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29. Januar 2009. Analysen: Politik & Recht - Indien Machtwechsel in Jammu & Kashmir

Koalition von National Conference und Congress trotz Stimmen- und Sitzverlusten, Gewinne für PDP und BJP

Eine hohe Wahlbeteiligung und ein friedlicher Verlauf, trotz eines Boykottaufrufs der Separatisten, führten dazu, dass keine Partei bei den Wahlen zum Landesparlament im Krisenstaat Jammu & Kashmir eine absolute Mehrheit erzielte. Die traditionsreiche National Conference und der Congress einigten sich schnell auf eine Koalition. Der 38-jährige Omar Abdullah wird neuer Ministerpräsident und verspricht eine saubere Regierung sowie weitgehende Autonomie von New Delhi in kritischer Auseinandersetzung mit den Separatisten.

Die Bevölkerung Jammu & Kashmirs hat so gewählt, dass keine Partei über eine absolute Mehrheit im Landesparlament verfügt. Bei einer überraschend hohen Wahlbeteiligung von 61,05 Prozent gewann die National Conference (NC) 28 (+/- 0), die People's Democratic Party (PDP) 21 (+ 5), der Congress 17 (- 3), und die Bharatiya Janata Party 11 (+ 10) Sitze. Von 64 Kandidatinnen gewannen nur drei Frauen ein Mandat.

Die Wahl verlief ganz im Gegensatz zu 2002 friedlich - damals verloren etwa 600 Menschen ihr Leben. Der Aufruf der All Party Hurryiat Conference, die eine Loslösung von Indien anstrebt, zum Wahlboykott fand kein Gehör. Die Wähler votierten für praktische Lösungen im Alltag (Elektrizität, Straßen, Wasser) und good governance. Die unvermindert aktuelle Frage des künftigen Status von J & K, sei es weitgehende Autonomie, Unabhängigkeit oder sogar Anschluss an Pakistan, war kein bestimmender Faktor.

Die PDP mit 21 (+ 5) und die BJP mit 11 (+ 10) Mandaten können sich zwar als die Gewinner dieser Wahl betrachten, allerdings müssen sie beide die Oppositionsrolle einnehmen. Die PDP, geführt vom früheren Ministerpräsidenten Mufti Mohammed Sayeed und seiner Tochter Mehbooba Mufti, gewann etwa 6 Prozent Stimmen hinzu. Die NC (circa -5 Prozent) und der Congress (etwa -5,5 Prozent) erlitten dagegen beträchtliche Stimmeneinbußen. Die NC konnte jedoch ihre Sitzanzahl im Vergleich zu 2002 mit 28 Mandaten behaupten und wurde damit erneut stärkste Fraktion, während der Congress drei Sitze einbüßte und mit 17 Abgeordneten nur noch die drittstärkste Fraktion stellt. Trotz dieser Verluste konnte der Congress die Rolle des 'Königsmachers' spielen.

Identitätspolitik in den Teilregionen

Die Entfremdung zwischen den wichtigen Teilregionen des Tals von Kashmir und von Jammu besteht seit Jahrzehnten.[1] In Jammu, das eine mehrheitlich nicht-muslimische Identität hat, wird unterstellt, dass alle Gelder in dem mit staatlichen Subventionen äußerst bevorzugten Staat nach Srinagar flössen. Durch die zutiefst antagonistischen Agitationen hinsichtlich der Landvergabe an die Organisatoren der Amarnath Yatra (Pilgerreise nach Amarnath) kam es Mitte 2008 zu einer regelrechten Polarisierung, unter anderem mit einer faktischen Blockade des Kashmir-Tals von Jammu aus. Die kashmirischen Separatisten mobilisierten derweil Hunderttausende unter dem Schlachtruf der Freiheit (Azaadi).

Die mehr zentristischen Parteien NC und Congress schrieben im Wahlkampf beide das Thema "Entwicklung" auf ihre Fahnen, obwohl der Congress in Jammu beim Werben um die hinduistische Wählerbasis mindestens verbal mit der BJP gleich zu ziehen versuchte. Sowohl die PDP als auch die BJP reizten die Karte der regionalen Identität im Kashmir-Tal bzw. in Jammu entschieden zu ihren Gunsten aus. Die PDP konsolidierte sich im Tal und verbesserte dort ihren Stimmenanteil von 26,2 auf 28,5 Prozent. Sie wurde dort, auch dank der Unterstützung durch militante Gruppen, zur stärksten Kraft vor der NC, die empfindliche Einbußen von 34,6 auf 27,5 Prozent hinnehmen musste. Die National Conference, die eine absolute Mehrheit anstrebte, beklagte besonders ihr extrem schlechtes Abschneiden im Süden von Kashmir, was sich für die PDP dort äußerst positiv auswirkte. Auch der Congress rutschte im Tal von 15,0 auf 9,6 Prozent der Stimmen ab.

Die BJP konnte in Jammu ihren Stimmenanteil von 12,4 auf 21,8 Prozent erhöhen und dort insgesamt 11, darunter 9 vorher vom Congress gehaltene Sitze gewinnen. Die uneingeschränkte Unterstützung, ganz im Gegensatz zu 2002, durch die mächtige Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligenkorps/RSS) kam der Partei dieses Mal zugute. Der Congress fiel in Jammu auf 25,2 Prozent (2002: 30,5 Prozent) zurück, die NC kam nur noch auf 19,4 Prozent (2002: 23,3 Prozent), während die PDP ihren Anteil auf 5,1 Prozent (2002: 1,3 Prozent) dank ihres recht guten Abschneidens in muslimisch dominierten Grenzdistrikten von Jammu verbesserte. Allerdings sind die BJP und die PDP im Gegensatz zu NC und Congress keine politischen Kräfte mit einer wirklichen Präsenz in allen Teilregionen (Jammu,Tal von Kashmir und Ladakh) von J & K.

Verwirrspiel um das Amt des Ministerpräsidenten

Die NC stellte  im Wahlkampf den 72-jährigen Dr. Farooq Abdullah als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten auf. Der charismatische und exzellentes Urdu sprechende Sohn des legendären Sheikh Abdullah, bekannt für seine politische und intellektuelle Offenheit, bekleidete dieses Amt bereits dreimal, zuletzt bis 2002. Allerdings waren während seiner früheren Regierungszeiten Korruption und auch Menschenrechtsverletzungen weit verbreitet. Sein Zusammengehen mit der BJP innerhalb der 'National-Demokratischen Allianz' auf nationaler Ebene schadete seinem politischen Ruf.

In einem Verwirrspiel am Wahlabend sagte er selbstsicher in einem NDTV (New Delhi Television)-Interview, dass er das Amt des Ministerpräsidenten erneut bekleiden würde. In weniger als 24 Stunden vollzog er jedoch eine Kehrtwende zugunsten seines 38-jährigen Sohnes Omar Abdullah (siehe ausführliches Porträt) für das höchste Amt: "Die Zeit ist nun gekommen. Ich werde der Partei empfehlen, dass sie Omar Abdullah für die Position des Ministerpräsidenten in Erwägung ziehen sollte. Ich habe über die Frage während der Nacht nachgedacht. Der Staat sollte jetzt einen jüngeren Ministerpräsidenten haben, denn es gibt eine Menge zu tun." Beobachter meinen, dass der Congress und insbesondere Rahul Gandhi ihre Präferenz für Omar Abdullah zu erkennen gaben.

Damit stellt erstmals in einem indischen Bundesstaat eine politische Familie in drei Generationen das Amt des Minsterpräsidenten. Omar Abdullah ist persönlich mit Rahul Ghandi befreundet und gewann große Sympathie beim Congress wegen seiner Rede zugunsten des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens während der Kampfabstimmung Ende Juli 2008 im Unterhaus. Der dreimal in die Lok Sabha gewählte Omar Abdullah ist keineswegs ein politischer Novize, zumal er während der Regierung von Atal Bihari Vajpayee sowohl als Staatsminister im Handels- als auch im Außenministerium fungierte.

Interpretation des Wahlergebnisses

Allgemein wurde diese Wahl als ein Sieg für die indische Demokratie bezeichnet. Die hohe Wahlbeteiligung symbolisiere einen "Gesinnungswandel" der Bevölkerung. Die beliebte und äußerst kompetente NDTV-Jornalistin Barkha Dutt unterstrich jedoch: "Dies ist weder ein Votum für Indien noch eine Absage an den Separatismus." Das Gefühl der Entfremdung gegenüber New Delhi speziell im Kashmir-Tal sei keineswegs verflogen. Die hohe Wahlbeteiligung beeinflusse aber mit Sicherheit den internationalen Diskurs über Jammu & Kashmir, durchaus auch im positiven Sinne für Indien.

Auch Omar Abdullah, der als NC-Parteipräsident die Wahlkampagne führte, geht davon aus, dass der Separatismus nicht von der Tagesordnung ist. Ein politisches Paket, entlang des Autonomie-Plans seiner Partei, sei erforderlich. Dies wird auch von Karan Singh, ehemaliger Congress-Minister und Sohn des letzten Herrschers von J & K, konzediert. Auch Farooq Abdullah betonte, dass man die Separatisten nicht ignorieren könne und dass die indische Regierung mit ihnen reden müsse. Arbeitsfähige Lösungen seien erforderlich, deshalb sei die Frage der Autonomie essentiell.

Farooq Abdullah brachte diesen kashmirischen Sub-Nationalismus auch im Kontext des friedlichen Verlaufs der Wahl zum Ausdruck: "Ich bin den militanten Gruppen dafür dankbar, dass sie nicht das Gewehr gegen diese Wahl benutzt haben. Pakistan übte Druck auf sie aus sich fern zu halten."

Umdenken im Lager der Separatisten?

Die verschiedenen Flügel der All-Party Hurryiat Conference (APHC) müssen sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass es trotz ihres Boykottaufrufs zu dieser hohen Wahlbeteiligung kam.[2] Werden sie die von ihnen eingeschlagene Strategie überdenken? Saijad Lone, einer ihrer gemäßigten Vertreter und Sohn des von Terroristen vor einigen Jahren ermordeten populären Politikers Abdul Gani Lone, deutete in einem von ihm später abgebrochenen NDTV-Fernsehinterview die hohe Wahlbeteiligung als "ein Votum über Beschwerden und nicht Aspirationen", wie zum Beispiel Azaadi (Freiheit). Die Wahlen seien unter den Bedingungen eines "militärischen Belagerungszustands mit Verhaftungen und Hausarresten" der APHC-Führung abgehalten worden. "Angesichts der Tatsache, dass 100.000 Menschen in Jammu & Kashmir in den letzten zwei Jahrzehnten getötet wurden, gibt es nichts zu feiern."

Szenarien der Regierungsbildung

Die radikal-populistische PDP, der von ihren politischen Gegnern ein "weicher Separatismus" unterstellt wird, so zum Beispiel die Forderung nach der gleichberechtigten Einführung der pakistanischen Rupie in J & K,  brachte die vom damaligen Congress-Ministerpräsidenten Ghulam Nabi Azad mit ihr in Rotation geführte Landesregierung Mitte 2008 zu Fall. Nachdem sich ein Zusammengehen von NC und Congress nach dieser Wahl abzeichnete, ging die PDP sogar so weit, dem Congress die Regierungsverantwortung mit ihrer Unterstützung für volle sechs Jahre anzubieten. Noch am Wahlabend verwies jedoch Karan Singh darauf, „dass die NC kompatibler und stabiler sei angesichts der von seiner Partei gemachten Erfahrungen mit der PDP“. Dabei dürfte allerdings auch die Überlegung eine Rolle spielen, dass bei Sitzabsprachen zwischen NC und Congress bei der bevorstehenden Unterhauswahl die PDP und BJP angesichts der Stimmenverhältnisse so gut wie keine Chance haben dürften, ein Parlamentsmandat in J & K zu gewinnen.

Folgende Formen des Zusammengehens von NC und Congress waren bis zur vereinbarten Koalitionsregierung unter Führung von Omar Abdullah denkbar:

1. Die Parteien folgen dem Beispiel von Congress und PDP in der vergangenen Legislaturperiode und rotieren das Amt des Ministerpräsidenten. Zugleich würde ein Stellvertreter von der jeweils anderen Partei gestellt.

2. Die Parteien folgen dem Beispiel Maharashtras dahin gehend, dass unter Verzicht auf das Rotationsmodell der Juniorpartner eine größere Präsenz als angemessen in der Regierung erhält.

3. Der Congress unterstützt die NC nur von außen, sodass speziell der oppositionelle Spielraum der PDP auch als agitatorische außerparlamentarische Kraft geschmälert werden könnte. Bei dieser Lösung dürfte eine NC-Minderheitsregierung dem Staat jedoch nicht die erforderliche politische Stabilität bescheren.

National Conference und Congress stellen nun nach der auf höchster politischer Ebene (durch Sonia Gandhi und Manmohan Singh) gefällten Entscheidung gemeinsam die Regierung, während die auf ihre Art jeweils radikaleren PDP und BJP wohl getrennt die Rolle der Opposition übernehmen werden. An Themen wird es dabei wohl auf keinen Fahl fehlen.

Angesichts der großen Bedeutung dieses Bundesstaates für den Zusammenhalt der Indischen Union und weiterer regionalpolitischer sowie geostrategischer Faktoren, gerade auch im Hinblick auf das gegenwärtig sehr angespannte Verhältnis mit Pakistan, ist die schnell gefällte Grundsatzentscheidung über die neue Koalition in J & K eine wichtige Etappe im Vorfeld der Lok Sabha-Wahlen 2009. Die National Conference und der Congress sind nach über zwei Jahrzehnten erstmals wieder zusammen gekommen. Es wird interessant sein zu beobachten, welche Lösungen sich in der Autonomie-Frage abzeichnen[3], hier bedarf es aktiver Mitwirkung der Zentralregierung, und wie das separatistische Lager auf diese Wahl reagieren wird.

Anmerkungen

[1]  Die wohl beste Veröffentlichung zu diesem Staat, auch mit einer differenzierten Analyse der Teilregionen, wurde von Navnita Chadha Behera vorgelegt: State, Identity and Violence: Jammu, Kashmir and Ladakh. New Delhi, 2000.

[2] Vgl. dazu Navnita Chadha Behera: The Rhetorics of the Kashmiri Militant Movement: Azadi or Jihad. In: Klaus Voll/Doreen Beierlein (Eds.): Rising India-Europe’s Partner? Foreign and Security Policy, Politics, Economics, Human Rights and Social Issues, Media, Civil Society and Intercultural Dimensions. Berlin, New Delhi, 2006, S. 138-183 Außerdem dazu im selben Buch lesenswert: Nathalène Reynolds: The late Awakening of a Nationalism: The Muslims of Jammu and Kashmir and a Futile Combat? (S. 184-190) sowie Katharina Schneider: Virtual Warfare and the Recreation of the Kashmir Issue in Cyberspace. (S. 191-197).

[3] Vgl. dazu Prem Shankar Jha: How to Grasp the Nettle - A Solution for Kashmir. In: Klaus Voll/Doreen Beierlein (Eds.), op. cit., S. 288-299.

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