigkeit gegen den Widerstand V. Patels nicht halten. Noch schlimmer aber für die Entwicklung einer eigenständigen sozialistischen Partei: Diejenigen sozialistischen Politiker, die 1949 den Congress verlassen, können nicht alle ihre Weggenossen zum Austritt bewegen. Dies gibt dem Congress in der Folgezeit die Möglichkeit, sozialistische Politiker zur Rückkehr zu bewegen, Spaltungen auszulösen und bestimmten Wählergruppen zu demonstrieren, dass sozialistische Politik vom Congress effektiver, wenn auch nicht glaubwürdiger umgesetzt wird. Fortdauernde Spaltungsprozesse zerstören die Sozialisten als eine gesamtindische Parteienalternative, sie regionalisieren die Partei und verwandeln die verschiedenen Folgeparteien in Organisationen um, die auf einzelne Führer und deren Kastenklientel und Regionalgefolgschaft ausgerichtet sind.

Die kommunistische Partei kann der Congress dagegen weder marginalisieren, noch will er sie absorbieren. Aber selbstbeschlossene Marginalisierung bringt für diese in Bengalen entstandene Partei eigene Probleme mit sich. Die CPI ist in Abwehr kolonialer Repression, als Kader- und Geheimorganisation entstanden. Als Kaderorganisation kann sie mit Hilfe ihres Dachverbandes die Arbeiter in den verschiedenen Industrieenklaven zu erfassen suchen. Das würde sie aber zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilen. Oder aber sie muss neben den Interessen der Industriearbeiter vorrangig die Interessen der Landarbeiter, im alles beherrschendem Idiom der Kastenordnung also die Interessen der Unberührbaren vertreten. Um das zu schaffen müßte die Partei aber über starke regionale Parteiorganisationen verfügen, denn die ländlichen Unterdrückungsverhältnisse, also die Kastenordnungen, sind regional unterschiedlich und um diese rechtlosen und zur eigener Organisation nicht befähigten Menschen zur mobilisieren, bedarf es eines regionalen Parteiapparates, in dem sich unvermeidlich höherkastige Kader für die Interessen von Kastenlosen einsetzen müßten. Die kommunistische Partei verfügt aber nur in ihrer Entstehungsregion, in Westbengalen und aufgrund besonderer Rahmenbedingungen in dem südindischen Kerala, über eine solche starke Organisation. In ihrer Ursprungsregion prägen die Partei darüber hinaus kulturelle, soziale und ständische Voreingenommenheiten, die eben jene Kolonialmacht mitbegründet hat, gegen die diese Partei zuerst angetreten ist. Die Kolonialmacht hatte nicht nur eine bengalische Kulturrenaissance ausgelöst, sie hatte hier ihre Herrschaft mit Hilfe hochqualifizierter, der Brahmanen- und Schreiberkaste entstammenden bengalischen Beamten ausgeübt. Die Gründer, Führer und Kadermitglieder der Partei kommen häufig aus dieser frühzeitig westernisierten, bald bengalinationalistischen und immer landbesitzenden Schicht.

Will die kommunistische Partei die Interessen der "Arbeit" gegen diejenigen des "Kapitals" auch auf dem Lande verteidigen, dann kann sie das in Ermangelung einer entsprechenden Parteiorganisation nur in Westbengalen versuchen. Hierzu müßte sie aber zunächst ihre eigenen unausgesprochenen Kasten-, Klassen- und Bildungsvorurteile überwinden. Wie die Entwicklung der CPI seit der Unabhängigkeit zeigt, gelingt das nur begrenzt. Bis zum Ausbruch des indochinesischen Grenzkrieges verharrt die CPI noch in der Rolle einer gesamtindisch ausgerichteten und auf die Mobilisierung von Industriearbeitern und -gewerkschaften orientierten Partei - mit außerhalb von Bengalen und Kerala begrenztem Erfolg. Der indochinesische Grenzkrieg verschärft aber jetzt endgültig eine interne Kontroverse. Seit langem hatte ein "rechter" Flügel, der den Direktiven Moskau's folgte, einem linken, der für eine eigenständige Politik plädierte, gegenübergestanden. Der rechte Flügel hatte sich auf Anraten der Sowjetunion dem Congress politisch angenähert, der linke Flügel beharrte auf einer eigenständigen revolutionären Politik. Der rechte Flügel stellt sich während des Grenzkrieges auf die Seite der "Nation" und des Congress; der linke stellt sich auf die Seite der "internationalen proletarischen Einheit", also de facto auf die Seite China's.

1964 kommt es schließlich zur Spaltung. Es entsteht neben der CPI, die CPI-Marxist genannte Partei, der sich der mächtigste Apparat, der westbengalische anschließt, während sich im übrigen Indien die CPI eher gleichmäßig spaltet. Die CPI-Marxist verwandelt sich damit zu einer einerseits vorrangig bengalischen, andererseits auch indienweiten Partei, die in der Folgezeit auch auf gesamtindischer Ebene der CPI langsam den Rang abläuft. Die ihrer Regionalbasis und auf gesamtindischer Ebene wichtiger Mitglieder beraubte CPI stützt sich in den kommenden Jahren in noch stärkerem Maße auf die Sowjetunion. Parallel zu der seit Ende der 60er Jahre verfestigten strategischen, militärischen und wirtschaftlichen Allianz zwischen Indien und der Sowjetunion verwandelt sich die Partei am Ende in einen schwachen Allianzpartner des Congress.

Die CPI-M dagegen kann jetzt ungehindert einerseits ihr Ansehen als eigenständige und genuin indische Partei und andererseits ihre bengalische Vormachtstellung stärken. Auf nationaler Ebene konkurriert sie als Partei der Industriearbeiterschaft mit schwachen, regionalisierten sozialistischen Parteisplittern und einem Dank seinem Gewerkschaftsdachverband allgegenwärtigen Congress. In Westbengalen dagegen erweitert sie sich vordergründig und programmatisch von einer Partei der industriellen Lohnarbeit zu einer der ländlichen Lohnarbeit. (R. L. Hardgrave: 161-161)

Sie erweitert dadurch zugleich ihre Wählerbasis, schwächt den Congress und kann schließlich seit dem Ende der 60er Jahre bis heute die Herrschaft über Westbengalen auf dem demokratischen Mehrheitswege sichern. Sie setzt sich aber keineswegs vorrangig für die Landlosen und Unberührbaren ein, noch stürzt sie die ländlichen Klassen- oder Kastenverhältnisse um. Sie nimmt vielmehr die in Westbengalen extreme Landknappheit und Verelendung auch der Klein- und Mittelbauern zum Anlaß für Agrarreformen, die diesen Gruppen nützen, ihrer Parteigefolgschaft zugute kommen und der Partei eine breite und eine lokal einflußreiche Wählerklientel sichern. Im Kern setzt die Partei in Westbengalen Maßnahmen durch, die die Janata Dal mit wechselndem Erfolg in Nordindien für eine vergleichbare Wählerklientel fordert. Diese Absicherung ihrer Herrschaft und dieser Verzicht auf einen Umsturz der ländlichen Herrschaftsverhältnisse bezahlt die neue Regionalpartei allerdings zunächst mit einer Abspaltung: Seit 1968 wenden sich jugendliche maoistische Parteimitglieder ab und versuchen im Distrikt von Naxalbari im Norden Bengalens mit terroristischen Mitteln eine Agrarrevolution auszulösen. Die Partei liquidiert diese Revolutionäre und diese Spaltungstendenzen im Rahmen eines mitleidslosen Schattenkrieges. Sie will der congressdominierten Zentralregierung nicht den Vorwand liefern, ihre regionale Machtbasis zu zerstören. In dem benachbarten Bihar leben einzelne dieser wieder und wieder fraktionierten "maoistischen" Organisationen, gestützt auf einzelne Kasten und unzugängliche Gebiete, bis heute weiter.

Die Organisation der Industriearbeiterschaft hat sich damit angesichts der Vorrangstellung des Congress und des fortdauernden Enklavencharakters des Industriesektors - in einem immer noch vorwiegend agrarischen Staat - als schwierig und wahlpolitisch aussichtslos erwiesen. Die Organisation der ländlichen "Lohnarbeiterschaft" und damit die Frage nach einer Agrarreform oder Agrarrevolution zugunsten von Bevölkerungsgruppen, die rund ein Fünftel einer Milliarde Menschen bilden, muss angesichts unüberwindbarer Schwierigkeiten bislang scheitern. Denn die agrarischen Unterdrückungsverhältnisse artikulieren sich in regional immer unterschiedlichen Kastenregimen; Boden- und Ressourcenknappheit verstellen einfache Umverteilungen; die Adressaten solcher Reformen sind zu eigener Organisation nicht befähigt oder sie artikulieren ihre Interessen im Idiom der Kastenordnung und gegeneinander. Vor allem aber: die Parteien haben seit langem gelernt wie sie jeweils in einer Region einzelne Kasten für ihren Wahlsieg mobilisieren können, ohne sich dabei auf das sie und die Herrschaftsverhältnisse gefährdende Wagnis umfassender Agrarreformen einlassen zu müssen.

Schluß

Eine Betrachtung der vier Modernisierungsprozesse und der ihnen spezifischen Konfliktlinien hat uns gezeigt, dass in Indien die entsprechenden Parteibildungsprozesse entweder als extreme Varianten dieses Modells oder aber als Widerlegung der dem Modell konstitutiven Annahmen eingeschätzt werden müssen. In fünf Jahrzehnten der Konsolidierung demokratischer Herrschaft ist in Indien, so ließe sich vordergründig zusammenfassen, ein Parteiensystem entstanden, das mit demjenigen europäischer Demokratien wenig gemeinsam hat: Das Parteiensystem ist die Konsequenz eines Prozesses ideologischer und politischer Ausdifferenzierung, der im Wesentlichen auf Kosten und im Schatten einer übermächtigen Parteiorganisation, des Congress, vonstatten ging. Zu der Entstehung dieses Parteienspektrums haben aber jene Modernisierungsprozesse und Konfliktlinien, die in Europa den Prozess der Parteibildung zu Beginn geprägt haben - Zentrum versus Peripherie; laizistischer Staat versus organisierte Religion - vordergründig sehr viel stärker beigetragen, als jene letzte Konfliktlinie, die in den europäischen Demokratien das Parteienspektrum am nachhaltigsten geprägt hat - Kapital versus Arbeit. Indiens Demokratie erscheint damit einerseits als von einer ideologisch breiten Unabhängigkeitsbewegung lange Zeit dominiert, andererseits als noch unvollendet. Aber halten die entwickelten Demokratien der indischen tatsächlich ihre Vergangenheit als deren Zukunft entgegen? Zeigt nicht vielmehr der Erfolg dieses Demokratisierungsprozesses die Grenzen eines auf europäische Verhältnisse zugeschnittenen Erklärungsmodells auf?

Wir haben gezeigt, wie besondere Rahmenbedingungen - die Größe und Heterogenität Indiens, das Beharrungsvermögen eines Kastensystems und einer Bauerngesellschaft und der Tatbestand kolonialer Unterwerfung - die Entstehung einer ideologisch breiten Unabhängigkeitsbewegung möglich und notwendig machten und wir haben gesehen, dass aufgrund dieser Rahmenbedingungen die Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung verzögert und langsam einsetzten. Damit ist ein Parteiensystem "sui generis" entstanden, dessen Parteiorganisationen in erster Linie aus diesen Rahmenbedingungen und erst in zweiter Linie aus den von Lipset/Rokkan abstrahierten vier Konfliktlinien abzuleiten sind. Der Congress ist vorrangig eine antikoloniale Unabhängigkeitsbewegung und erst nachrangig ein Produkt (kolonialer) Modernisierungsprozesse und Mobilisierungschancen. Die Regionalparteien, die in Abwehr von und im Schatten der Congressdominanz entstanden sind, sind in erster Linie ein Ausdruck der Größe und Heterogenität Indiens und erst in zweiter Linie die politische Reaktion auf ein vom Congress getragenes "nationales" Erfassungs- und Zentralisierungsprogramm. Die Vorgängerparteien des Hindunationalismus entstehen nicht in Gegenwehr zu einem Säkularismus der Kolonialherrschaft, sondern als Reaktion auf die unerklärbare Übermacht der Kolonialherren, ihrer Technologie, Kultur und Religion.

Die Jana Sangh/BJP hinwiederum macht in erster Linie Front gegen einen Congress, der die soziale - Unberührbare - und religiöse - Muslime - Heterogenität Indiens wahltaktisch ausnutzt, und sie will den starken, den zentralisierten und militarisierten Staat. Erst in zweiter Linie polemisiert sie gegen das Prinzip des (Congress) Säkularismus und will diesen zugunsten der Mehrheit korrigieren, aber nicht überwinden. Unternehmerparteien - mit Ausnahme der ephemeren Svatantra - hat es bislang nicht gegeben. Die „Bauernparteien" dagegen protestieren zu gleichen Teilen rituell und sozial gegen die Benachteiligung niederer Kasten im Kastensystem und ökonomisch gegen die Benachteiligung im Rahmen einer vom Congress gesetzten Wirtschaftsordnung, die eine nachholende Industrialisierung und den städtischen Sektor vorrangig fördert. Indienspezifische (Kastensystem) und modernisierungsprozeß-spezifische (Urbaner Sektor versus Agrarsektor) Forderungen prägen also gleichermaßen diese Parteien. Die weitgehend verschwundenen sozialistischen und die beiden kommunistischen Parteien sind dagegen die einzigen, deren Entstehung sich in erster Linie einem - allerdings immer noch schwachen - Industrialisierungsprozess verdankt. Allerdings die rasche Zersplitterung der sozialistischen Parteien ist ebenso ein Resultat der Heterogenität Indiens, wie es die relative Stärke der CPM in Bengalen ist.

Die einzigen Parteiorganisationen, deren Entstehung und Programm sich eindeutig aus einer der vier Konfliktlinien ableiten lassen, sind damit das Resultat eines eher schwachen Industrialisierungsprozesses und sie sind im Vergleich zu den anderen Parteitypen quantitativ, wenn auch nicht politisch, bedeutungslos.

Drei nachgeschaltete Ursachenbedingungen haben damit das postkoloniale Parteienspektrum hervorgebracht und geprägt: Die spezifischen Rahmenbedingungen Indiens, die besondere Stellung und Struktur des Congress, die vier genannten Konfliktlinien:
Ausgangspunkt sind die besonderen Rahmenbedingungen Indiens, also seine Größe und Heterogenität, das Beharrungsvermögen seines Kastensystems und seiner Bauerngesellschaft und der Tatbestand kolonialer Herrschaft. Nur sie machen es möglich und notwendig, dass der Congress zunächst als antikoloniale Bewegung, dann als gesamtindische Partei zunächst fast alle ideologischen Lager und Strömungen inkorporiert. Er ist die Partei des Zentrums und der Region, des Staatssäkularismus und hindureformistischer Kreise, des städtischen Wirtschafts- und Entwicklungsinteresses und der dominanten Agrarkasten und des Industriekapitals und der Industriearbeit. Parteien, die außerhalb des Congress oder durch Austritt aus dem Congress entstehen, verfügen damit nicht über den Luxus, sich entwicklungslogisch oder parteipolitisch eindeutig, "rational" auf einer der vier Konfliktlinien (oder vier ideologischen Skalen) positionieren zu können.

Die Besonderheiten Indiens, also die Vorrangstellung der Region, der Agrarregime und des Kastensystems, geben ihnen ihre Mobilisierungschancen und ihren Entscheidungsraum vor. Auf doppelte Weise: Zum einen wirken diese Besonderheiten direkt auf ihren politischen Spielraum ein, zum anderen stehen diese Parteien einem übermächtigen Congress gegenüber, in dem diese Besonderheiten seit langem politischen und ideologischen Ausdruck gefunden haben - in der Form von Manifesten, Interessengruppen und Fraktionen. Der Congress ist der politische Ausdruck der besonderen Rahmenbedingungen Indiens und gegenüber diesem Congress müssen diese Parteien, einem Wettlauf von "Hase und Igel" vergleichbar, politisch mobilisieren. Damit schieben sich zwischen jene vier Mobilisierungsprozesse und Konfliktlinien und ihre "modelladäquaten" reinen parteipolitischen Folgen zwei Filter, die es unwahrscheinlich machen, dass hier eindeutige Parteien eines nationalen Zentrums und der Region, des Laizismus und des organisierten Glaubens, der städtischen Interessen und der Agrarinteressen, des Industriekapitals und der Industriearbeit entstehen können.

Die Parteien müssen also die Vorrangstellung der Region und die Regionalpolitik des Congress, die Heterogenität des Hinduismus und den spezifisch indischen Säkularismus des Congress, das ländliche Kastensystem und die Mobilisierungsstrategie des Congress, den Enklavencharakter des Industriesektors und die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpolitik des Congress in Rechnung stellen, wollen sie politisch Fuß fassen.

Modernisierungsprozesse, die sich in Europa gegenüber historisch bedingten Sonderbedingungen - der Größe, der Heterogenität, des Traditionalismus - weitgehend durchsetzen konnten, können dies im indischen Kontext nicht. Hinzu kommt, dass in Indien von Anfang an eine Partei existiert, die diese ungebrochenen Sonderbedingungen von Anfang an in Rechnung gestellt hat und die darüber hinaus diese vier unvollkommenen Modernisierungsprozesse weitgehend monopolisiert. Dies gibt dem Congress die Möglichkeit zu einer Doppelstrategie. Zumindest während der ersten drei Jahrzehnte versucht er, auf den vier den indischen Verhältnissen bereits angepaßten Konfliktlinien jeweils beide Positionen zu besetzen, von Fall zu Fall, auf unterschiedlichen Ebenen oder durch Gradualisierung und Unverbindlichkeit der Argumentation. Die Parteien, die neben und nach dem Congress entstanden sind, mussten und müssen deshalb von spezifisch indischen Rahmenbedingungen geprägt sein und nicht von Konfliktlinien, die im indischen Kontext ihre Eigengesetzlichkeit und Trennschärfe verlieren und darüber hinaus vom Congress überformt, reinterpretiert und auf beiden Seiten besetzt werden. Damit stellt sich aber abschließend die Frage nach dem Erklärungswert des Lipset/Rokkan-Modells: Es räumt, so scheint es nationalen Sonderbedingungen und - für ein politikwissenschaftliches Modell erstaunlich - der Politik selbst keinen angemessenen, eigenständigen Spielraum ein. Vor allem der letzte Mangel ist gravierend und zeigt sich auf doppelte Weise: Die genannten vier Modernisierungsprozesse und die aus ihnen hervortretenden Konfliktlinien lösen nicht nur politische, parteipolitische Wirkungen aus, sie werden zunächst durch politische Interessen, Interessengruppen und Parteien "avant" oder "avec la lettre" ausgelöst oder mitgetragen. Die vier Prozesse lassen Parteien nicht aus dem Nichts entstehen, sie beschreiben Dimensionen, innerhalb dessen ein Prozess der bereits existierenden Interessenformation und Parteibildung sich ausdifferenzieren kann.

Damit kommt der Frage des Grades der Interessen- oder Parteiorganisationen zu Beginn des Prozesses, der Frage nach der politischen Kontrolle, der Abfolge und Nachhaltigkeit der Prozesse überragende Bedeutung zu. Ein Modell, das diese Fragen ausschaltet und im wesentlichen auf die Annahme zielt, (partei) politisch indifferente Modernisierungsprozesse ließen mit spezifischen Konfliktlinien spezifische Parteien entstehen, vereinfacht bereits die westeuropäische politische Geschichte in einem Maße, dass es sie verzerrt. So vernachlässigt ein Modell, in dem Parteien immer Produkt spezifischer Modernisierungsprozesse und Konfliktlinien und nicht Auslöser oder Mitgestalter sind, einen wesentlichen Aspekt der Gesamtentwicklung. Können nicht die Parteien, die am Beginn des ersten Modernisierungsprozesses standen oder aus ihm entstanden sind, die Stoßrichtung der folgenden Modernisierungsprozesse und Konfliktlinien determinieren und die aus ihnen resultierenden Konflikte und Mobilisierungschancen kontrollieren und monopolisieren? Müssen Parteien sich nicht grundsätzlich auf mehreren Konfliktlinien programmatisch positionieren, vor allem wenn sie die Wählerstimmen unter Bedingungen eines allgemeinen Wahlrechts maximieren müssen? Was kann das Modell angesichts dieser Konkurrenz von "insidern" und "outsidern" und dieses Zwanges zur programmatischen Verbreiterung noch erklären?

Das Model will darüber hinaus nicht nur die Entstehung spezifischer Parteien erklären, es will im gleichen Zuge Träger und Stadien eines Demokratisierungsprozesses benennen. Ein Demokratisierungsprozess bedeutet aber die rasche oder langsame, gewalttätige oder ausgehandelte Durchsetzung dieser neuen Herrschaftsorganisation gegenüber einer nichtdemokratischen. Dieser Demokratisierungsprozess ist zugleich nicht nur durch politisch überwundene, sondern durch ideologisch neue, undemokratische Alternativen gefährdet. Neben royalistischen Parteien stehen totalitäre Parteien oder Parteien, die für die Interessen oder die Herrschaft des Militärs eintreten. Diese für die Parteiengeschichte und die Demokratisierung so folgenreichen Parteien finden bei Lipset/Rokkan keine Berücksichtigung, weil die Autoren zwar einen Prozess des "nationbuilding", der Säkularisierung, Urbanisierung und Industrialisierung anerkennen, aber keinen eigenständigen der Demokratisierung, mit der ihm entsprechenden Konfliktlinie demokratischer versus undemokratischer Herrschaft. Demokratisierung gilt ihnen als Resultat der genannten vier Prozesse und ihrer Konfliktlinien. Sie verstellen sich damit die insbesondere für postkoloniale Staaten wesentliche Frage, ob Demokratisierung nicht ein eigenständiger Prozess ist, der sich trotz des Fehlens aller oder einzelner dieser vier Modernisierungsprozesse Bahn brechen kann.

Die indische Demokratie steht, so scheint es, für eine solche Eigenständigkeit und zeitliche Vorrangstellung der Demokratisierung. Aber nur weil Lipset/Rokkan dieses größte demokratische Experiment nicht erklären konnten, können wir die theoretischen und historischen Grenzen ihres Modells erkennen.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .

Quellen

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