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Vishwanath Pratap Singh, adoptierter Sohn des ehemaligen Raja von Manda, stieg mit Indira Gandhis Sohn Sanjay Gandhi politisch auf. 1980 von Indira Gandhi berufen, amtierte Singh als Ministerpräsident des Mega-Staates Uttar Pradesh. Danach spielte er als Finanzminister unter Premierminister Rajiv Gandhi eine prominente Rolle auf der nationalen Bühne.
Hier erfreute er sich großer Zustimmung speziell unter den Mittelschichten, denn er veranlasste Haus- und Bürodurchsuchungen bei großen Steuersündern aus Wirtschaft und Gesellschaft. Regierungsintern wies er auf die Gefahren wachsender Staatsverschuldung und mangelnder Devisenliquidität hin, die 1991 zum finanziellen Offenbarungseid der indischen Regierung führten und die Liberalisierungspolitik schließlich einleiteten.
Aufgrund politischen Widerstands gegen Singhs Maßnahmen betraute Rajiv Gandhi ihn danach mit der Leitung des Verteidigungsministeriums. In dieser Zeit überwältigender Dominanz des Congress im indischen Unterhaus (Lok Sabha) bestimmte der Bofors-Skandal mit unterstellten Schmiergeldzahlungen des schwedischen Waffenkonzerns über Mittelsmänner, angeblich sogar zugunsten des Premiers, für den Kauf von Haubitzen für die indische Armee die Schlagzeilen und danach den Wahlkampf 1989.
Zuvor hatte aber V. P. Singh aufgrund von Auseinandersetzungen mit Rajiv Gandhi die Regierung verlassen. Er bildete zusammen mit dem Congress-Abgeordneten Arif Mohammed Khan und Rajiv Gandhis Cousin Arun Nehru die Jan Morcha (Volksbewegung), die dann in die im Vorfeld der Wahlen gebildete Janata Dal (JD) aufging. Diese Partei stellte ein Bündnis von ehemaligen Sozialisten (Janata Party), Vertretern von Bauernparteien aus dem Lager des ehemaligen Premierministers Charan Singh (Hind Mazdoor Kisan Party/Indische Arbeiter- und Bauern-Partei) und der Jan Morcha dar. V. P. Singh, der ein hervorragend urduisiertes Hindi sprach, begeisterte im Wahlkampf vor allem die aufstrebenden und Hindi sprechenden Mittelschichten der kleineren und mittleren Städte in Nordindien.
Potenziell ein großer Reformpremier - aber ohne Mannschaft
V. P. Singh, der einstige Liebling der Mittelschichten aufgrund seiner persönlichen Integrität während seiner Amtszeit als Finanzminister unter Rajiv Gandhi, führte 1989 die neu gegründete Janata Dal mit über 140 Mandaten - vor allem im nordindischen Kuh-Gürtel ("cow belt" oder auch BIMARU-Staaten: Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh, Haryana, Rajasthan) - in eine Minderheitsregierung. Dieses Experiment wurde sowohl von links durch die Kommunisten als auch von rechts durch die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei/BJP) von außen unterstützt, um den Congress von der Macht fern zu halten.
Jammu & Kashmir, Sri Lanka, Ayodhya-Kampagne und Mandal-Verordnung
Nach der Ermordung Indira Gandhis und dem fürchterlichen Massaker an Sikhs vor allem in der indischen Hauptstadt, hatte der Erdrutschsieg des Congress bei der Wahl 1984 zu einer Zweidrittelmehrheit im Unterhaus geführt. Viele der schon unter Indira Gandhi aufgebrochenen Probleme der indischen Innenpolitik waren in dieser bis 1989 währenden Legislaturperiode unter den Teppich gekehrt worden, so die nach allgemeiner Übereinstimmung gefälschten Landtagswahlen in Jammu & Kashmir, die große Arbeitslosigkeit und die systematische Agitation der hindu-nationalistischen Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligenkorps/RSS) gegen Muslime. Außerdem stellten die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Kornkammer Punjab - dort strebten Sikh-Fundamentalisten den eigenen Staat Khalistan an - und Indiens "kleines Vietnam" in Sri Lanka wichtige innen- und außenpolitische Probleme dar.
Kurz nach dem Regierungsantritt von V. P. Singh kam es zur Entführung einer Tochter des indischen Innenministers Mufti Mohammed Sayeed, der aus J&K stammt und später zwischen 2002 und 2005 dort als Ministerpräsident fungierte, durch Militante, die im Austausch die Freilassung von Inhaftierten erpressten. Die bewaffnete Militanz in J&K nahm ihren Lauf. Das indische Unterhaus sah damals eine seiner anspruchsvollsten Debatten über volle sieben Stunden hinweg, in denen die Situation in diesem Krisenstaat mit allen ihren Aspekten erörtert wurde. Es zeigte sich der in allen Parteien vorhandene Konsensus, dass eine Sezession von J&K Krieg mit dem Nachbarn Pakistan bedeuten würde. Sezession oder Unabhängigkeit von J&K würde den ersten Dominostein zur Desintegration der Indischen Union darstellen, so die allgemeine Auffassung.
Indien erlebte mit seinem Friedenkorps in Sri Lanka sein "kleines Vietnam". V. P. Singh verfügte daraufhin in seiner Amtszeit den einseitigen Rückzug der „indischen Friedenstruppen“, die zuvor beachtliche Verluste hinnehmen mussten und letztendlich zwischen alle Fronten gerieten.[1]
V. P. Singh zeigte sich seinem Widerpart Rajiv Gandhi argumentativ und rhetorisch in allen Belangen im Parlament überlegen. Es fehlte ihm nur eine angemessene Mannschaft und letztendlich solide Mehrheit, um einige seiner Reformvorstellungen für eine kohärentere indische Gesellschaft durchzusetzen. Die Regierung war faktisch vielfach paralysiert bzw. arbeitete in ihren Entscheidungsfindungen äußerst langsam, da zuvor immer ein die unterstützenden Parteien von links und rechts einschließendes Gremium wöchentlich tagen musste.
Die im Grunde unvereinbaren Vorstellungen der die Regierung tragenden Parteien spitzten sich mit dem Entschluss von V. P. Singh zu, Stellenreservierungen von Angehörigen der Other Backward Castes/Classes im staatlichen Sektor zu verfügen. Diese symbolische Geste, die nach Schätzungen in der Anfangszeit nur einige Zehntausend Stellen geschaffen hätte, stieß auf entschiedenen Widerstand von Angehörigen der Oberkasten, deren Kinder in dieser Zeit des Licence Raj ihre beruflichen Felle aufgrund reduzierter Stellenangebote im staatlichen Bereich davon schwimmen sahen.
Nach spektakulären öffentlichen Selbstverbrennungen von Studierenden aus Protest gegen diese Verfügung brachte eine Großdemonstration Hunderttausende von Universitätsstudenten und große Teile des "Lumpenproleratiats", keineswegs im negativen Marx'schen sondern im durchaus positiven Sinne von Frantz Fanon ("Die Verdammten dieser Erde"), aus dem Großraum Delhi am historischen Boat Club mitten im Machtzentrum zusammen. "Delhi befand sich für zwei Tage in der Hand der Mafia", so der 1971er Kriegsheld General Singh Arora im Oberhaus (Rajya Sabha). Balram Jhakar, damals Congress-Generalsekretär, erwartete von dieser Veranstaltung "bulgarische oder rumänische Verhältnisse." Diese Aussagen zum Ende der Regierungszeit von V. P. Singh verdeutlichten, wie fragil und fragmentiert das politische System Indiens sich in jener Zeit präsentierte.
In der BJP hatte bereits vor der Wahl 1989, so damals der spätere Außen- und Finanzminister Jaswant Singh, die Advani-Linie über den gemäßigten Kurs von Atal Bihari Vajpayee ("Gandhianischer Sozialismus") und den "liberalen Flügel" der Partei obsiegt. Advani startete seine spektakuläre landesweite Ayodhya-Kampagne vom Somnath-Tempel in Gujarat aus mit dem Ziel, an der Stelle der Babri-Moschee einen Tempel zu Ehren des Hindu-Gottes Ram in der für die Hindu-Mythologie legendären Stadt Ayodhya zu errichten.
Der große Zuspruch vor allem auch von Frauen in kleineren und mittleren Städten beflügelte damals den Aufstieg der BJP zur temporär stärksten politischen Kraft in Indien. Diese Entwicklung machte eine Zusammenarbeit mit der Regierung V. P. Singh auf nationaler Ebene nicht mehr möglich, zumal der fundamentalistische "Weltrat der Hindus" (Vishwa Hindu Parishad/VHP) und der RSS, die beide eine gegen Muslime gerichtete Stimmung entfachten, eine prominente Rolle in der die Hindu-Identität betonenden Rath Yatra von L. K. Advani spielten. Diese landesweite Agitation spaltet die indische Gesellschaft bis zum heutigen Tage zutiefst, nicht zu vergessen der widerrechtliche Abriß der Babri-Moschee durch radikale Hindu-Fundamentalisten im Beisein von Teilen der BJP-Führungsspitze, so auch L. K. Advani.
Politisches Ende und Würdigung
Innerhalb der Janata Dal, einer Partei mit "wheels within wheels", so damals Jaipal Reddy, heute Unionsminister für städtische Entwicklung, gab es zudem kaum noch überschaubare Fraktionen mit Eigeninteressen. Chandrashekhar, der als ehemaliger Präsident der traditionsreichen Janata Party seine Seniorität reklamierte, spaltete in einer Palast-Revolte zusammen mit dem umstrittenen Devi Lal, der als stellvertretender Premier unter Singh fungierte und immer wieder auf die Anliegen der indischen Bauernschaft verwies, die Janata Dal. Dieser Schachzug bedeutete das politische Aus für V. P. Singh. Chandrashekhar regierte danach mit etwa zehn Prozent der Unterhaus-Abgeordneten für circa vier Monate, von außen vom Congress unterstützt, bis sein Rücktritt dann zu Neuwahlen und zu einer Congress-Regierung unter P. V. Narasimha Rao 1991 führte.
V. P. Singh stand auch nach dem Ende seiner Amtszeit als Premierminister seinen Mann in zahlreichen Reden im Parlament zwischen 1991 und 1996. Von nicht wenigen seiner politischen Gegner teils erbittert angefeindet, verwies er auf die Anliegen der unterprivilegierten ländlichen Bevölkerung und der städtischen Slumbewohner. V. P. Singh, oft eine für ihn charakteristische Pelzmütze tragend, stand für einen entschiedenen Säkularismus und Ausgleich zwischen den Religionsgemeinschaften. Große Teile der muslimischen Gesellschaft vertrauten damals ihm und seiner Partei.
1996 wollten ihn seine politischen Freunde sogar erneut zum Premierminister einer vom Congress und den Kommunisten geduldeten Minderheitsregierung der Janata Dal küren. Er wies dies sowohl aus politischen als auch gesundheitlichen Gründen zurück. Er beriet bei der Bildung der Regierungen Dewe Gowda und Inder Kumar Gujral, wie dies nach seinem Tod der ehemalige Ministerpräsident von Andhra Pradesh, Chandababu Naidu, öffentlich würdigte.
V. P. Singh war sich durchaus bewusst, dass Indien Entwicklungsstufen birgt, die denjenigen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entsprechen. Nach seiner im Interview geäußerten Auffassung war auch eine tiefere Kenntnis über die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme mit ihren weltweiten Erfahrungen für Indien erforderlich. "Der Sozialreformer V. P. Singh [...] vertritt die Ansicht, dass deutsche Erfahrungen mit der Emanzipation sowie der sozialen Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft, unter anderem durch Arbeitersiedlungen und sozialen Wohnungsbau, als gesellschaftspolitisch bewährte Leitbilder aus dem 19. und 20. Jahrhundert in Indien von Interesse wären. Gemeinsame Erfahrungen über die beiderseitigen demokratischen Systeme (Föderalismus, Rolle des Bundesrates, konstruktives Misstrauensvotum, Wahlsystem und Parteienfinanzierung, Kultur der Mitbestimmung etc.) könnten ebenfalls ausgetauscht werden und wirksame Beiträge bilden, um der asiatischen Großmacht Indien angemessen gerecht zu werden und um die eigenen Interessen in dieser Weltregion dauerhaft wirksamer zu vertreten."[2]
Neben nur noch seltenen politischen Auftritten widmete sich der Dialyse-Patient V. P. Singh in seinen letzten Lebensjahren zunehmend der Malerei, auch mit eigenen Ausstellungen, außerdem dichtete er. Nahe der Residenz der jeweiligen Premierminister führte er in seinem von der Regierung zur Verfügung gestellten Bungalow weitgehend ein sehr privates Leben.
Sein ehemaliger Mitstreiter Arun Nehru charakterisierte V. P. Singh nach seinem Tod: "Vishwanath war ein sensitives Individuum. In der Politik ist dies bis zu einem gewissen Grad in Ordnung, denn man kann sich in einem Team nicht auf ein Podest erheben. Trotz seiner Sensibilität war Vishwanath ein Mann des Teams."
Mit militärischen Ehren und einem von Tausenden Teilnehmern eskortierten Trauerzug durch Teile von Allahabad wurde der in die indische Trikolore gewickelte Leichnam des ehemaligen indischen Premierministers V. P. Singh am Sangam, dem Zusammenfluss von Ganges und Jamuna, begleitet von vedischen Hymnen, am 29. November 2008 den Flammen übergeben. Die indische Regierung verfügte eine siebentägige Staatstrauer.
V. P. Singhs Name bleibt verbunden mit einer entscheidenden Umbruchsphase des bis dahin etablierten politischen Systems. Ihre ursächlichen Grundströmungen bestimmen auch heute noch maßgeblich die indische Politik. Er hatte das Zeug zu einem großen Reformpremier, doch es fehlten ihm die funktionalen parteilichen Strukturen und Mehrheiten, um die schon damals erkennbaren und zwingend erforderlichen Reformen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft voran zu treiben. Mit seinem Tod ist die indische Politik um eine alles in allem herausragende Persönlichkeit von höchster Integrität ärmer geworden.
[1] Vgl. grundsätzlich zur indischen Außenpolitik unter V. P. Singh das Kapitel VIII des Buches von Harish Kapur (2009): Foreign Policies of India’s Prime Ministers. Lancer International, New Delhi, S. 247-274.
[2] Klaus Julian Voll: Wie Indien Deutschland sieht. Indische Politiker über das Verhältnis zur Bundesrepublik. SWP-Studie 37, Oktober 2001, Berlin, S. 16.
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