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In den Call-Centern beispielsweise beträgt die Fluktuation im Jahr über 50 Prozent, bei den IT-Anbietern 15 bis 30 Prozent und im Bereich des Business Process Outsourcing (BPO) 40 Prozent. (Schaaf, 2005, 10) Hinsichtlich der Call-Center könnte die hohe Mitarbeiterfluktuation vielleicht noch mit der dortigen besonders hohen Arbeitsbelastung erklärt werden (Ihlau, 2006, 20-22), auf die anderen Bereiche trifft dies aber nicht zu. Unternehmensidentifikation scheint in Indien somit relativ unbekannt zu sein.
Und obwohl versucht wird, die Bindung an das Unternehmen durch Aktienoptionen, arbeitnehmerfreundliche Konditionen sowie Vergünstigungen und Angebote, wie Parkanlagen, Restaurants, Fitness-Studios, Schwimmbäder und Golfplätze für die Mitarbeiter in IT-Unternehmen aufzubauen (Schaaf, 2005, 10), geben Manager vor Ort an, dass der Erfolg dieser Maßnahmen häufig ausbleibt. Auch Auslandsreisen, Versorgung der Angehörigen oder Versicherungsschutz bringen häufig nicht den gewünschten Erfolg. Stattdessen scheint die Wahl des Arbeitsplatzes ausschließlich von den Verdienstmöglichkeiten abhängig gemacht zu werden. Gewünschte Gehaltserhöhungen fordern die Mitarbeiter offensichtlich nicht vom jeweiligen Arbeitgeber, sondern ermitteln diese durch das Suchen eines neuen Jobs bzw. lassen ihren Wert von Headhuntern einschätzen. Für die Unternehmen bedeutet dies jährlich oder sogar halbjährlich steigende Lohnkosten, um die besten Mitarbeiter doch noch zu halten oder adäquaten Ersatz zu finden.
Gleichzeitig ist der Stellenwert der Familie in Indien sehr hoch. Familiäre Ereignisse und Probleme wie Hochzeiten, Krankheit oder Tod von Angehörigen, aber auch religiöse Pflichten, wie beispielsweise regelmäßige Wallfahrten, scheinen ein Grund zu sein, unabhängig von der Position in einem Unternehmen, kurzfristig Urlaub zu nehmen. Besonders deutlich wird dieses Problem im öffentlichen Sektor, in dem die Abwesenheit von der Arbeit derartige Ausmaße annimmt, dass, sofern man Feiertage, Wochenendtage, Jahres- und Gelegenheitsurlaub sowie Urlaub aus dringenden familiären Gründen und Krankheit zusammen nimmt, ein Regierungsangestellter nur ein Drittel der Kalendertage arbeitet. (Tharoor, 2005, 265) Darüber hinaus nehmen religiöse Pflichten auch während der Arbeit einen hohen Stellenwert ein. Eine rein materielle Ausrichtung der indischen Arbeitnehmer, welche sich scheinbar aus den regelmäßigen Jobwechseln mit den sie begleitenden Gehaltserhöhungen herauslesen lässt, erscheint somit keine befriedigende Antwort auf die hohe Mitarbeiterfluktuation, da familiäre und religiöse Pflichten durchaus über die Arbeit gestellt werden. Es stellt sich somit die Frage, wie Mitarbeiterbindung und Unternehmensidentifikation doch noch erreicht werden können.
Dieses Problem zu lösen, ist wiederum von großer wirtschaftlicher Relevanz. Denn obwohl gut ausgebildet, brauchen auch indische Informatiker, Ingenieure etc. ein Training-on-the-Job. (DEG, 1999, 22-24) Außerdem müssen besonders ausländische Unternehmer ihre Mitarbeiter auf die speziellen Arbeitsabläufe in ihrem Unternehmen schulen, welche sich in der Regel von den Abläufen in indischen Unternehmen unterscheiden – als Stichwort sei hier das hierarchische System indischer Unternehmen genannt. Besagte Schulungen entpuppen sich bei hoher Mitarbeiterfluktuation jedoch schnell als Verlustgeschäft. Ferner können Indiens Hochschulen die anhaltend hohe Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern in einigen Bereichen auf Dauer nicht bedienen. Aufgrund der Mängel des indischen Bildungssystems kommen nur 10 bis 20 Prozent der Hochschulabsolventen für internationale Geschäfte in Frage. Deren Gehälter steigen im Jahr durchschnittlich um 12 bis 15 Prozent, je nach Qualifikation oder Berufserfahrung liegen die Steigerungsraten sogar noch deutlich höher und "[j]e höher die Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter sind, desto schwieriger ist es, adäquaten Ersatz zu finden." (Schaaf, 2005, 2, 10)
Umso wichtiger ist es für Unternehmen, die Bindung ihrer Fachkräfte an das jeweilige Unternehmen zu verbessern. Infolge der steigenden Lohnkosten muss außerdem, damit sich Offshoring-Projekte weiterhin lohnen, eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität erreicht werden. Diese beträgt 65 Prozent im Vergleich zum Silicon Valley, welches von der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) als die Region mit der größten Arbeitsproduktivität gesehen wird. Die Effektivität einer IT-Fachkraft in Silicon Valley entspricht also knapp 1,5 Arbeitskräften in Indien (DEG, 2005, 25), für eine Steigerung der Produktivität ist somit durchaus Raum vorhanden. Dies würde allerdings erneut Schulungen der Mitarbeiter voraussetzen, was unrentabel bleibt, wenn diese im Anschluss zu anderen Unternehmen wechseln.
Bereits 1968 widmete sich Vijay S. Kothari in seiner Dissertation zum Thema "Die Einstellung des Managements von Industriebetrieben zu seinen Mitarbeitern und ihr Einfluß auf die Produktivität der Arbeit während der Industrialisierung in Indien" unter anderem dem Problem der Mitarbeiterbindung, welche sich auch damals schon schwierig gestaltete. Obgleich die Ergebnisse nicht vollständig übertragbar sind und die Studie heute – zur Zeit der Globalisierung – erneuert werden müsste, bietet sie dennoch erste Erklärungsansätze.
Kothari beschreibt die Mitarbeiter in industriellen Betrieben als frustriert. "So haben wir vor uns eine Arbeiterschaft, die durch unerfüllte psychologische, soziale und materielle Bedürfnisse sowie durch Frustration gekennzeichnet ist." (Kothari, 1968, 87) Hervorgerufen wird diese Frustration durch mangelnde Vorbereitung auf die in Industriebetrieben herrschenden harten Arbeitsbedingungen und die damit einhergehenden, im Vorfeld unterschätzen Anforderungen, die Schwierigkeiten bei der Bildung informeller Gruppen innerhalb und außerhalb der Betriebe, dem Konkurrenzverhältnis bzw. Loyalitätskonflikt zwischen der Arbeit und den (im Dorf) zurückgelassenen Verwandten und Primärgruppen (gemeint sind Sippe, Kaste und Dorfgemeinschaft), der Enttäuschung von den Vorgesetzten, von denen die Arbeiter (vergebens) ein brüderliches oder väterliches Rollenverhalten erwarteten sowie die geringen Möglichkeiten, mit den Gehältern die bestehenden sowie neu entstandenen, materiellen Bedürfnisse – Kothari spricht von einer "Revolution der steigenden Erwartungen" – zu befriedigen. Die permanente Frustration hat eine Grundaggressivität zur Folge, welche laut Kothari zu "Formen der umgeleiteten Konflikte" führt. Dazu zählt er häufiges Fernbleiben von der Arbeit, hohe Mitarbeiterfluktuation, Apathie bei der Arbeit sowie ausgedehnte Besuche in den Heimatdörfern. (Kothari, 1968, 85-118) Die Arbeiter greifen also zu Passivstrategien, um sich gegen ihre Vorgesetzten zur Wehr zu setzen bzw. ihrer Frustration Ausdruck zu verleihen.
In wie weit sich diese Beobachtungen auf die heutige Zeit übertragen lassen, soll im Folgenden skizziert werden, indem den Motiven einer Frustration, die Kothari Ende der 1960er Jahre herausarbeitete, Beobachtungen zur heutigen Situation gegenübergestellt werden. Dieser Vergleich erscheint zweckmäßig trotz der Tatsache, dass Kotharis Studie sich mit Industriearbeitern beschäftigt, während es sich heute um hoch bezahlte Fachkräfte in einem liberalisierten Arbeitsmarkt handelt. Kothari beschreibt die damaligen Probleme als Anpassungsschwierigkeiten an neue Arbeitsweisen und an einen sich wandelnden, dynamischeren Lebenstil und daraus resultierende neue Möglichkeiten und Bedürfnisse. (Kothari, 1968, 93)
Mit denselben Worten könnte auch der heutige IT- und Outsourcing-Boom beschrieben werden. Auch hier wird das Leben dynamischer und neue Möglichkeiten entstehen. Gleichzeitig steigt der Leistungsdruck, da nicht alle an dem neuen Reichtum partizipieren können. Eine besonders dramatische Nebenwirkung ist die steigende Zahl der psychischen Störungen sowie der Selbstmorde bei Heranwachsenden; eine Überreaktion, die auf Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Arbeitsbedingungen schließen lässt. Auch Wipro-Chef Azim Premji kritisiert den Leistungsdruck, unter dem bereits Jugendliche stehen und der ihnen faktisch keinerlei Freizeit lässt. (Ihlau, 2006, 80) Es kann davon ausgegangen werden, dass, wer sich diesem Leistungspensum beugt, hohe Erwartungen an den späteren Beruf und das damit verbundene Leben stellt und entsprechend schnell enttäuscht werden kann.
Die folgenden Einschätzungen basieren auf persönlichen Beobachtungen während meines Indienaufenthalt 2005/06 und auf Literaturarbeit. Es handelt sich dabei nicht um die Ergebnisse ausführlicher Forschung. Vielmehr soll hier Anregung für weitergehende Forschung in diesem Bereich geliefert werden.
Damals: Die Arbeiter, die von der Landwirtschaft in die Industriearbeit wechselten, erhofften sich davon eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse sowie ihrer Konsummöglichkeiten. Obwohl dies faktisch eintrat, blieb das subjektive Gefühl, "zu kurz zu kommen", da sich durch den Umzug in die Stadt für sie neue Konsummöglichkeiten auftaten, die sie trotz der Arbeit in Industriebetrieben nicht wahrnehmen konnten.
Heute: Diejenigen, die eine Anstellung im IT- bzw. Offshoring-Bereich aufnehmen, erwarten davon sicherlich auch einen höheren Lebensstandard, als noch vor dem IT-Boom möglich schien. Dies ist zweifelsohne auch gegeben. Gleichzeitig steigen jedoch auch hier die Konsummöglichkeiten sowie die Kosten für ein "angenehmes Leben" und moderne Freizeitgestaltung. Möglicherweise ist auch hier eine gewisse Frustration darüber zu verbuchen, dass der eigene Lebensstandard nicht dem entspricht, was aufgrund zahlreicher Konsummöglichkeiten möglich scheint. Positiv ausgedrückt könnte die hohe Mitarbeiterfluktuation als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins auf Seiten der indischen Arbeitnehmer bezeichnet werden. (Wobei dies keinen Widerspruch zur Frustrationsthese darstellt.) Junge Frauen in der Dienstleistungsbranche (gemeint sind Übersetzerinnen, Marketingexpertinnen sowie Call Center-Managerinnen mit Hochschulabschluss) beispielsweise würden, so Jochen Buchsteiner, Asien-Korrespondent der FAZ, so oft den Arbeitgeber wechseln, bis sie das Passende gefunden hätten, gemäß dem Grundgedanken "es geht ja aufwärts". (Buchsteiner, 2005, 35) Auch die beiden Geschäftsführer von SAP Labs. India – Außenstelle des Walldorfer Software-Anbieters SAP – Georg Knies und Martin Prinz beschreiben indische Ingenieure als, im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen, "[...] generell [...] flexibler, und sie wollen erfolgreich sein." (Ihlau, 2006, 19)
Lösungsansätze während der Industrialisierung: Bezüglich der mangelnden Konsummöglichkeiten erscheint zunächst nur eine Erhöhung der Gehälter geeignet, das Problem zu lösen. Faktisch ist dies jedoch keine Lösung, da es nie möglich sein wird, alle Konsumwünsche zu befriedigen. Kothari empfiehlt das Einführen einer leistungsbezogenen Bezahlung, um dem Mitarbeiter die Möglichkeit zu geben, seine Konsummöglichkeiten mit seiner Leistung in Zusammenhang zu bringen und so das Gefühl zu verringern, übervorteilt zu werden. Er stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Arbeiter zur Zeit der Industrialisierung keinen "hohen Lohn", sondern einen "angemessenen Lohn" forderten.
Überlegungen zur heutigen Situation: Stimmt man der Einschätzung zu, dass die regelmäßigen Jobwechsel Bestandteil der Karriereplanung der Mitarbeiter sind, dann stellt sich aber die Frage, warum nicht versucht wird, im bisherigen Unternehmen Karriere zu machen. Diesbezüglich erscheinen wiederum die Überlegungen von Mark Kobayashi-Hillary zu indischen Verhandlungssystemen interessant: Im Gegensatz zu Amerikanern oder Europäern, welche in Verhandlungen eine "win-win-Situation" anstreben, das Ergebnis also zu beiderseitigem Nutzen ausfallen soll, geht der klassische indische Ansatz von einem Null-Summen-Spiel aus, das heißt der Gewinn des Einen ist der Verlust des Anderen. Entsprechend ähneln Verhandlungen eher "calculated battle of wits rather than a discussion on how to work together". Wobei der Autor einräumt, dass sich dieses Denken im Zuge vermehrter internationaler Erfahrungen wandelt. (Kobayashi-Hillary, 2004, 240) Eine Einigung mit seinem Arbeitgeber würden ein indischer Arbeitnehmer und sein Umfeld möglicherweise so deuten, dass er nicht "das Maximale rausgeholt hat" und "über den Tisch gezogen wurde".
Damals: Im Zuge der Industrialisierung zogen die zukünftigen Industriearbeiter vom Land in die Städte, um dort in den neu entstehenden Industriebetrieben zu arbeiten. Dies kam für sie oft einer vollkommenen Entwurzelung gleich. Sie mussten ihre Familien und Primärgruppen zurücklassen, in den Städten wiederum fiel es ihnen schwer, neue Bezugsgruppen aufzubauen. Hinzu kam, dass in den Betrieben oft kastenübergreifend zusammengearbeitet wurde. Diese Kontakte konnten nicht nach außen getragen werden, da innerhalb der Gesellschaft entsprechende Grenzen bestehen blieben. Auch Dieter Rothermund betont, dass die Kastenzugehörigkeit für das Berufsleben an Bedeutung verlor, hinsichtlich privater Kontakte aber von großer Bedeutung blieb. (Rothermund, 1979, 200) Es war also nahezu unmöglich, bei der Arbeit private Kontakte und neue Bezugsgruppen aufzubauen.
Heute: Zwar kommen die Menschen selten aus ländlichen Regionen, um im Offshoring-Bereich zu arbeiten, häufig aber aus weit entfernten Städten. Auch hier verlieren sie ihre Bezugsgruppen und müssen neue soziale Netzwerke aufzubauen. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass sich moderne und insbesondere europäische Unternehmen in weitaus stärkerem Maße weigern, auf Kastenaversionen Rücksicht zu nehmen. In der Gesellschaft bleiben entsprechende Tabugrenzen jedoch trotz geringfügiger Aufweichung bestehen, wie zum Beispiel die immer noch nach Kasten getrennten Zeitungsanzeigen zum Heiratsmarkt zeigen.
Lösungsansätze während der Industrialisierung: Kothari stellte fest, dass ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Primärgruppen in der Heimat und den Bezugsgruppen bei der Arbeit bestand. Dieses aufzubrechen, sah er als eine Möglichkeit, die Frustration der Mitarbeiter zu verringern. Seiner Einschätzung nach könnte das Konkurrenzverhältnis bzw. der Loyalitätskonflikt gemindert werden, indem z. B. die Familien der Arbeiter am Arbeitsort angesiedelt werden und zugleich die Primärgruppen durch neue Bezugsgruppen am Arbeitsort ersetzt werden.
Überlegungen zur heutigen Situation: Eine Möglichkeit, die Einsamkeit der Mitarbeiter zu mindern, wäre die Förderung "kastensensitiver" Freizeitangebote. Die Mitarbeiter könnten dabei neue Kontakte knüpfen und dennoch unter sich bleiben. Dies widerspräche allerdings der kastenübergreifenden Zusammenarbeit in den Betrieben und wäre möglicherweise kontraproduktiv. Eine andere Möglichkeit wäre die Förderung einer gemeinsamen Identität der Mitarbeiter. In diese Richtung geht auch der Bau von Fitness-Studios, Schwimmbädern und Golfplätzen, die zahlreiche Arbeitgebern ihren Mitarbeitern zur Verfügung stellen und ihnen gemeinsame Freizeitaktivitäten ermöglichen. Dies ändert aber nichts daran, dass diese Kontakte nicht nach außen getragen werden können. Karl Waldkirch empfiehlt die Organisation regelmäßiger Familientage. (2006, 118) Zweifelsohne wären diese eine Möglichkeit, die Angehörigen an kastenübergreifende Kontakte zu gewöhnen und längerfristig diese Kontakte auch im privaten Bereich zu ermöglichen.
Damals: Aus der Einsamkeit, aber auch aus zahlreichen anderen Gründen heraus, resultierte der Wunsch, der Vorgesetzte möge eine Art Vaterrolle übernehmen und eine gewisse Anleitung geben. Zwar sahen sich auch die Manager meist in einer Rolle ähnlich der des Familienpatriarchen, doch kamen sie in den Augen der Arbeiter ihrer Sorgfaltspflicht nicht in ausreichendem Maße nach. Auch Alan Roland legt dar, dass die Beziehung zwischen Chef und Mitarbeiter in Indien traditionell einem Mentorenverhältnis gleicht, welche als hierarchische Beziehung auf internalisierten Erwartungen sowohl auf Seiten der Vorgesetzten als auch auf Seiten der Mitarbeiter beruht. Diese beinhalten "reciprocity and mutual obligations in a more closely emotionally connected relationship". Der Manager ist also verpflichtet, "to be caring, concerned and responsible. In return, the subordinate is deferential and loyal." Es handelt sich dabei meist um eine auf Dauer und Kontinuität ausgerichtete Beziehung. (Kobayashi-Hillary, 2004, 238)
Heute: Waldkirch betont, dass von vielen Mitarbeitern nach wie vor eine fürsorgliche, autoritäre Personalführung gewünscht wird. (Waldkirch, 2006, 118) Auch Kobayashi-Hillary räumt ein, dass der indische Führungsstil mitunter diktatorisch anmuten mag, von Seiten der indischen Mitarbeiter aber meist akzeptiert wird. Auch betonen beide die nach wie vor große Bedeutung von Mentorensystemen, bei dem die indischen Mitarbeiter ein hohes Maß an Führung erwarten. (Kobayashi-Hillary, 2004, 238-239) Ob über das Mentorenverhältnis hinaus auch heute noch ein paternalistischer Vorgesetzter erwartet wird, geht aus der Literatur nicht hervor, es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden.
Lösungsansätze während der Industrialisierung: Kothari berichtet von Managern, die, obwohl sie zum Teil über 1.000 Arbeiter beschäftigten, ihrer Rolle als Betriebspatriarchen nachkamen. Sie standen im Kontakt mit ihren Arbeitern und sahen sich so in der Lage, deren Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen und so ein hohes Maß an Mitabeiterzufriedenheit zu schaffen. Er hebt aber gleichzeitig hervor, dass die Kommunikation zwischen verschiedenen Hierarchieebenen aufgrund spezifischer kultureller Faktoren in Indien äußerst schwierig ist. (Kothari, 1968, 139ff)
Überlegungen zur heutigen Situation: Insbesondere europäischen Managern dürfte es schwer fallen, diese ihnen vollkommen fremde Rolle zu übernehmen. Sofern also von Seiten der indischen Arbeitnehmer nach wie vor der Wunsch nach einem väterlichen (paternalistischen) Vorgesetzten besteht, ist davon auszugehen, dass dieser Wunsch unerfüllt bleibt. Doch auch dem indischen Mentorensystem gerecht zu werden, dürfte europäischen Managern schwer fallen, da die gewünschte Anleitung weit über das hinaus geht, was europäische Manager gewohnt sind. (Kobayashi-Hillary, 2004, 239)
Damals: Zur Zeit der Industrialisierung entstand in den Industriebetrieben eine Härte des Zusammenarbeitens und der Konkurrenz, auf die viele Mitarbeiter nicht vorbereitet waren und die ihnen zusetzte.
Heute: Die indischen Fachkräfte werden als äußert ehrgeizig und strebsam beschrieben. Gleichzeitig gehen, laut Kobayashi-Hillary, Inder im Wirtschaftsgeschehen oft von einem Null-Summen-Spiel aus. Ein starker Konkurrenzdruck ist also anzunehmen.
Lösungsansätze während der Industrialisierung: Kothari berichtet von einem Experiment in Ahmedabad, bei dem die Entstehung von Arbeitsgruppen gefördert wurde. In Folge dessen stieg die Produktivität und Arbeiter verzichteten – bis dahin undenkbar – auf ihnen zustehende Feiertage und erschienen freiwillig zur Arbeit.
Überlegungen zur heutigen Situation: Es empfiehlt sich, auch in der heutigen Zeit entsprechende Experimente durchzuführen. Der Erfolg solcher Maßnahmen erscheint durchaus wahrscheinlich, da, laut Kobayashi-Hillary, im Zuge vermehrter internationaler Erfahrungen Inder im Wirtschaftsleben mehr und mehr eine win-win Situation anstreben, also kooperatives Verhalten zunehmend in den Vordergrund tritt.
Aus Kotharis Studie lassen sich zwei Thesen ableiten: Die hohe Mitarbeiterfluktuation, das häufige Fernbleiben von der Arbeit sowie die geringe Arbeitsproduktivität stellen Passivstrategien zur Kommunizierung einer aus Frustration resultierenden Aggressivität dar. Die Frustration resultiert aus den mangelnden Konsummöglichkeiten, der Einsamkeit an der neuen Arbeitsstätte, Enttäuschung von den Vorgesetzten sowie aus der großen Konkurrenz am Arbeitsplatz. Diese wurden von ihm für die Zeit der Industrialisierung bestätigt. In wie weit sich diese Erkenntnisse aus der Umbruchphase der Industrialisierung auf die Probleme in der heutigen Umbruchphase (Globalisierung, IT-Boom) übertragen lassen, muss weitere Forschung zeigen. Interessante Parallelen sind aber zweifelsohne vorhanden.
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