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17. August 2009. Analysen: Kunst & Kultur - Indien Bühne frei für Bertolt Brecht

Indische Jungschauspieler adaptieren Brecht und knüpfen damit an eine lange Rezeptionsgeschichte an

Trotz des massiven Einflusses der Filmindustrie, erfreut sich Theater in Indien immer noch großer Beliebtheit. Jugendtheaterfestivals wie das jährlich in Mumbai, Delhi und Bangalore gleichzeitig stattfindende "Thespo" beweisen seine Popularität unter jungen Menschen. Doch theaterbegeisterte Jungschauspieler sehen sich mit immensen Problemen konfrontiert, wenn es an die Umsetzung ihrer Ideen geht. Das große Geld fließt eher in die kommerzielle Filmindustrie und weniger in Theaterproduktionen. Kleine Gruppen können von finanzieller Förderung oft nur träumen, was sie jedoch nicht daran hindert, ihre Träume zu verwirklichen.

So zum Beispiel die Jugendtheatergruppe Proscenium aus Mumbai, die 2004 von dem Schauspieler Chandan Roy Sanyal ins Leben gerufen wurde. Er selbst tourte über Jahre mit der Royal Shakespeare Company in der Rolle des Lysander in "A Midsummer Night’s Dream" um den Globus und hat sich mittlerweile auch in Indiens "Bollywood"-Industrie mit Filmen wie dem 2009 erschienenen "Kaminey" an der Seite von Superstars wie Shahid Kapoor und Priyanka Chopra einen Namen gemacht. Seine Theatertruppe aber besteht aus Studenten, Schriftstellern und Laienschauspielern und Chandan bedauert sehr, dass er keine zusätzlichen professionellen Schauspieler an Bord holen kann, da ihm schlicht die Mittel fehlen, diese zu bezahlen. Er erzählt von seiner Leidenschaft für das Theater und meint dann resigniert: "Everybody wants to do theatre but there is no money!" Es gäbe einerseits kaum Theater und aufgrund des chronischen Platzproblems in Mumbai auch kaum Proberäume. Möchte man sein Stück auf die Bühne bringen, müsse man bei den wenigen renommierten Theatern der Stadt mit monatelangen Wartezeiten rechnen. Die Probenarbeiten für Prosceniums aktuelles Stück finden daher im freien auf einer Dachterrasse statt. Dabei ist die Gruppe weder unbekannt noch erfolglos. Bereits ihre erste Produktion, eine Hindustani-Adaption von Vijay Tendulkar’s zynischem Stück über die Situation von Frauen im postkolonialen Indien, "Sakharam Binder", feierte im Rahmen der Thespo 2004 am National Center for Performing Arts (NCPA) in Mumbai überwältigende Erfolge und gewann Preise für das beste Stück, den besten Nebendarsteller und die beste Nebendarstellerin. Es folgten Auftritte in bekannten Theatern wie dem "Prithvi" in Mumbai sowie Einladungen nach Bangalore und Delhi.

"Chugad Dham Sym-Phoney"

Nach der Inszenierung von Mohan Rakesh’s "Aashad ka ek Din" (One Day in Ashadha) steht diesen Sommer die Premiere von Prosceniums dritter Produktion unter der Regie von Chandan Roy Sanyal kurz bevor. Unter dem Titel "Chugad Dham Sym-Phoney" adaptiert die indische Theatergruppe Bertolt Brechts politisch-satirische Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", die 1930 in Leipzig uraufgeführt wurde. Die Musik steuerte, wie schon für die "Dreigroschenoper", Kurt Weill bei, der mit dem "Alabama Song" einen Welterfolg komponierte, der vor allem durch die späteren Coverversionen der Doors und David Bowies berühmt wurde. Aufgrund Brechts politischer Orientierung wurde auch dieses Stück unter den Nationalsozialisten verboten und kam erst in den 1960er Jahren in den USA wieder auf die Bühne. Es konnte allerdings nie mit dem Erfolg der "Dreigroschenoper" konkurrieren. Doch nun haben sich die Schauspieler von Proscenium des Stoffes angenommen und das Resultat ist eine wilde, psychedelische Musical-Adaption, die vor allem darauf abzielt, das Stück einem jungen indischen Publikum zugänglich zu machen und gleichzeitig mit spektakulären Ton- und Lichteffekten ein hohes Unterhaltungspotenzial zu garantieren. Chandan und seine Mitstreiter haben aufwendig das Skript ins "Hinglish", Indiens urbanen umgangssprachlichen Mix aus Hindi und Englisch, übersetzt und feilen nun an einem "bollywoodesken" Soundtrack, den sie selbst vertonen.

Bertolt Brecht und das indische Theater

So innovativ diese indische Brecht-Inszenierung anmutet, so ist der deutsche Autor bei weitem kein Unbekannter in Indien. Brecht spielte seit den 1960er Jahren eine wichtige Rolle in der Gestaltung des gegenwärtigen Theaters in Indien, wobei es unterschiedliche Ansatzpunkte und Verfahren der Brecht-Rezeption gab. Professor Rolf Rohmer, der an der Universität in Leipzig Theaterwissenschaften lehrte und in den 1980er Jahren Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin gewesen ist, kann noch heute von Brechts großer internationaler Wirkung schwärmen. Mitunter sei es so gewesen, dass Brecht-Stücke nach den Inszenierungen im Berliner Ensemble und dann auch nach einem vorwiegend theoretischen Verständnis der Brecht’schen Theaterästhetik gewissermaßen pur auf die indische Bühne gestellt wurden. Gegenüber dieser Art nachahmender Aneignung entfaltete sich aber eine andere Praxis als bestimmend, nämlich die Adaption von Brecht-Stücken als eine Art Einbettung in spezifische Traditionen des volkstümlichen Theaters auf dem Subkontinent. Für diese Entwicklung wirkte vor allem der DDR-Regisseur Fritz Bennewitz in Kooperation mit indischen Partnern prägend.

Warum aber erfreute sich Brecht solcher Beliebtheit in Indien? Rohmer meint, dass dessen weltweite Wirkung nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Zeit großer politischer und gesellschaftlicher Veränderungen einsetzte, unter deren Bedingungen Brecht die richtigen Töne ansprach: "Das waren Entkolonialisierung, Herausbildung neuer staatlicher Einheiten und sozialer Strukturen und vor allem die Suche bisher unterdrückter Völker und ethnischer Gruppen nach kultureller Identität. Indien, was ja ein multikultureller und multireligiöser Subkontinent ist, war davon besonders stark betroffen und war in vehementer politischer, sozialer und kultureller Bewegung. Brechts Dramatik und Theaterpraxis zeichnen sich aus durch Eigenschaften, die dafür besonders gefragt sind: Also durch aufklärerischen Impetus, durch einen Spürsinn für die geschichtlichen Perspektiven der Stories, verbunden mit dem Pathos fortschrittlichen Denkens." Vor allem sei der "plebejische Blick von unten" auf die Hintergründe und Mechanismen politischer und sozialer Prozesse maßgeblich für die bereitwillige Annahme von Brecht in Indien gewesen. "Brecht kam es darauf an, diese bloß zu legen und den Zuschauern dadurch Einsicht und Handlungsimpulse zu vermitteln", so Rohmer. Dem dienten eine episch erzählende Spielweise und bestimmte methodische Verfahren wie zum Beispiel Verfremdung der Vorgänge und eine ausgeprägt gestische Darstellung. Und hier traf sich Brechts Theater mit spezifischen Überlieferungen vieler Theaterkulturen in Indien, die durch ähnliche künstlerische Verfahren geprägt sind. Neben der epischen Erzählweise betrifft dies vor allem die Einheit und das Ineinander von Sprache, Körperbewegung, Musik und Tanz. Rohmer betont, dass die Begegnung mit Brecht dazu verhalf, die eigenen Traditionen in Indien nach der Kolonialzeit neu zu beleben, zur Geltung zu bringen und auch weiter zu entwickeln. Die stärkere Beachtung des literarischen Dialogs sei beispielsweise eine neue Entwicklung gewesen, die vorher gegenüber anderen, teils rituellen Darstellungsformen in Indien oft unterrepräsentiert war.

In vielerlei Hinsicht knüpft Chandan Roy Sanyal mit seiner Gruppe Proscenium also an eine lange Rezeptionsgeschichte Brechts in Indien an. Auch sie verbinden Musik, Tanz und Schauspiel zu einer wilden "Sym-Phoney" und ihre Inszenierung verrät Anleihen sowohl aus indischen Volkstheatertraditionen, dem Masala-Stil des „Bollywood“-Kinos und den psychedelischen Musicals der 1970er Jahre. Auch wenn der politische Anspruch mit der Betonung des audiovisuellen Entertainments in den Hintergrund rückt, so bleiben die Schauspieler von Proscenium dem grundlegenden Anspruch des Brecht’schen wie den verschiedensten indischen Volkstheatertraditionen treu: sie suchen die Nähe zum Publikum. Die hinglische "Chugad Dham Sym-Phoney" wird wohl außer der groben Handlung nicht mehr viel mit Brechts ursprünglicher "Mahagonny"-Oper gemein haben, aber sie wird ihr indisches Publikum erreichen und dafür sorgen, dass junge Inder und Inderinnen ihre Begeisterung für das Theater nicht verlieren. Nicht umsonst bringt der Regisseur Chandan seine eigene "Theatersucht" mit aufs Plakat für die Premiere: "Inventing A Drug Called Theatre" wird das Stück angekündigt - denn auch der Riesenerfolg, den das Filmgeschäft bringe, könne niemals mit dem Gefühl konkurrieren, live auf einer Bühne zu stehen und in die Scheinwerfer zu blicken.

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