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Der Kongress ist nicht nur eine nationale, er ist notgedrungenermaßen auch eine laizistische Unabhängigkeitsbewegung. Nichts erscheint vordergründig leichter, als die rund 70 % der indischen Bevölkerung, die statistisch als Hindus gelten, unter ihrer Hindu-Identität gegen die fremdgläubige Kolonialmacht zu mobilisieren. Enorme praktische, strategische und moralische Probleme stehen allerdings dagegen. Der "Hinduismus" ist ein Fremdbegriff und eine religionswissenschaftliche Abstraktion. Was indienweit zählt, sind die jeweiligen sozialen, lokalen, sektarischen also "kleinen" Traditionen, keine in der Sakralsprache Sanskrit manifeste "große""Tradition. Unter einer eindeutigen Hindu-Identität lassen sich deshalb die "Hindus" von Nordindien bis Südindien nicht organisieren, allenfalls spalten. Der Versuch müsste zudem die ebenso schwer bestimmbare und organisierbare Muslimgemeinschaft entfremden, sie auf seiten der Kolonialmacht treiben, lokale "kommunalistische" Unruhen verschärfen und der Kolonialregierung eine neue Schiedsrichter- und Schutzherrenrolle übertragen.
Aber nicht nur aus strategischen, sondern aus Überzeugungsmotiven hält die Kongresselite seit jeher daran fest, dass die Muslime trotz des Widerspruchs der Muslimelite für eine einheitliche, kongressdominierte Unabhängigkeitsbewegung gewonnen werden müssen. Die oft in dritter und vierter Generation westlich geprägte und anglophone Kongresselite will den modernen demokratischen Verfassungsstaat auf laizistischer Grundlage. Was sich in den, verglichen mit Indien religiös und kulturell weit homogeneren Staaten Europas als notwendig erwies, die Entstehung des über und jenseits von religiösen Glaubensfragen stehenden Staates, erscheint hier in dem von mindestens vier Schriftreligionen und hunderten von Sekten geprägten Indien, sollte es künftig nicht in lokalen oder nationalen Bürgerkriegen untergehen, als unausweichlich. Hinzu tritt eine soziale und fast "ständische" Rahmenbedingung: Die Kongresselite hat ihr öffentliches Erscheinungsmodell und ihren politische Habitus nach denjenigen des britischen, des laizistischen Gentleman geformt. Geformt also nach dem Vorbild eines Mannes, dem sowohl politische Gesamtverantwortung als auch private religiöse Überzeugung jeweils so wichtig sind, dass er gelernt hat, beides auseinander zu halten. Als solche "native Gentlemen" sind sie in ihrer Rolle als privilegierte Gesprächspartner der Verwaltung aufgestiegen und diese, jenseits aller anlaufenden Konfrontationen fortdauernde wechselseitige Statusanerkennung und Gesprächsbereitschaft wollen sie nicht verlieren.
Dieses Bekenntnis zum Laizimus verlangt ihnen zudem angesichts der sozialen Komplexität und religiösen Offenheit des Hinduismus keine Opfer ab. In den Augen dieser oft brahmanischen und zugleich westlich geprägten Elite geht es im Unabhängigkeitskampf und vor allem in Zukunft darum, den Hinduismus zu modernisieren und zu reformieren: Da nach ihrer Auffassung das Gebot der religiösen Toleranz zum innersten Wesen des Hinduismus gehört, so erwächst aus dem Nebeneinander von toleranter Religion und laizistischem Staat eine Symbiose und keine Konfrontation. Bei dieser Lesart bildet die Gestalt und Strategie Gandhis für die einen eine Bestätigung, für die anderen eine Provokation. Der Mahatma tritt vollständig in einem religiösen, volkstümlichen Habitus und Idiom auf, als politischer, also weltzugewandter Asket hat er aber das Gebot religiöser Toleranz und der individuellen Wahrheitssuche zum Fundament seiner Lehre und seiner Agitation gemacht. Was den aufgeklärten Kongresshindu mithin als eine Allegorie der Reformierbarkeit des Hinduismus und eines religiös toleranten unabhängigen Indiens erscheint, muss dem durchschnittlichen Muslim als die sanfte Übernahme eines laizistischen Staates durch eine diffuse, aber immer im Hinduismus lokalisierte Volksfrömmigkeit und Toleranzverpflichtung erscheinen. Die Kontrollmacht eines laizistischen Staates müssen sie höher schätzen, als den Glauben an die Toleranzfähigkeit des Mehrheitshinduismus. Der von Programm, Satzung, Rhetorik und Überzeugung getragene Säkularismus des Kongress geht aber in Konkurrenz mit anderen religiösen Erneuerungsprojekten, die sich zumeist nicht mit ihm vereinbaren lassen.
Neben dem Glauben an die Modernisierbarkeit der Religion - aufgegriffen und politisch instrumentalisiert durch die Kongresselite - besteht der Versuch der orthodoxen Reform und zeitlich später die Hoffnung auf eine fundamentalistische Transformation des Hindu-Glaubens. Versuche einer solchen orthodoxen Reform oder fundamentalistischen Transformation finden sich im Hinduismus wie im Islam. Im Hinduismus geht ein orthodoxes Reformprojekt vorrangig von dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Nordindien entstandenen und wirksamen Arya Samaj aus. Da die Produktivität und Plastizität des Hinduismus aber die Entstehung eines allgemein verbindlichen orthodoxen Kerns immer verhindert hat, so bleibt der Samaj-Begründer Dayananda Saraswati und seine Bewegung im Wesentlichen darauf angewiesen, eine Orthodoxie zu erfinden. Die Bewegung kommt über begrenzte städtische und nordindische Milieus nicht hinaus und kann lediglich eine breitenwirksame, gegen die Muslime gerichtete Agitation, die sogenannte "Kuhschutzbewegung", aber keine eigene Partei begründen. Die Bewegung steht zudem in Konkurrenz mit einer weiteren Organisation, die den Hinduismus in Richtung auf ein anderes Bild der Orthodoxie restaurieren möchte, die Hindu Maha Sabha. Diese Organisation kann sich unter der "Doppelherrschaft" und dem "Government of India Act" kurzfristig als Partei formieren und in verschiedenen Provinzen mit mäßigem Erfolg bei den Wahlen beteiligen.
Das Projekt einer fundamentalistischen Transformation des Hindu-Glaubens wird hinwiederum in den 20-er Jahren von einem Ideologen, Savarkar, und einem Organisator, einer Kaderbewegung, Hedgewar, begonnen. Erst nach der Unabhängigkeit gelingt es dem Nachfolger Hedgewars, eine politische Partei, die hindu-fundamentalistische Jana Sangh, später B.J.P. zu begründen. Diese bildet lange Zeit eine "Front" für die in den 20er Jahren gegründete Kader- und Geheimorgansiation, das "Nationale Freiwilligencorps", Rashtriya Swayamsevak Sangh.
Entsprechende orthodoxe Reformversuche und eine späte fundamentalistische Transformation in den 40er Jahren zeigen sich auch im indischen Islam. Der Versuch einer orthodoxen Reform des indischen Islam kann sich, im Gegensatz zum Hinduismus, auf ein weitgehend unstrittiges Bild der Glaubenstreue berufen. Einem solchem Versuch stellen sich damit praktische, aber kein unüberwindbaren religiösen Probleme entgegen. Von der Ausbildungsstätte für Koran- und Rechtslehrer in Deobandh, in Uttar Pradesh, war seit 1870 eine solche orthodoxe Reformbewegung ausgegangen. Unter dem Eindruck der ersten pro-muslimischen und antikolonialen Protestbewegungen - die Agitation für die Teilung Bengalens und die Khilafat-Bewegung - hatte sich schließlich auch eine übergreifende Organisation, die Jamiat Ul Ulema Ul Islam herausgebildet.
Zu den vielen Paradoxien des indischen Unabhängigkeitskampfes gehört, dass diese Organisation fast bis zur Teilung politisch auf der Seite des Kongress stand. Einem orthodoxen islamischen Reformprojekt verpflichtet, will die Organisation, dass der gläubige Muslim seine Kontakte gegenüber Glaubensfremden, insbesondere der Kolonialmacht möglichst einschränkt. Der gläubige Muslim soll sich auf die universale Umma, also die länderüberspannende religiöse Gemeinschaft aller Muslime, nicht auf die diese Umma zerschneidenden modernen Territorialstaaten ausrichten. Es gilt, den eigenen religiösen Garten zu bestellen und sich ansonsten einer auch fremdgläubigen Herrschaft dann friedlich zu unterstellen, wenn diese die religiöse Freiheit der Muslime garantiert. Diese Garantie sieht die JUI bei dem Kongress gesichert. Auf der anderen Seite verachtet sie den religiösen Laxismus der Muslim-Liga-Honoratioren und sie misstraut den religiösen Modernisierungsbestrebungen der Muslim-Liga-Intelligenz. 1941 gründet schließlich Maududi, ursprünglich aus den Reihen der Deobandh-Bewegung und der JUI kommend, seine Jamiat Ul Islam, die auf einen islamischen Fundamentalismus zielt.
Der Kongress verfügt zwar über ein laizistisches Staatsideal und eine bürokratisch-demokratische Parteisatzung, aber es bedarf noch vieler Anstrengungen und Kampagnen, um beides im Parteiapparat, also vor allem in den Distriktkomitees und den Regionen durchzusetzen. Seine Provinz- und Distriktkomitees können und wollen nicht verhindern, dass sich Anhänger der Arya Samaj und Hindu Maha Sabha auf mittlerer und unterer Ebene im Kongress engagieren. Die Spitze, das All India Congress Committee, sieht es dagegen als vorteilhaft an, die islamisch-orthodoxe JUI auf der Seite des Kongress zu halten. Der Kongress kann deshalb nicht verhindern, dass er auf mittlerer und unterer Ebene nicht nur als von Hindus dominiert erscheint, sondern dass die angesichts der Größe Indiens kaum kontrollierbaren Agitationsaktivitäten einzelner Distriktkomitees eine orthodox-restaurative, in vielen Fällen anti-muslimische Stoßrichtung annehmen. Wie sehr die Einschätzungen bezüglich der Stellung der Muslime und eines Kongresssäkularismus zwischen Parteispitze und Fußvolk auseinanderklaffen, zeigt indirekt ein Ende der 30er Jahre von Nehru initiierter letzter Versuch, die Masse der Muslime für den Kongress zu gewinnen: In einer "(Muslim) Mass Contact Campaign" sollen auf lokaler Ebene die Muslime für den Kongress als Sympathisanten, Mitglieder oder Wähler mobilisiert werden. Die Kampagne kommt im Gegensatz zum antikolonialen Satyagraha nicht in Schwung, weil die lokalen Hindu-Gefolgschaften sich nicht beteiligen. Die These, der Kongress verdanke seine Führerschaft in der Unabhängigkeitsbewegung und seinen Erfolg seinem unbeirrten Festhalten an einem staatspolitischen Säkularismus ist deshalb eine, seiner Ideologie entsprechende bequeme Halbwahrheit.
Größe und Geschick des Kongress bestanden vielmehr darin, dass er mit einem programmatischen und rhetorischen Staatssäkularismus den Unabhängigkeitskampf aufnahm und zu Ende brachte, während er in der Praxis, in den Distriktkomitees und während der Agitationskampagnen beständig mit hindu-restaurativen Kräften zu koalieren gezwungen und bereit war. Hinzu tritt noch, dass der Kongress wie selbstverständlich die stärkste religiöse Kraft, die jeder Reform abgeneigten traditionellen Träger des Hinduglaubens, Dorfbrahmanen wie Tempelpriesterschaften, für seine Ziele zu mobilisieren verstand. Die Größe des Kongress und seiner Strategie des Säkularismus besteht mithin darin, dass er die unterschiedlichen Spielarten des authentischen wie des Reform-Hinduismus mobilisieren und zugleich dominieren konnte. Dieser, in der Unabhängigkeit und der Begründung eines laizistischen Staates manifeste Erfolg hinterläßt zugleich eine politische Hypothek. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Behauptung des Kongress, säkularer Staat und modernisierungsfähiger Hinduismus entsprächen und stützten einander, von Parteien, die sich auf einem restaurativen oder fundamentalistischen Hinduismus stützen in Zweifel gezogen wird. Auf einen restaurativen oder fundamentalistischen Hinduismus gestützt, könnten dann solche Parteien eine entsprechende Umbildung und Anpassung des indischen Säkularismus verlangen. Unterschiedliche Auffassungen des Hinduismus machen dann den Weg frei für eine angemessene Indisierung, in Wirklichkeit Einschränkung des Säkularismus, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten von der BJP eingefordert wurden.
Urbanisierung und beginnende Industrialisierung lassen eine Konfliktlinie zwischen Stadt und Land, städtischem und agrarischem Sektor entstehen, die beim Einsetzen der Demokratisierung zur Entstehung von Parteien führt, die auf der einen Seite spezifisch städtische und oft freihändlerische Interessenlagen verfolgen, während auf der anderen Seite Parteien stehen, die spezifisch agrarische und oft protektionistische Interessen verfolgen. In Indien setzen aber Demokratisierungsprozesse (von oben) und (antikolonialer) Parteienkampf zu einem Zeitpunkt und in einem Kontext ein, zu dem und in dem Urbanisierung und Industrialisierung relativ bedeutungslos sind. Dennoch finden wir trotz des Mangels an diesen beiden Transformationen, aber aufgrund der kolonialen Herrschaftsabsicherung bereits relativ gut organisierte agrarische Interessenverbände vor. Der Kongress ist nicht nur eine nationale und formal laizistische Unabhängigkeitsbewegung, seit dem Reformwerk von 1920 ist er Partei: Seinen Herrschafts- und Alleinvertretungsanspruch muss er deshalb jetzt auch und vorrangig auf Wahlsiege stützen.
Die Wahlstimmen liegen aber auf dem Land und bei einem extrem reduzierten Stimmrecht bei Großgrundbesitzern und Magnaten, die in den traditionell pro-britisch orientierten Agrarverbänden organisiert sind. Um den Druck auf die Kolonialmacht aufrechtzuerhalten und weitere Demokratisierungsschritte zu erzwingen, muss sich der Kongress auf die Masse der Inder, also mehrheitlich auf die von den Agrareliten ausgebeuteten und dominierten Kleinbauern, Pächter, Share Cropper oder Landarbeiter stützen. Um die Wahlen zu gewinnen, muss er sich zumindest unter der Doppelherrschaft mit eben diesen Magnaten politisch verbünden. Dies stellt den Kongreß vor eine Zerreißprobe. Ihn rettet die Heterogenität Indiens, also die Unterschiedlichkeit der regionalen Agrar- und Dominanzregime, die ihn bei regionalen Wahlen immer wieder andere Allianzen, Versprechungen und Konzessionen gestatten. Ihn rettet aber auch eine, angesichts des immer noch losen Parteizusammenhalts jetzt perfektionierte Strategie des einerseits "getrennt marschieren, vereint schlagen", andererseits "erst ermutigen, dann fallenlassen". Aufgrund der Imperative der Massenmobilisierung und unter Druck seiner eigenen, linksgerichteten Anhänger muss der Kongress die schmale Schicht der Großgrundbesitzer, die in Nordindien oft 2/3 des kultivierten Bodens besitzen, als Unterdrücker der „tillers of the Soil", als wesentlichen Partner der Kolonialmacht anklagen. Aber diese Suppe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird: In den Programmen zur Agrarreform wird den besonderen Agrarregimen und Herrschaftsverhältnissen der jeweiligen Presidency Rechnung getragen und es werden lediglich begrenzte Reformen gefordert. Bei Protestkampagnen hält sich der Kongress als Organisation ehe zurück. Er überlässt das Feld eigenständigen Organisationen. Sind diese erfolgreich, so werden sie unterstützt, kooptiert und unter Kontrolle gebracht. Sind diese Organisationen radikalisiert und schreiten sie zu militanten Aktionen, so werden sie fallengelassen und politisch und juristisch ausgeschaltet.
Für den Erfolg des Unabhängigkeitskampfes entscheidend ist aber, dass durch diese Strategie den indischen Agrareliten eine stumme Mitteilung zuteil wird. Sie erfahren jetzt, dass ein neuer Machtfaktor und künftiger Garant oder Zerstörer ihrer Stellung entstanden ist. Sie müssen überlegen, ob sie weiterhin bedingungslos auf der Seite der British Raj verharren oder von nun an in flexibler Äquidistanz zwischen Kolonialmacht und Kongress operieren wollen. Seit Beginn der 30er Jahre hat die Masse, also nicht die Spitzengruppe der Großbauern und Großgrundbesitzer diese Botschaft verstanden. Sie oder zumindest einzelne ihrer Söhne drängen jetzt in den Kongress. Der Kongress gewinnt damit die Züge einer Unabhängigkeitsbewegung und zugleich Bauernpartei, er wird damit zu einer, nicht nur in der Stadt, sondern auf dem Land verankerten Massenpartei, die sich bei ländlichen Satyagrahas keine Sorgen um Teilnehmer, Finanzierung und Ressourcen machen muß. Die Autorität und Macht dieser ländlichen Honoratioren und mittleren und kleineren Grundbesitzer stützt jetzt den Kongress im eigentlichen, im ländlichen Indien. Damit beginnt zugleich der Kongress im Binnenraum seiner regionalen Apparate, in seinem "Pradesh-", Provinzkomitees die ländliche Herrschafts- und Kastenordnung widerzuspiegeln. Der Government of India Act erweitert das Wahlrecht auf rund 20 % erwachsenen indischen Bevölkerung.
Dies verstärkt den genannten Prozess und enthebt den Kongress der Aufgabe, die Agrarelite abwechselnd warnen und hofieren zu müssen. Wahlberechtigt sind jetzt keine winzige Schicht, sondern die Gesamtheit der traditionellen dörflichen Machthaber und ein Gutteil der dominanten Kasten. Mit diesen nach Millionen zählenden Schichten im Rücken kann der Kongress jetzt Pläne für eine Landreform, vor allem eine "zamendari abolition" vorbereiten, die später, nach der Unabhängigkeit den exzessiven Landbesitz der größten Grundbesitzer (ca. 1 % der ländlichen Bevölkerung) auf eine breit und dem Kongress wohlgesonnene Agrarelite (ca. 20 % der ländlichen Bevölkerung) umverteilt. Zunächst mit einer ambivalenten Strategie, später durch dieses Geschenk sichert sich der Kongress eine dominante Stellung auf dem Land, den Anspruch einer nicht nur abstrakt-nationalen, sondern den Status einer indienweiten Bauernpartei und kann damit auf Jahrzehnte hinaus ca. 20% der zumeist höherkastigen ländlichen Wählerstimmen gewinnen. Der Schlüssel für Massenmobilisierung und Wahlsiege liegt auf dem Land und beides hat seinen Preis, das de facto Zusammenspiel mit dominanten Kasten, Großbauern und traditionellen Autoritätsträgern bei gleichzeitiger antiimperialistischer Polemik gegen jenes dünne Stratum der allergrößten Magnaten, Radschas und Zamindare, auf die sich die britische Herrschaft vorrangig stützt.
Damit ist zugleich vorgezeichnet, dass sich der Kongress allenfalls vordergründig zum Anwalt der Armen und Rechtlosen der indischen Bauernbevölkerung, der Erntearbeiter, Tagelöhner "share cropper" und jederzeit kündbaren Pächter machen kann. Diese Gruppen sind entweder ausschließlich - Erntearbeiterkasten - oder oft - share cropper - Unberührbare. Rund 18 % der indischen Bevölkerung gelten nach Zensusstatistiken als unberührbar. Um diesen, nach Millionen zählenden sozial und politisch Entrechteten eine politische Repräsentationschance zu sichern, hat die Kolonialmacht im Rahmen der Dyarchie auch für die Unberührbaren "getrennte Wählerschaften" eingerichtet, Parlamentssitze also die nur von Unberührbaren gewählt werden dürfen. In unterschiedlichem Maße sind in den verschiedenen Presidencies auch unberührbare Bewegungen inzwischen entstanden und der Sozialreformer Ambedkar hat zwischenzeitlich eine indienweite Unberührbarenbewegung ins Leben gerufen. Aber auch Gandhi hat die Unberührbaren, in seinen Augen die besonderen "Kinder Gottes", Harijans, in das Zentrum seiner sozialen und moralischen, nicht aber politischen Reformbemühungen gestellt. Der Logik interessengeleiteter Parteimobilisierung folgend wird damit, parallel zur Verschärfung des Unabhängigkeitskampfes, eine Konfrontation denkbar. Der "nationalen" Unabhängigkeitsbewegung, die sich inzwischen maßgeblich auf die Agrarelite stützt, droht eine indienweite Unberührbarenföderation gegenüberzustehen, die umfassende Landreformen, vor allem aber eine, die Herrschaftsordnung des ländlichen Indiens umstürzende soziale und wirtschaftliche Gleichbehandlung der Unberührbaren verlangt. Sowohl aus Überzeugung, wie aus Kalkül, unterstützt die Kolonialmacht diese Forderungen Ambedkars und ist bereit, Ambedkar einen eigenständigen Platz und Status in den Verhandlungsrunden einzuräumen, in denen über weitere politische Reformschritte verhandelt werden soll.
Die Entstehung einer eigenständigen Unberührbarenpartei wird aber von Gandhi und dem Kongress erbittert bekämpft. Der Kongress sieht seinen, für den Unabhängigkeitskampf unverzichtbaren Alleinvertretungsanspruch bedroht, Gandhi hinwiederum will das Los der Unberührbaren durch eine umfassende Reform des Hinduismus und moralische Neubestimmung der Hindukasten, aber nicht durch konfliktträchtige, getrennte Wählerschaften und Agrarreformen verbessern. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn auch aussagekräftig, dass Gandhi seine moralisch so wirkungsvollen Satyagraha-Kampagnen immer nur gegen kolonial verursachte, aber nie traditionell sanktionierte Unterdrückungssysteme auf dem Lande durchführt. In langwierigen Verhandlungen gelingt es der Kongressführung, Ambedkar zu überzeugen, die Forderung nach getrennten Wählerschaften für die Unberührbaren aufzugeben und die Frage einer umfassenden Besserstellung der Unberührbaren bis auf den Zeitpunkt der Unabhängigkeit zu verschieben. Damit vermeidet der Kongress, dass ihm in der entscheidenden Mobilisierungs- und Machtarena, im Agrarsektor eine konkurrierende Organisation entgegentritt, die seinen Klassencharakter offenlegt, soziale Protestbewegungen provoziert und die Glaubwürdigkeit des Mahatma, jener unersetzbaren Integrationsklammer, untergräbt.
Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse haben, wie bereits erwähnt, in Britisch Indien in äußerst begrenztem Umfange eingesetzt. Da diese Urbanisierung aber die Kontrollzentren für die Kolonialmacht bereitstellt und weil eine begrenzte Industrialisierung sich auf diese Kolonialstädte konzentriert, ist das erste für die Präsenz und Selbstdarstellung der Kolonialmacht und das zweite für die Stabilität dieser Herrschaftszentren von ausschlaggebender Bedeutung: In den modernen Industrieenklaven in Calcutta, Madras und Bombay sind eine Fülle von kleinen, stark zersplitterten Gewerkschaften entstanden. Zudem hat sich das britische und vor allem das indische Handels- und Industriekapital, getragen von indischen Händler- und Geldverleiherkasten und einzelnen herausragenden Entrepreneur-Familien, in den "Chambers of Industry and Commerce" frühzeitig eine Operationsbasis geschaffen. Zwangsläufig instabile Zusammenschlüsse von Gewerkschaften bilden unter der Doppelherrschaft und dem Government of India Act ephemere Parteien, die sich an den Provinzwahlkämpfen zumeist erfolglos beteiligen. Nachdem der Kongress und die kommunistische Partei Gewerkschaftsdachverbände gegründet haben, suchen sie diese zahllosen lokalen und sektoralen Einzelgewerkschaften, manchmal Gründungen eines einzelnen Arbeitskontraktors, durch diese Zusammenschlüsse indienweit zu erfassen.
Die großen indischen Unternehmerfamilien und die verschiedenen Händlergruppen hingegen stellen keine eigenen Partei auf, vielmehr stellen sie sich verdeckt oder offen bald auf die Seite des Kongress. Die Kolonialmacht hat indische Industrialisierungsinitiativen nie nachhaltig unterstützt und den für ihren Machterhalt entscheidenden Agrareliten weit größere Aufmerksamkeit, Auszeichnungen und Konzessionen zuteil werden lassen. Bestimmte Kampagnen Gandhis, wie der in der non-cooperation durchgeführte Boykott britischer Fabrikwaren oder die durch die Swadeshi-Bewegung propagierte Herstellung eigenen Garns und eigener Stoffe kommen diesen Geschäftsleuten direkt oder symbolisch entgegen. Für den Kongress ist die Unterstützung seitens dieser Gruppe weit bedeutsamer als eine Unterstützung seitens der zahlreichen und lediglich lokal und episodisch einflußreichen Gewerkschaften. Diese Kreise tragen wie einzelne Magnaten in starkem Umfange zur Finanzierung bei, sie verfügen über eine hohe Kompetenz und indienweite Perspektive und sie bilden ebenfalls deshalb, wenn auch den größten Landbesitzern nachgeordnet, wichtige Ansprechpartner der Kolonialmacht. Die zunehmende Annäherung dieser Gruppe an den Kongress verschiebt mithin ein weiteres Mal die Machtgleichung zuungunsten der British Raj. Die Doppelstellung des Kongress als eine mit der Kolonialmacht verhandelnde und gegen sie agitierende Kraft eines Insiders und Outsiders der anlaufenden noch kolonial kontrollierten Demokratisierung legen es dem Kongress nahe, seinen Zugang zu den Industrieenklaven und kongressnahen Gewerkschaften dennoch zu kultivieren.
Vergleichbar seiner Operationsweise auf dem flachen Lande rettet ihn auch hier die schiere Größe Indiens, also die fast unüberbrückbare Distanz zwischen dem zentralen All India Working Committee des Kongress und den Disktriktkomitees. Auf der Ebene des Working Committee fallen die Entscheidungen über die Kampagnen und die nächsten Züge im Verhandlungsspiel, auf der Ebene der Distriktkomitees gilt es, die Kampagnen erfolgreich zu initiieren und anschließend zu kontrollieren. Auf der höchsten Ebene etablieren sich mithin der Meinungsaustausch und die Kooperation der Wirtschaftselite, während auf der lokalen Ebene, insbesondere in den großen Städten die Effektivität und Mobilisierung des Kongress unter Beweis gestellt werden müssen. Dazu ist aber ein Zusammengehen mit den Gewerkschaften, vor allem in Bombay, Calcutta und Madras wesentlich. Die Achillesferse kolonialer, im Gegensatz zu traditioneller, nationaler Herrschaft der nur der kolonialmachtspezifische Zwang von wenigen Zentren aus, die zweifelsfrei unter der Kontrolle stehen, weite Territorien beherrschen zu müssen, verschafft damit zahlenmäßig bedeutungslosen Gewerkschaften und mit ihnen dem Kongress eine einzigartige Agitations- und Demonstrationschance. Lange bevor der Kongress auf dem flachen Lande präsent und mobilisierungsfähig ist, kann er in diesen Schaufenstern der Kolonialmacht zeigen, dass die britische Herrschaft verwundbar und ihr Herrschaftsanspruch unglaubwürdig ist.
Vier grundlegende Bestandteile des Modernisierungsprozesses - die administrative und technische Durchdringung des Staatsterritoriums, die Errichtung eines laizistischen Staatswesens, Ausdehnung und Primat städtischer Lebensformen und die Durchsetzung einer industriell-kapitalistischen Produktion und Gesellschaft - schaffen, so Lipset/Rokkan Konfliktlinien, die unausweichlich, wenn auch nicht unüberwindbar sind. Die Konflikte sind unausweichlich, weil die genannten Prozesse notwendigerweise bestimmte Gruppen, Gruppeninteressen oder Gruppenkulturen bevorzugen bzw. benachteiligen. Die Prozesse stellen damit Themen und Ressourcen potentieller politischer Mobilisierung bereit, wenn auch ein jeweiliger Kontext die Form des Konfliktes und der jeweiligen Parteien determiniert. Dieser jeweilige Kontext wird durch die Form und den Wirkungsgrad der Prozesse, die Struktur des betreffenden Landes, die Gestalt eines jeweiligen Demokratisierungsprozesses und die Organisation von Interessengruppen und Parteien bestimmt. Der hier dargestellte Fall unterscheidet sich von denkbaren europäischen Analogien nun in doppelter Hinsicht: Die konfliktauslösenden Prozesse, die Organisierung und Industrialisierung sind kaum gegeben und alle Prozesse, in welcher Intensität auch immer finden im wesentliche zeitgleich statt.
Vor allem aber: Die genannten Prozesse treten in einem Kontext auf, der sich in Größe und in der Herrschaftsform grundsätzlich von europäischen Fällen unterscheidet. Britisch Indien ist ein Subkontinent und deshalb polyzentrisch organisiert und die genannten vier Modernisierungsprozesse zeigen sich im Kontext kolonialer Herrschaft, die einer immer stärkeren Unabhängigkeitsbewegung gegenüber steht. Angesichts dieser Unterschiedlichkeit erst der Prozesse und dann des Kontextes wäre zu erwarten, dass weder die charakteristischen Konfliktlinien noch die ihnen entsprechenden Interessengruppen und Parteitypen entstanden sind. Im Gegensatz zu dieser Erwartung hat unsere Betrachtung allerdings die folgenden oft verwirrenden Entwicklungslinien aufgezeigt: Eine von mehreren, weniger von einem Zentrum aus greifende kolonialstaatliche Territorialerfassung lässt erste regionale Organisationen, Identitätsmuster und Interessengemeinsamkeiten entstehen. Sie werden getragen und artikuliert von regionalen Honoratiorenschichten, die mit der Kolonialmacht kooperieren. Auf gesamtindischer Ebene können sich diese Netzwerke und Organisationen in einzelnen Fällen und im Maßstab politischer Beteiligungsrechte als regionalistische Bewegungen artikulieren, in ihren jeweiligen Presicencies dagegen neigen sie dazu, die jeweiligen Subkulturen und "kleinen Traditionen" entweder auszugrenzen oder zu absorbieren.
Da sich allerdings der Kongress frühzeitig als eine Organisation mit gesamtindischem Anspruch aus diesen Honoratiorenkreisen heraus entwickelt, so gelingt es ihm in fast allen Fällen, die Entstehung von eigenständigen und dauerhaften Regionalparteien und Koalitionen zu verhindern. Mißlingt dies, so kann der Kongress sich von Seiten dieser Parteien doch immerhin die Unterstützung des gesamtindischen Unabhängigkeitskampfes sichern und mit diesen Bewegungen taktisch koalieren. Nicht der Laizismus, sondern die umfassende Überlegenheit der Kolonialherrschaft löst bei Minderheitssektionen der Hindus und Muslime modernisierende, restaurative oder fundamentalistische Reformbewegungen, aber keine Parteien aus. Die Mehrheit der Hindus und Muslime verharrt dagegen in einem religiösen Traditionalismus. Zu Parteien werden diese Reformbewegungen aber erst in der Konkurrenz zur stärksten laizistischen politischen Kraft Indiens, dem Kongress. Hindurestaurative Kräfte versuchen außerhalb wie innerhalb der Kongressbewegung diesem Laizismus der Führung entgegenzuwirken, eine hindu-fundamentalistische Organisation, der RSS, distanziert sich vom Kongress. Der Laizismus der Kongressführung bildet sich zugleich mit dem Glauben, der Hinduismus sei modernisierbar und mit der Auffassung, ein solcher vorrangig auf religiöse Toleranz gegründeter Hinduismus sei mit einem Staatslaizismus innerlich verwandt und politisch kompatibel.
Diese Auffassung, verbunden mit den Erscheinungsbild, der Philosophie und den Kampagnen Gandhis, muss einer zunehmenden Masse auch dogmatisch indifferenter Muslime genau in dem Maße als suspekt erscheinen, wie diese Zweckinterpretation und vor allem das Charisma Gandhis dem Kongress Massenerfolge und moralischen Respekt verschaffen. Die meisten Muslime verlangen schließlich einen säkularen Staat, in dem sie und nicht die Hindus die Mehrheit stellen. Die von der religiös indifferenten Muslimliga und von M. A. Jinnah seit 1941 erhobene Forderung nach einem Pakistan entspricht dieser defensiven Neigung der Muslimminderheit. Nicht der Laizismus eines modernisierenden Staates, sondern der aus dem Zwang "all sorts and conditions of men" zu mobilisieren resultierende Laizismus einer Unabhängigkeitsbewegung lässt damit zunächst religiöse Parteien (bei den Hindus) und am Ende eine religiöse Sezessionspartei und -bewegung (bei den Muslimen) entstehen.
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .
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